Montag, 25. Juli 1983

Mein Kind, finde mich

Kevin stand im Garten und klopfte an die Fensterscheibe. Macy schreckte aus ihrem Albtraum auf. Verwirrt starrte sie in den Garten und bemerkte gar nicht, dass jemand vor der Fensterscheibe stand. Ihr Blick ging durch ihn hindurch in die Ferne. Erst durch Kevins Winken wurde sie vollends wach.

»Schlafmütze«, begrüßte er sie, als er ins Wohnzimmer schlüpfte. Er trug dunkle Jeans und T-Shirt und hatte eine Strumpfmaske auf dem Kopf, die er hochgeschoben hatte. Er sah wie ein professioneller Einbrecher aus.

An so was hatte Macy nicht gedacht. Wenigstens trug sie heute kein signalgelbes T-Shirt wie eine Zielscheibe – Hey Leute, schießt auf mich. Sie sah an sich herunter, entschied aber, sich nicht mehr umzuziehen. Sie würde sich auf Kevin verlassen. Und ob Shorts oder Leggins konnte ihr jetzt auch nicht mehr helfen.

»Krieg ich einen Kaffee?«, fragte Kevin und gähnte.

»Was hast du eingepackt?«

»Klebeband, Taschenlampe, Stemmeisen, Bolzenschneider und die Glock vom letzten Mal. Mit Schalldämpfer.«

»Nicht ernsthaft.«

»War ein Witz.« Kevin war genauso nervös wie sie. Sie hofften, endlich das Geheimnis des falschen Thomas Wood zu ergründen.

»Ich verlass mich auf dich«, murmelte Macy und schlurfte in die Küche. Kevin war ein helles Köpfchen. Sie durfte davon ausgehen, dass er an alles gedacht hatte.

*

Macy hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie sich der Oak Farm näherten. Ihr Herz schlug wie ein Presslufthammer. Am pechschwarzen Himmel stand eine schmale Mondsichel, nur wenige Sterne waren zu sehen. Dunkle Wolken jagten über das Firmament.

»Danke, dass du mitgekommen bist.« Das meinte sie ernst. Und nach langer Zeit nahm sie Kevins Hand und drückte sie.

»Ich hab einiges wiedergutzumachen. Und denk an meine Exklusivstory.« Aufgeregt zwinkerte er ihr zu.

Bevor sie in die Alta Vista Road abbogen, hielten sie an, um eine Zigarette zu rauchen. Der Tabak schmeckte eigenartig bitter, brannte fast auf der Zunge. Alles hing davon ab, ob der falsche Thomas Wood da war. Dann würden sie zwar nicht in die Scheune kommen, wüssten aber endlich, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg.

Überall im Gebüsch, das sie umgab, raschelte es. In der Dunkelheit schienen tausend Augen auf sie gerichtet zu sein. Ein Flüstern ging durch die Luft.

»Wenn wir den Kentucky Highway Killer schnappen, schaff ich’s zum New Yorker«, murmelte Kevin.

»Dann rechne ich aber mit einem Haufen Leichen in der Scheune«, fügte Macy hinzu. Es hatte witzig klingen sollen, doch ihre Stimme erstarb, bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.

»Oder es ist alles ganz unspektakulär, und in der Kühltruhe befinden sich nur gefrorene Erbsen.«

Sie zuckten zusammen, als plötzlich aus einem Busch ein Schwarm Vögel aufstieg. Sie veranstalteten ein schreckliches Geschrei, das sogar das ohrenbetäubende Zirpen der Zikaden übertönte. Die Luft roch beißend nach altem, abgemagertem Ziegenbock.

Kevin zog die Strumpfmaske übers Gesicht und stieg in den Monte Carlo. Auch für Macy hatte er einen Strumpf vorbereitet. Langsam hoppelten sie die Schotterpiste entlang. Sie nahmen wieder den Weg, der einen Bogen um das Farmhaus beschrieb. Dornenbüsche links und rechts des Weges schirmten sie ab.

