14. DIE HÄSSLICHE UND BÖSE HEXE VON WILDERWEST

»O Thor, sieht die grauenhaft aus …«, flüsterte der Wotansfang, als der Kessel aus der Dunkelheit ins Tageslicht stieg und mit lautem KLONG an den Rand des Brunnenschachts prallte.

»Gib mir die Krone …«, zischte die Hexe mit gierig glühenden Augen, wobei sie die langen Krallenfinger drohend wie scharfe Dolche gegen Hicks reckte. Ihr Anblick hätte sogar den tapfersten Wikingerhelden in Ohnmacht fallen lassen, auf der Stelle.

Ohnezahn war so verängstigt, dass er glatt vergaß, dass er eigentlich Hicks hatte helfen wollen. Er wollte sofort in seinen normalen Platz unter Hicks’ Wams abtauchen, aber gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass der Platz bereits vom Wotansfang besetzt war, deshalb hob er Hicks’ Helm hoch und verkroch sich darunter.

»Erst gibst du mir meinen Vater zurück«, sagte Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte.

Die Hexe lächelte, und was für ein fieses Lächeln das war! Sie flatterte ein wenig mit den langen Fingern und auf jedem einzelnen Nagel glänzte das tödliche Gift.

»Na, na, Hicks«, krähte die Hexe in schmeichelndem Tonfall, »du bist doch ein schlauer Junge, nicht wahr? Und deshalb wirst du wissen, dass es nicht sehr klug ist, dem Wort von jemandem aus der Familie der Verräter zu vertrauen. Das kannst du doch ganz leicht erraten, wenn du dir meinen Familiennamen anschaust. Du wirst mir jetzt die Krone aushändigen und dann wirst du mir auch die anderen Verlorenen Dinge des Königs geben, und wenn du dich weigerst, werde ich dich zu Tode kratzen«, grinste die Hexe. »Denn für dich wäre es doch bestimmt viel besser, ein lebender Niemand statt ein toter Held zu sein, meinst du nicht auch?«

»Wenn das so ist«, sagte Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte, während er zum Schrank hinüberging, »entscheide ich mich für die dritte Möglichkeit: Ich gebe dir überhaupt nichts, denn vor dir habe ich keine Angst.«

»Solltest du aber haben!«, kreischte die Hexe. »Solltest du wirklich haben!«

Sie stürzte sich auf ihn, packte ihn an beiden Händen und rang kurz mit ihm, bis seine Hände mit giftroten Kratzern übersät waren. Und sie kratzte ihn auch noch, während er weiterging, und ihre scharfen Krallen schnitten durch seinen feuerfesten Anzug.

Aber Hicks ging einfach weiter.

Wieder stieß sie die Krallen durch den Anzug.

Nichts geschah.

Hicks ging weiter.

Immer wieder und immer hektischer stach sie auf ihn ein, zerfetzte seine Kleidung, grub ihm die scharfen Krallen in die Haut, ließ das Gift in die Wunden tropfen, aber es nützte nichts. Hicks ging weiter auf den Schrank zu.

So etwas hatte die Hexe noch nie erlebt.

Zuerst war sie nur verblüfft, dann verwirrt, schließlich bekam sie selbst Angst.

»WER BIST DU?«, krächzte sie schließlich fassungslos. »Warum hast du keine Angst vor mir?« Jetzt klang ihre Stimme plötzlich ganz schwach und quengelnd und ängstlich. »Du weißt doch, dass meine Fingernägel mit dem tödlichsten Gift getränkt sind, das es auf der Welt gibt! Und der Tod macht jedem Angst. Wieso hast du keine Angst vor dem Tod?«

Hicks blieb stehen und lächelte. Er blickte der Hexe direkt in die Augen.

»Ich habe keine Angst, weil ich etwas weiß, das du nicht weißt. Das tödlichste Gift, das die Menschen kennen, ist das Gift des Höchst Giftigen Stacheldrachens. Und ich bin immun gegen das Gift des Höchst Giftigen Stacheldrachens. Frag doch mal deinen Sohn, er soll dir die Geschichte erzählen. Er ist nämlich schuld daran.«

Die Hexe schrie auf, als hätte ihr jemand einen Eimer kochend heißes Wasser über den Kopf geleert. Eben noch war sie voller glühender, rachelüsterner Wut. Und im nächsten Moment nur noch ein Jammerlappen in braunen Lumpen.

Hicks war inzwischen beim Schrank angekommen und nahm mit zitternden Händen den Schlüssel-aller-Schlüssel heraus.

Bitte, Thor, mach, dass er hier drin ist, betete er im Stillen. Er MUSS hier drin sein und der Schlüssel ist eines der Verlorenen Dinge des Königs. Hicks schloss die Tür auf und in dem Schrank befanden sich die Köpfe von Haudrauf dem Stoischen und UG Ugglitugg.

Hicks prallte zurück. Einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte er, dass sich tatsächlich nur die Köpfe und sonst nichts im Schrank befanden, denn er hatte einmal eine gruselige Geschichte von einer Hexe gelesen, die in ihrem Schrank Schrumpfköpfe aufbewahrte.

… aber diese Köpfe hingen glücklicherweise noch mit ihren Körpern zusammen.

DANK SEI DEM GROSSEN GOTT THOR UND FREJA UND WOTAN UND DEM GANZEN REST DER GÖTTERSIPPE!!!

Hicks war fast schwindelig vor Erleichterung, als er Haudraufs und UGs Fesseln durchschnitt und die beiden Häuptlinge aus dem Schrank taumelten.

