Charlottes Mörder?
»Michael Norton hat uns reingelegt.«
Mit Detective Clay hatte niemand gerechnet und auch nicht damit, dass er ihnen Michael als Charlottes Mörder präsentieren würde.
»Zugegeben, es handelt sich um einen glücklichen Umstand und ist leider nicht guter Polizeiarbeit zu verdanken.« Er räusperte sich. »Mr. Norton und seine teuren Anwälte haben uns zum Narren gehalten. Die Stichhaltigkeit von Nortons Alibi haben wir nun auch überprüft, und es hält nicht stand. Das wurde leider zuvor versäumt. Der Pharmavertreter, der sich um Norton gekümmert haben will, war gekauft.« Clay strich sich über das makellos gebräunte Gesicht. »Diese Gegenstände.« Er breitete vor ihnen Fotos aus, die eine blutige Frauenbluse, einen goldenen Ohrring, eine Perlenkette aus Amethysten und eine blaue Lederhandtasche zeigten, die mit Blutspritzern bedeckt war. »Haben die Ihrer Frau gehört?«
»Wo haben Sie die gefunden?«, fragte ihr Vater fassungslos. »Diese Kette, ich hab sie Charlotte zu unserem fünften Hochzeitstag auf Capri gekauft.«
»Manche diebischen Elstern brechen sich selbst das Genick. Wir hatten den Verdacht gegen Mr. Norton schon fallen lassen.« Dabei sah er Macy freundlich an. »Beeindruckend, Ihr Riecher, Miss Wood. Das muss ich Ihnen lassen. Es gab in der Klinik schon länger die Vermutung, dass Norton mit Tabletten dealt. Sein Zimmer wurde unangekündigt durchsucht – wie gesagt, ein glücklicher Umstand. In einer Plastiktüte unter seinem Bett hat man dabei diese Gegenstände sichergestellt.«
Macy war wie vom Blitz getroffen. Gestern war sie noch überzeugt gewesen, dass Greg ihre Mutter umgebracht hatte, und heute sollte es Michael sein?
Dann ergab es aber keinen Sinn, dass er ihnen diesen Brief gezeigt hatte. Außerdem konnte er nicht im Pikass gearbeitet haben. Er war schon länger in der Klinik, außerdem war er reich. Wenn er dort gewesen wäre, hätte er gepokert, aber nicht bedient.
Doch die Fundstücke sprachen für sich. Sie konnte jetzt unmöglich der Polizei erklären, dass für sie nur Greg Peterson als Mörder infrage kam. Die einzige Möglichkeit war, mit Michael zu sprechen und aufzuklären, wie diese Gegenstände in sein Zimmer gelangt waren. Doch der befand sich derzeit in Polizeigewahrsam. Kevin hatte hoffentlich eine Idee, wie sie an ihn herankommen konnten.
»Wir haben folgende Theorie: Mr. Norton hat Ihre Frau bei Dr. Siam Paw kennengelernt. Sie scheinen sich dort nähergekommen zu sein und dann eine Affäre unterhalten zu haben.«
Ihr Vater leckte sich nervös über die trockenen Lippen, wurde rot im Gesicht und schlug dann auf den Tisch. »Verdammt! Und was hat er ihr angetan?«
»Wir gehen davon aus, dass er Ihre Ehefrau aus Eifersucht umgebracht hat. Bisher hat er uns noch nicht zu ihrer Leiche geführt, wir vermuten sie aber auf dem Klinikgelände. Bisher streitet Norton alles ab, aber wir werden ihn mürbemachen. Mit Leichenspürhunden durchkämmen wir das Klinikgelände. Mr. Norton schiebt alles auf einen anderen Liebhaber, gegen den ihn Ihre Frau ausgewechselt haben soll. Er macht ihn für das Scheitern seiner Beziehung zu Ihrer Ehefrau verantwortlich. Wir halten das für eine Neurose, die letztendlich zum Tod Ihrer Frau geführt hat. Norton zeigt schon länger schizophrene Züge. Er fühlt sich verfolgt. Diesen anderen Liebhaber macht er auch für seinen Unfall verantwortlich, obwohl damals ganz klar festgestellt werden konnte, dass er in Selbsttötungsabsicht die Leitplanke durchbrochen hat. Mr. Norton behauptet auch, dass ihm dieser andere Liebhaber die Beweisstücke untergeschoben hat. Bisher haben wir keine Anhaltspunkte für dessen Existenz. Dieser Liebhaber ist höchstwahrscheinlich eine Einbildung von Mr. Norton.«
Macy glaubte nicht an Michael als Mörder. Er war überheblich und arrogant, aber nicht gewalttätig. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Michaels Persönlichkeit gespalten war.