Still lag die Farm vor ihnen. Im Farmhaus brannte Licht. Der Lichtkegel reichte weit über die dürren Wiesen.

Sie parkten den Monte Carlo hinter einer Anhöhe. Das Werkzeug schleppte Kevin in einem Seesack, die Glock hatte er in seinen Gürtel gesteckt. Das T-Shirt fiel über die Waffe. Der Kegel ihrer Taschenlampen traf immer wieder auf Ziegen, deren Augen bunt und gleichzeitig leer das Licht reflektierten. Nachts war der Geruch nach Ziege noch stärker als am Tag.

Vor ein paar Wochen hätte sich Macy nicht wiedererkannt. Zwei dunkle Gestalten, die bewaffnet über ein heruntergekommenes Farmgelände schlichen, die Gesichter unter Strumpfmasken verborgen.

*

Sie lagen mehrere Stunden auf der Lauer und beobachteten die Scheune. Der silberne Dodge parkte nicht mehr dort. Stattdessen stand ein weißer Lieferwagen seitlich davor. Die wenigen Fenster des Gebäudes lagen in Dunkelheit. Das Tor war noch immer mit der schweren Kette gesichert. Kevin schob es immer wieder hinaus – sie sollten noch warten, vielleicht kam Thomas Wood ja doch noch. Aber die Scheune blieb verlassen, und irgendwann mussten sie sich aufraffen und sich anpirschen. Der Lieferwagen spornte Macy nur noch mehr an. Es sah fast so aus, als ob ihr Mann die Mücke machen wollte und seine Scheune ausräumte.

Als sie sich geduckt dem Gebäude näherten, blieb Kevin kurz stehen und legte ein Stück Fleisch auf den Boden. Es roch beißend. Sofort stürzten sich Fliegen darauf.

»Willst du das Monster auch noch füttern?«, zischte Macy entsetzt.

»Ich hab das Fleisch mit einem Schlafmittel präpariert. Ich hoffe, es wirkt. Die Dosis sollte für eine Elefantenherde ausreichen.«

Macy war beeindruckt. Kevin hatte wirklich an alles gedacht.

Vor der Scheune in einer Stechpalme zwischen rot glänzenden Beeren saß ein Kardinalvogel und sang sich die Seele aus dem Leib – mitten in der Nacht.

»Verrat uns nicht, kleiner Mann«, flehte Macy den Vogel an. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Das Geschrei machte sie nervös.

Während sie die Taschenlampe hielt, bearbeitete Kevin die Kette des Schlosses mit dem Bolzenschneider. Manchmal knackte etwas, ein Schuss in der Ferne, das Husten eines Dachses oder gedämpftes Hundegebell. Sie mussten immer wieder innehalten und lauschen, ob sich ihnen peitschende Pfoten oder der irre Farmer oder sogar Thomas Wood in seinem silbernen Dodge näherten. Aber es geschah nichts. Sie waren erleichtert, als Kevin endlich das letzte Glied der Kette geknackt hatte.

Vorsichtig öffneten sie das Tor. Die Scheune lag schwarz wie eine ägyptische Grabkammer vor ihnen. Nur ein dumpfes Brummen war zu hören.

»Mommy?«, flüsterte Macy.

»Leise«, zischte Kevin.

Er schob das Tor hinter ihnen wieder zu. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe leuchtete auf. Er schirmte ihn mit der Handfläche ab.

Die Scheune war nicht sehr groß und vollgestopft mit Motorrädern, Werkzeug und Ersatzteilen. Zwischen zwei Balken war eine Hängematte aufgehängt worden. Auf dem Boden standen eine Wasserflasche und Rasierzeug. An einer Packung Kekse hatte eine Maus geknabbert, die aber bei ihrem Eintreten verschwunden war.

Ein langer Tisch nahm fast die gesamte noch freie Fläche ein. Darauf stand eine Ansammlung unterschiedlicher Chemikalien. Ein Ledermäppchen war ausgerollt, das mit Nadeln verschiedener Dicke und Messern bestückt war.

