Samstag, 18. Juni 1983

Ich sehe dich

Hinter ihnen lagen schwere Monate. Es war ein Auf und Ab gewesen. Jeden Tag hatte er fürchten müssen, dass sie die Beziehung beenden würde, es war aber bisher nicht geschehen. Er wusste, dass es ein Abschied auf Raten war. Sie verbrachten immer weniger Zeit miteinander. Die wenigen Male, wo sie Sex gehabt hatten, konnte er an den Fingern abzählen.

Er war unruhig, ein Nervenbündel. Hass ballte sich in ihm zusammen. Wenn Luigi Gennarone so ein leichtes Opfer wie Michael Norton gewesen wäre, hätte er ihn schon längst ausgeschaltet, er war aber ein gerissener Mann. Gennarones Schatten waren ihm früh aufgefallen. Sie folgten ihm überallhin. Es wäre ein großer Fehler gewesen, zu versuchen, Gennarone ruhigzustellen. Das konnte alles zunichtemachen. Charlotte würde dann nichts mehr von ihm wissen wollen.

Er zweifelte keinen Moment daran, dass Gennarone sein wiedergewonnenes Spielzeug nicht gerne teilte. Da er ihn nicht loswerden konnte, musste er sich Charlotte einverleiben. Sie sollte nur noch ihm gehören.

Vor Kurzem hatte er ein Buch über Lenins Mausoleum gelesen, und das hatte ihn auf eine Idee gebracht. Wie schön wäre es, Charlotte jeden Tag, jede Minute seines verbleibenden Lebens für sich zu haben, und zwar in ihrem jetzigen Zustand – ein Schneewittchen im ewigen Schlaf. Das Verfahren würde sich als schwierig erweisen. Er hatte gelesen, dass alle Weichteile mit balsamierenden und konservierenden Stoffen durchtränkt werden mussten. Dazu musste er die Haut mit entsprechenden Schnitten präparieren.

Das Werkzeug wäre nicht das Problem. Arterienklemmen, Präpariernadeln, Skalpell, Natriumhydroxid und Wasserstoffperoxid hatte er bereits in seiner Scheune gebunkert. Gelegentlich präparierte er Vogelspinnen und verkaufte sie. Ein nettes Zubrot, wenn all seine Geldkanäle mal wieder versiegt waren.

Der schlimmste Teil dabei war, dass er seine geliebte Charlotte töten musste. Doch die Tatsache, dass in Zukunft nur er allein sie besitzen würde, erfüllte ihn mit einer derartigen Vorfreude, wie er sie zuletzt als kleiner Junge vor Weihnachten verspürt hatte.

Darüber dachte er nach, als er die Tüte mit ihren Einkäufen hielt.

Er hatte sie zu einem italienischen Feinkostgeschäft begleitet, das am Stadtrand lag. Die Tüten quollen über von frischem Gemüse, Obst, Schokolade, Wein und eingelegten Köstlichkeiten. Die Wildschweinsalami mit Trüffeln und Anis, die er gekostet hatte, schmeckte er noch auf der Zunge.

Sie hatten an der schmalen Bar einen Ristretto getrunken. Das Vanillehörnchen, an dem sie nur geknabbert hatte, hatte er aufgegessen. Zum Schluss hatten sie sich eine Zigarette geteilt. Es war fast wie früher gewesen.

Natürlich hatte er es wieder versucht. Verlass deinen Mann und geh zu Gennarone, aber wir müssen doch nicht unsere Beziehung beenden. Sie hatte ihm gar nicht mehr zugehört. Geistesabwesend hatte sie die reifen Auberginen, die sie gekauft hatte, befühlt und an einem Strauß frischem Basilikum gezupft. Wahrscheinlich hatten sie diese Diskussion schon zu oft geführt, und sie war ermüdet. Ihr Desinteresse verletzte ihn, denn anscheinend war er ihr mittlerweile derart unwichtig geworden, dass sie ihm kein Gehör mehr schenkte.

Sie hatte ihren Wagen vorgefahren.

»Schmeiß die Einkäufe rein.« Er war nur noch ihr Lakai. Als Nächstes würde sie ihm ihre Schuhe zum Putzen vor die Nase halten. Früher hätte er ihre Schuhe mit der bloßen Zunge abgeleckt, so hatte er sie verehrt, doch jetzt konnte er über ihr herablassendes Verhalten ihm gegenüber nicht mehr hinwegsehen. Er war dünnhäutig geworden.

Als er die Taschen in den Kofferraum ihres Oldsmobils packte, wollte er wissen, warum sie das Zeug gekauft hatte, obwohl sie gar nicht kochen konnte. Meistens kaufte sie Fertigprodukte wie Pizza oder holte Burger.

Langsam drehte sie sich zu ihm um und musterte ihn von Kopf bis Fuß, und da wusste er es, bevor sie es sagte. Es war für Luigi. Er schleppte sich für seinen Rivalen ab.

»Nimm’s nicht so eng, aber ich werd heute Abend für Luigi kochen.«

»Wie kannst du mich nur so behandeln?«, schrie er und packte sie an den Schultern.

»Beruhig dich. Ich hab das Interesse an dir verloren. Du musst dir eine Freundin suchen, die zu dir passt. Ich bin eine alte Frau.«

Die Kälte in ihrer Stimme verletzte ihn wie die Stiche eines Stiletts. Er ließ sie los, um zum Kofferraum zu rennen und die Einkäufe wieder herauszuziehen. Er wollte die Tomaten auf dem Bürgersteig zerplatzen sehen, auf den prallen Auberginen herumtrampeln, den Basilikum zu grünem Schnee zerrupfen und die Weinflaschen gegen die Wand werfen.

Mit einem Aufschrei stürzte Charlotte zu ihm, um ihn davon abzuhalten. »Babe, was soll das?«, versuchte sie, ihn umzustimmen, und packte seine Hände, um ihn auf den Mund zu küssen, doch so billig ließ er sich nicht mehr abspeisen. Sie rangen miteinander.

In diesem Moment bemerkte er, dass sie beobachtet wurden. Der Feinkostladen lag am Rand von Columbia. Nie hätte er damit gerechnet, dass sie hier jemand Bekanntem begegnen würden.

»Dreh dich nicht um. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Wir werden beobachtet.«

»Wer?« Am meisten hatte Charlotte Angst vor der Entdeckung, bevor sie alles regeln konnte. Bis zum letzten Augenblick wollte sie alles kontrollieren.

»Diese Freundin deiner Tochter steht gegenüber und schaut zu uns.«

»Shailene?«, fragte Charlotte entsetzt.

»Ich sag doch, nicht umdrehen, ins Auto und weg.«