Er befand sich außerdem in Polizeigewahrsam und konnte somit nicht die Spielkarten vor Ians Fort abgestellt haben.
Macy glaubte an den anderen Liebhaber. Und das war Greg. Er war kein Hirngespinst wie Towa-Hook, sondern aus Fleisch und Blut und offensichtlich gefährlich.
Macy leerte den Briefkasten, der mal wieder am Überquellen war. Zwischen Briefen und Werbesendungen entdeckte sie eine Benachrichtigungskarte, dass für sie in einem Postamt ein Päckchen zum Abholen hinterlegt worden war. Die Karte war am 18. Juli abgestempelt worden. Am 17. Juli war Shailenes Leiche gefunden worden. Macy war verwundert, denn sie erwartete kein Päckchen.
Sie legte die Benachrichtigungskarte vor sich auf den Tisch.
Zuerst wollte sie aber Kevin angerufen. Sie musste ihm von Michaels Festnahme berichten. Außerdem wollte sie wissen, ob er den Halter des Dodge ermittelt hatte.
Kevin hatte herausgefunden, dass die Oak Farm einem Paul Goodman gehörte, einem Vietnamveteranen, der eine Veteranenrente bezog und auf seiner Farm Ziegen züchtete. Gelegentlich vermietete er Zimmer oder die Scheune auf seinem Grundstück. Der Dodge war seit Dezember 1982 auf Goodman zugelassen. Macy war enttäuscht, denn auch dies erwies sich als Sackgasse. Sie hatte so sehr gehofft, dass Greg der Halter war. Kevin hatte recht gehabt. Es gab bestimmt Hunderte von diesen bedruckten Halstüchern, und es war nur dummer Zufall, dass auch ihre Mutter so eins besessen und sich ein ganz ähnliches in diesem verdammten Dodge befunden hatte.
»Unter Michaels Bett hat man Gegenstände gefunden, die meiner Mutter gehört haben. Er streitet alles ab. Der andere Liebhaber soll sie ihm untergeschoben haben. Wir sollten mit Michael reden. Glaubst du, dass das möglich ist?«
»Vielleicht könnte ich ein Telefonat arrangieren«, murmelte Kevin. »Kam dir Michael wie ein Mörder vor?«
»Nein und auch nicht schizophren, nur leicht psychotisch. Ich würde stark an meiner Menschenkenntnis zweifeln, wenn er uns derart täuschen konnte.«
Dann berichtete sie von ihrem Verdacht, Greg Peterson könnte ihrer Mutter etwas angetan haben. Kevin versprach, zu Petersons Laden in der Wister Lane zu fahren und vorzutäuschen, dass er für den Tribune an einem Artikel über den Laden arbeitete. So würde er an ein Foto kommen, ohne dass Greg misstrauisch wurde.
Nachdem sie das geklärt hatten, setzte sich Macy auf ihre Vespa, um das Päckchen abzuholen.
Das Viertel, in dem die Postfiliale lag, kannte sie kaum. Es handelte sich um einen Stadtteil, in dem Familien mit kleinen Kindern lebten, die einen Hund besaßen und sonntags großen Wert auf ein ausgedehntes Barbecue legten.
Das Postamt war eng, vollgestopft mit Schreibwaren und Paketen, die nicht abgeholt worden und jetzt von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Die gesamte Geschäftsstelle roch nach altem, nassem Kater und Kohlsuppe. In einem Rattankorbstuhl lag ein übel gelaunter Kater, der asthmatisch rasselnd atmete. Der Stuhl stand unter einer mangrovenartigen Pflanze, in der ein bunt bemalter Papagei aus Holz auf einem Drahtgestell schaukelte. Die gewaltigen Wurzeln der Pflanze krochen über den Linoleumboden, und wenn nichts unternommen wurde, würde die Pflanze das Postamt in den kommenden Jahren komplett verschlingen.
»Ich wollte ein Päckchen abholen.«
Macy zeigte ihren Abholschein. Die alte Frau, die eine viel zu große Uniform mit goldenem Abzeichen auf den Schultern trug und ihre wenigen grauen Haare mit einem Gummi zusammengebunden hatte, nahm den Zettel und hielt ihn gegen das Sonnenlicht, wie um seine Echtheit zu überprüfen. Dann sah sie Macy an und begann zu kichern.