Kevin sollte eigentlich wieder nach draußen und Wache schieben, doch als Macy ihn hinausschicken wollte, antwortete er nur mit einem gedehnten Gleich.

»Ein Schlächter-Etui«, murmelte er.

»Wo ist meine Mutter?«, flüsterte Macy. Sie hatte sich vorgestellt, sie würden die Scheune aufbrechen und sofort auf Charlotte stoßen – tot oder lebendig. Sie hatte es sich so sehr gewünscht. Stattdessen herrschte nur Chaos, von ihrer Mutter keine Spur.

»Lass uns nach der Kühltruhe suchen«, schlug Kevin vor. Sie begannen, die Scheune zu durchkämmen. Nachdem sie sich einige Zeit durch Unrat gewühlt hatten, entdeckten sie die Kühltruhe hinter Holzlatten, einem Surfboard und zwei ausrangierten Türen. Sie war mit einem massiven Vorhängeschloss mit Zahlencode gesichert.

»Sieht nach einer Schatztruhe aus.« Kevin, der gerne Rätsel löste, ging aufgeregt vor der Kiste in die Hocke. »Welcher Code wird es sein?« Hektisch drehte er an dem Vorhängeschloss.

Macy kaute auf ihren Nägeln. Niemand sicherte eine Tiefkühltruhe mit einem Schloss ab, wenn er nur Erbsen und Fleischklöße kühlte. Sie dachte an Gregs Kühltruhen, in denen er angefahrene Pumas und stinkende Alligatoren transportierte. Aber auch diese Truhen waren nicht mit Schlössern gesichert gewesen, so heilig Greg diese Kadaver waren.

Sie starrte das Zahlenschloss an. Eine flüchtige Erinnerung stieg in ihr auf. Ian, der ein Bild mit bunten Wachsmalkreiden gemalt hatte. Hügel, ein Haus und Ziegen, die sie für Schafe gehalten hatte. Sie spürte seine kleinen Kinderlippen, die in ihr Ohr flüsterten: Erinnere dich an Mommys Geburtsdatum.

»06051938!«

»Was ist das?« Kevin gab die Kombination ein, und das Schloss schnappte tatsächlich auf.

»Der Geburtstag meiner Mutter. Was hätte es sonst sein können?«

Angespannt umklammerte Kevin den Deckel der Tiefkühltruhe. »Ich kann es auch alleine machen. Es kann schwer zu ertragen sein. Wenn er sie zerstückelt hat.«

»Das weiß ich. Ich werd das aushalten können.«

Kevin hob den Deckel an, und eine Eiswolke stieg empor. Zwischen sorgsam zerkleinerten Eisbrocken lag eine Frau. Sie sah wunderschön aus, als ob sie nur ein Nickerchen machen würde, wie Dornröschen, das darauf wartete, wachgeküsst zu werden. Ihre Haut war glänzend weiß. Sie trug eine Art Hochzeitskleid und einen blauen Schleier, der mit zarten Rosenblüten besetzt war. Das Hochzeitskleid sah älter, fast nach Art déco aus.

»Nein«, keuchte Macy. Ihre Mutter war tot, tiefgekühlt in der Truhe eines Verrückten. Sie hätte weinen sollen, stattdessen brach sie in einem hysterischen Lachkrampf vor der Kiste zusammen. Zuerst sah sie Kevin fassungslos an, dann wurde auch er von ihrem Lachen angesteckt.

»Das ist die irrste Geschichte, die ich je erlebt habe«, prustete er.

Sie brüllten, wieherten vor Lachen, bogen sich, bis ihnen die Tränen kamen.

»Mommy«, schluchzte Macy. Ihre Mutter war tot.