»Vater!«, schrie Hicks und: »Hicks!«, schrie Haudrauf und es wäre ziemlich schwierig gewesen zu sagen, wer von beiden glücklicher war, als sie sich voller Freude in die Arme fielen.

UG taumelte aus dem Schrank wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen war.

Er hatte nämlich eine besonders schlimme Zeit hinter sich. Die Hexe hatte ihn immer wieder als Spielpartner für eine Partie Schach aus dem Schrank geholt, ihn regelmäßig schachmatt gesetzt und danach wieder in den Schrank gesperrt – mit dem freundlichen Hinweis, dass sie plane, ihn am nächsten Tag umzubringen. Für einen Häuptling wie UG war das eine ausgesprochen unangenehme und erniedrigende Erfahrung gewesen.1

»Rein mit dir«, forderte Hicks die Hexe freundlich auf, richtete das Schwert Wagemut auf sie und öffnete einladend eine Schranktür.

Was blieb der Hexe anderes übrig? Ihr Gift wirkte nicht mehr. Sie war wie eine Klapperschlange ohne Klapper. Eine Puffotter ohne Puff. Ein Wikinger ohne Wiki.

Sogar ihre furchtbaren, grausamen Fingernägel hingen schlaff herab.

»Los, mach schon! Beeil dich!«, befahl Hicks.

Die Hexe stieg murrend in den Schrank. Mit der Schwertspitze schnitt ihr Hicks das Schlüsselband vom Hals und schloss die Schranktür zweimal ab, um ganz sicherzugehen.

»Übrigens«, schrie ihr Hicks durch das Schlüsselloch nach, »im Böse-Sein bist du sehr gut, aber beim Schach bist du eine Niete.«

Er ging zum Schachtisch und schob einen Bauern um ein Feld weiter. »Schachmatt!«, rief Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte.

Haudrauf der Stoische und UG Ugglitugg starrten ihn mit offenen Mündern sprachlos an.

»Jetzt müssen wir die anderen heraufholen«, sagte Hicks schnell. »Lasst den Kessel hinunter, beeilt euch!«

Und mit der geballten Muskelkraft der beiden Häuptlinge flog der Kessel im Nullkommanix durch den Schacht herauf, obwohl Fischbein und Kamikazzi und Blitzbrenner gleichzeitig darin saßen.

Nun reckte auch Ohnezahn die Schnauze vorsichtig unter Hicks’ Helm hervor.

»I-i-ist sie weg?«, fragte er misstrauisch.

»Sie hockt im Schrank«, antwortete Hicks und zog ihn behutsam unter dem Helm hervor. Ohnezahn plusterte seine kleine Brust auf, und um vor Sturmfliege anzugeben, flog er zum Schrank hinüber und beschimpfte die Hexe auf das Übelste durch das Schlüsselloch.

Aber Sturmfliege achtete gar nicht auf ihn; sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich wieder über die Glückskekse herzumachen. Und alle anderen stürzten sich ebenfalls auf die Kekse, als ihnen einfiel, dass sie noch kein Frühstück gehabt hatten. Außerdem machte so eine wilde Flucht durch ein Höhlenlabyrinth, verfolgt von Reißwolfdrachen und anderem Gewürm, ganz schön hungrig.

Hicks lauschte in den Brunnenschacht hinunter. Dort unten war alles unheimlich still, so still, dass Hicks fast hätte glauben können, die ganze Episode mit dem Gebrüll des Roten Zorns sei nichts anderes als ein Albtraum gewesen, wenn ihm die Ohren vom Brüllen und Kreischen der Drachen nicht noch gedröhnt hätten.

Aber was war aus dem Drachen Wildwut geworden? Hatte er umkehren müssen, weil die Tunnel zu eng für ihn geworden waren? Würde er zu Thors Donnerbalkenschlucht zurückfliegen und dann an der Spitze eines entsetzlich großen Drachenheeres zurückkehren, das um ein Vielfaches größer war als das, gegen das Hicks an der Steilklippe gekämpft hatte?

Das halb kaputte Tickdings hatte wieder zu ticken begonnen, wenn auch ein bisschen ungleichmäßig: tick-TACK, ti-hi-ick-TA-TACK …

Es erinnerte Hicks daran, dass die Zeit immer knapper wurde.

»Also, Leute«, sagte Hicks, »wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig zum Schwertwettkampf kommen wollen.«

Kamikazzi nickte und nahm Blitzbrenner die Fesseln ab. »Auf geht’s, Süßer!«

Aber für Blitzbrenner war das alles zu viel. Die Luft war raus, der Held hatte seinen Heldenmut verloren.

»LAUFT, WENN EUCH EUER LEBEN LIEB IST!!!«, brüllte Blitzbrenner und stürmte zur Tür hinaus.

UG Ugglitugg hüpfte unruhig von einem Bein aufs andere und kaute nervös auf einem Zigarrenstumpen herum. Die Hexe hatte auch ihm den Mut genommen, und dass er nun mitansehen musste, wie sich einer der größten und berühmtesten Helden des Archipels in einen Angsthasen verwandelte und davonraste, brachte auch bei ihm das Fass zum Überlaufen.

Ohne ein Wort zu sagen, rannte er hinter Blitzbrenner her.

1 Womöglich wollte sich die Hexe damit an UG rächen, weil er sie zwanzig Jahre lang in einem Baumhöhlenkerker eingesperrt hatte. Kannst du in »Drachenzähmen leicht gemacht. Flammendes Drachenherz« nachlesen.