»Du bist also Macy Wood«, stellte sie fest. Ihr seltsames Lachen verunsicherte Macy.
»Ist alles okay?«, fragte sie irritiert.
»Alles bestens. Wo hatte ich es gleich hingelegt?« In Zeitlupe setzte sich die Frau in Bewegung. Sie steuerte einen Raum an, der hinter einem geblümten Vorhang lag. »Setz dich.«
Macy hörte die Frau im Halbdunkel hinter dem Vorhang rumoren. Eine Staubwolke erhob sich, und einige Motten entflohen dem Zwielicht.
Sie kicherte schon wieder. Macy fragte sich, ob die Alte in dem miefigen Postamt langsam den Verstand verloren hatte.
Nach einiger Zeit rief sie hinter dem Vorhang: »Ich kann das Päckchen nicht finden. Ich muss woanders suchen. Ist wohl in Lager zwei. Wärst du so freundlich und könntest kurz ein Auge auf den Laden haben?«
Es klang, als ob Lager zwei sehr weit entfernt war. Wenn die Frau noch einmal kichern würde, würde Macy dieses verrückte Postamt verlassen und auf das Päckchen pfeifen.
»Luftpostaufkleber und Sonderbriefmarken befinden sich in der grünen Schublade ganz oben. Falls Mr. Curry in den nächsten zehn Minuten auftauchen sollte. Der ist nämlich süchtig nach Sonderbriefmarken.«
»Okay.« Ihre Geduld wurde auf die Probe gestellt. Macy hoffte, dass weder Mr. Curry auftauchen und Sonderbriefmarken verlangen würde noch sonst irgendwelche sonderbaren Individuen aufkreuzten.
Während die Frau weg war, vertrieb sie sich die Zeit damit, den übel gelaunten Kater zu streicheln, der sich in einem mumienartigen Zustand befand.
Als die alte Frau zurückkam, hatte sie nicht nur das Päckchen bei sich, sondern trug auch ein angelaufenes Silbertablett, auf dem eine altmodische Kaffeekanne, ein Sahnekännchen und eine Dose mit braunen Zuckerstücken stand.
»Ich hatte Lust auf Kaffee. War Mr. Curry hier?«
Macy schüttelte den Kopf. Der Kaffee war stark und wirklich verdammt gut.
»Ach, dein Päckchen, bevor ich’s vergesse.«
Die alte Dame legte vor Macy ein Paket in der Größe eines Eierkartons.
»Komm mal wieder zum Kaffeetrinken«, verabschiedete sie Macy. »Meine Aushilfe hat leider gekündigt. Ich suche wieder jemanden.«
Macy beeilte sich, dieses seltsame Postamt zu verlassen.
Kaum war sie draußen, suchte sie sich einen ruhigen Platz, um das Paket zu öffnen. Sie konnte kaum an sich halten vor Neugierde. Die Adresse war mit Schreibmaschine getippt. Macy zog an dem Bindfaden, der mit einer öligen Flüssigkeit vollgesogen war.
In das Packpapier war eine Seifenschachtel gewickelt, die nach Pfingstrosen mit Anis duftete. Ein feiner Schmerz durchfuhr sie. Ihre Mutter hatte solche Seifen gekauft.
Macy öffnete die Schachtel und entfaltete das Seidenpapier, an dem winzige Seifenflocken hingen. Zum Vorschein kam der Ring ihrer Großmutter mit dem Türkis und Katzengold, den sie seit einiger Zeit vermisst hatte.
Ihr Herz begann, wie wild zu klopfen.
Ein zusammengefalteter Zettel lag unter dem Ring. Mit zitternden Fingern entfaltete sie das Papier.
Auf dem Zettel stand: Das ist eine letzte Warnung! Hör auf, nach deiner Mutter zu suchen.
Macy schnappte nach Luft. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass eine unsichtbare Hand ihre Luftröhre zuquetschte. Panisch ließ sie das Päckchen fallen. Ihr war mit einem Schlag speiübel. Ihr Körper krümmte sich, und in einem großen Schwall musste sie sich in einen Kübel mit Begonien übergeben. Die Grannen der blühenden Gräser zitterten vorwurfsvoll unter der Flut Erbrochenem.