»Wunderbar.« Jemand applaudierte. Die Handflächen klatschten trocken gegeneinander. Von dem Klatschen wurden Tauben aufgeschreckt, die im Gebälk gesessen hatten. »Wirklich beeindruckend. Du kannst es nicht lassen, was, Macy? Hat es nicht gereicht, dass Shailene gestorben ist? Du hättest deinen Frieden machen können, du dummes, kleines Mädchen. Und dann hast du auch noch diesen armen Trottel mit hineingezogen.«

Es war Dave. Es war ihr geliebter, bewunderter Dave. Thomas Wood. Sie schrie gellend auf – vor Hass, Wut, Angst und Schmerz.

Er hielt eine Pistole in der Hand. Kevin machte eine unglückliche Bewegung, um an seine Glock zu kommen, doch Dave bemerkte seine Bemühungen. Er versetzte ihm einen Schlag, der ihn sofort bewusstlos auf den Boden kippen ließ. Sein Kiefer knirschte ungut. Dave nahm ihm die Glock ab. Aus Kevins Schläfe floss Blut und breitete sich auf dem Boden aus. Kurz zuckte er, dann blieb er bewegungslos liegen. Nur das Blut sickerte weiter aus einem feinen Schnitt. Dave war noch keine fünf Minuten da, und Kevin war schon ausgeschaltet.

»Schönes Teil«, bemerkte er und begutachtete Kevins Glock.

»Kevin?« Entsetzt beugte sich Macy über ihn und fasste an seinen Hals. Ihre Hände waren voller Blut, aber sie glaubte, einen Puls zu spüren.

»Du musst dir um ihn keine Sorgen machen. Ihr werdet sowieso beide sterben, denn ich werd euch erschießen müssen. Dann werde ich meine Prinzessin einladen und die Scheune anzünden. Morgen Nacht bin ich schon über der Grenze.« Das summte er. »Wirklich schade um dich, Macy. Ich hab unterschätzt, wie zäh du bist.«

»Warum, Dave?«, fragte sie fassungslos. »Wie konntest du so viel Unglück über uns bringen?«

»Es ist die Schuld deiner Mutter. Ich hab sie geliebt wie nichts auf der Welt. Sie war mein Leben, meine Zukunft. Was hat sie mir angetan, dass ich zwei Morde begehen musste? Sie ist das Monster!«

»Warum musste Shailene in der Nacht am Old Swamp Side sterben?«

»Da ist einiges schiefgelaufen. Das hat schon damit angefangen, dass ich aufgetaucht bin und mit dir geschlafen habe. Da hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle, aber ich hatte solche Sehnsucht nach Charlotte. Ich hatte ihren lebendigen Körper so verdammt lange nicht mehr gespürt. Eine Tote ist sehr kalt und hart. Ich hatte nicht geplant, Shailene zu ermorden. Das ist spontan passiert. Auf dem Rückweg bin ich ihr nämlich begegnet, und sie ist völlig ausgerastet. Mir war überhaupt nicht bewusst, dass sie mir bis zur Scheune gefolgt ist. Sie hat gesagt, dass sie Fotos gemacht hat und damit zur Polizei geht, wenn ich mich nicht stelle. Wirklich ziemlich doof. Natürlich musste sie sterben. Kaum dass ich sie mit diesem Stein erwischt hatte, hat sich auch schon ihr komischer Macker auf mich gestürzt. Er sollte auch sterben, aber anscheinend war ich nicht ganz genau. Aus dem Koma wird der Typ aber bestimmt nicht mehr aufwachen.«

»Wie hast du es so lange neben uns ausgehalten? Hattest du keine Angst, dass dich die Polizei schnappt?«

»Macy, du musst zugeben, dass ich genial bin. Erst konnte ich die Fährte erfolgreich auf deinen Vater lenken. Dann hab ich diesem trotteligen Norton die Geschichte angehängt. Auf mich wäre niemand gekommen. Ich wollte Charlotte in Ruhe einbalsamieren und dann über die Grenze mit ihr. Ich hatte mit dieser Scheune ein tolles Versteck, und es hätte gedauert, bis ich so was wieder gefunden hätte.«

»Du hast nur mit mir geschlafen, weil du meine Mutter spüren wolltest?« Macys Unterlippe zitterte. Sie wollte nicht in Tränen ausbrechen. Er sollte keine Gelegenheit bekommen, sie leiden zu sehen.

»Du bist nicht wie Charlotte, aber es steckt viel von ihr in dir, allein wie deine Haare duften, deine weiche Haut und die Art, wie du die Lippen aufeinanderpresst, wenn dir was nicht gefällt.« Er verstummte. Dave ging zur Kühltruhe und schloss sie wieder, wobei er ihrer Mutter etwas Liebevolles zuflüsterte. Er warf eine Kusshand ins Eis.

»Warum hast du meine Mutter ermordet, wenn du sie so geliebt hast?«, wimmerte Macy.

»Alles hat mit dem Auftauchen von Luigi Gennarone angefangen. Michael Norton hatte ich unter Kontrolle bekommen – ein unglücklicher Autounfall –, aber Gennarone war ich nicht gewachsen. Er hat ihr alles versprochen, und plötzlich war ich nicht mehr ihr Prinz. Sie wollte tatsächlich zu diesem Fettsack zurück. Kannst du dir das vorstellen? Aber wenn sie mich nicht wollte, sollte sie keiner bekommen.«

»Was ist im Faraway Inn passiert? Und was hatte Em mit der ganzen Sache zu tun?«

»Mein Gott, Em und ihr trotteliger Bruder! Sie hat sich eingebildet, wir wären füreinander bestimmt, und hat meine Beziehung zu Charlotte überhaupt nicht vertragen. Die ganze Zeit hat sie mir nachspioniert. Als ich ins Motel wollte, hat sie mich aufgehalten. Ich wusste schon, dass ich in dieser Nacht Charlotte töten würde. Und ich hatte entdeckt, dass Norton im Motel rumhing. Das hat eine Planänderung erfordert. Em hat Michael K.-o.-Tropfen in den Drink gekippt und mir anschließend mit Charlotte geholfen. Zusammen haben wir auch das Oldsmobil versenkt. Nur dumm, dass wir dabei beobachtet wurden. Natürlich musste ich Em später ausschalten. Zum Schluss hätte sie noch alles verdorben. Ich hab ihr ein paar Tollkirschen ins Müsli gemischt – Em nur ein bisschen wahnsinniger machen. Besser, als sie umzubringen. Noch Fragen?«

Auf seinem Gesicht lag ein überlegenes Grinsen. Als Macy nicht reagierte, schleifte er sie in die Mitte der Scheune und drückte sie zu Boden. Die Waffe hielt er an ihre Schläfe gepresst.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie noch mehr Blut aus Kevins Wunde sickerte. Die Lache wurde immer größer. Eine weiße Daune schwamm im dunklen Rot.

Es war unmöglich, dass ihr Leben jetzt zu Ende gehen sollte. Da waren noch so viele Träume, die sie noch nicht gelebt hatte. Sie wollte einmal in ihrem Leben in der Royal Albert Hall in London spielen und in Brasilien leben.

Was würde Ian ohne sie machen? Mit seinem Gespenst Towa-Hook verrückt werden? Gab es keinen Ausweg? Aber vor Macys Augen öffnete sich nur eine große Schwärze ohne Licht am Ende des Tunnels. Verzweifelt schloss sie die Augen. Ihr Leben durfte jetzt einfach nicht zu Ende sein. Das war nicht real. Sie wollte leben!

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie durch einen Tränenschleier einen Indianer. Er stand neben Dave. Sie schloss noch einmal die Augen. Fast glaubte sie, bereits tot zu sein und sich im Reich der Geister zu befinden. Auch mit geschlossenen Augen sah sie den Indianer. Er war eigenartig bleich und grau. Er trug einen beeindruckenden Federschmuck auf dem Kopf. Auf seinem Gesicht lag ein gutmütiger Ausdruck.

»Keine Angst, Macy.« Er bewegte seine Lippen nicht, dennoch konnte sie ihn hören. »Ian hat für dich gesorgt.«

Er klopfte auf seine Hüfte, wobei er in Macys Richtung nickte. Da begriff sie, dass sich in ihrer Hosentasche noch immer Ians Schnitzmesser befand. Klein und spitz steckte es dort. Der Indianer nickte ihr zu, dann war er verschwunden.

In diesem Moment gab es einen lauten Knall. Eins der Surfboards, das sie weggeräumt hatten, um an die Kühltruhe zu kommen, war umgefallen. Dieses Geräusch lenkte Dave für den Bruchteil einer Sekunde ab, doch Macy nutzte ihre einzige Chance, sich vor dem sicheren Tod zu retten.

Sie zog das Messer aus der Tasche und rammte es Dave kreischend in den Hals. Von diesem plötzlichen Angriff überrascht, taumelte er nach hinten, und Macy konnte sich aus seinem Griff befreien. Die Waffe glitt ihm aus der Hand. Sie riss das Messer aus seinem Hals, und eine Fontäne warmen, dampfenden Blutes spritzte heraus. Sie kickte gegen die Waffe, die am Boden lag, während Dave panisch seine Hand gegen die sprudelnde Wunde an seinem Hals drückte. Noch einmal rammte sie das Messer in seinen Körper, dieses Mal in sein Auge. Etwas platzte, und eine Flüssigkeit spritzte ihr entgegen. Sie machte sich nicht die Mühe, das Messer aus seiner Augenhöhle zu ziehen. Dave gab einen gurgelnden Schrei von sich.

So gerne hätte sie noch mehr zugestochen, ihn für alle seine Taten bestraft, doch sie musste Hilfe holen, solange Dave überrumpelt war. Kreischend rannte sie aus der Scheune zum Monte Carlo. Kevin musste sie leider zurücklassen. Sie würde Hilfe holen. Sie konnte nur hoffen, dass er bis dahin durchhielt und Dave die Scheune nicht abfackelte.

Sie ließ den Wagen an, der Monte Carlo ächzte wie ein altes Segelschiff, und raste davon. Sie konnte es kaum glauben, dass es geglückt war. Sie hatte überlebt und ihre Mutter gefunden – mit Towa-Hooks Hilfe. Er war ein guter Indianer, der sie gerettet hatte. Ian hatte die ganze Zeit über recht gehabt!

*

Als Macy mit der Polizei die Scheune betrat, war Kevin noch am Leben. Er war noch immer bewusstlos, sein Puls schwach, aber die Sanitäter konnten ihn noch vor Ort stabilisieren. Ihre Mutter lag nach wie vor eingefroren in der Kühltruhe, doch von Dave fehlte jegliche Spur. In der Scheune, wo Macy ihn niedergestochen hatte, hatte er eine gewaltige Menge Blut und eine schwärzliche Masse, die er erbrochen hatte, zurückgelassen. Er musste sich irgendwie aus der Scheune geschleppt haben.

Sie folgten seiner Blutspur über die gelblich vertrockneten Wiesen bis in einen Wald hinein. Dort verlor sie sich zwischen Kiefern und Sumpfzedern. Vielleicht hatte Towa-Hook Dave in die Wildnis geholt.

Macy legte den Kopf in den Nacken und starrte in die Kronen der Bäume. Erste helle Sonnenstrahlen brachen zwischen Blättern und Kiefernnadeln zum Waldboden durch. Der Himmel war weit und groß und voller ungelöster Rätsel.

Das Zwitschern eines Kardinalvogels erklang in der morgendlichen Stille des Waldes. Sie sah das Vögelchen nicht, sondern hörte nur, wie es um sie herumsegelte. Fröhlich sang es ein Lied, als ob es kein Leid auf dieser Erde gäbe.

»Shailene«, flüsterte Macy.