1 | Ein zerbrochenes Fenster |
Naenn wurde geschubst und gestoßen, die Menschen drängten über den Markt, weil weiter hinten plötzlich jemand seine Waren zu Schleuderpreisen feilbot. Beinahe strauchelte sie über einen Korb voller Birnen, fing sich an der Stange ab, welche die Plane des Standes stützte. Die Marktfrau schaute ihr argwöhnisch ins Gesicht, wie alle in Warchaim dies taten, obwohl oder weil sie mitten im Sommer ihren Mantel trug, um ihr Gesicht im Schatten der Kapuze bergen zu können. »Ist dir nicht gut, Mädchen?« fragte die Marktfrau und machte groß und klobig zwei Schritte auf sie zu, doch Naenn wich zurück und lief davon. Vielleicht hatte die Frau es ja nur gut gemeint, vielleicht hätte aber auch sie mit den Fingern auf sie gezeigt. Naenn war heiß und unwohl, seit Tagen schon mußte sie sich morgens übergeben. Vor Cajin konnte man das alles nicht verbergen, Cajin war überall, in allen Zimmern gleichzeitig mit seinem besorgten und munteren Gesicht. Sie hatte ihm verraten müssen, was ihr fehlte, er hätte sich sonst nur Sorgen gemacht und sie unnötigerweise in das Helelehaus geschickt. Er wußte nun Bescheid und zweifelte an ihr und ihrer Weisheit. Dies war kein Alptraum. Dies war tatsächlich aus Warchaim geworden seit der Nacht, in der das Fenster brach. Jeden Tag ging Naenn nun zum Markt und andere Besorgungen machen, ob sie nötig waren oder nicht. Sie hielt es nicht mehr aus in der Enge der kleinen Zimmer. Unfaßbar, wie Rodraeg es in einem ohne Fenster aushalten konnte. Sie selbst riß ihres auf, und der warme Gestank der Stadt schwallte ihr entgegen und trieb sie vor sich her, all die Kloaken und die Fäulnis von den Müllhaufen der Höfe. Sie vergrub sich in ihrem Garten. Die Mauern spendeten ihr tagsüber Kühlung und strahlten am Abend noch Sonnenwärme ab, wenn sie auf ihren vier mal vier Schritten Heimat Tomaten pflanzte und stützte, wenn sie die jungen Triebe ihrer Kräuterpflanzen aberntete, Karotten, Rote Bete, Mangold, Erbsen, Frühkohl, die ersten Strauchbeeren pflückte, um daraus süßen Brotaufstrich zu kochen, der Cajin so sehr mundete. Wenn sie Endivien säte, Spinat und Fenchel und alles mit einem dunkelblauen Kännchen goß, weil der Regen sich rar machte in diesem Sonnenmond.
Ein Warchaimer stellte ihr nach, ein junger gutgekleideter Kerl mit großen Händen, der von ihrem »Sonnenmund« sprach und ihrem »schönen Atmen«. »Ich lebe mit fünf Männern zusammen«, drohte sie ihm, als er vor zwei Tagen, während in den Gassen das Lunfest lärmte, am Waldrand hinter ihr auftauchte. Er lachte nur und sagte: »Die sind doch nie da. Du mußt sehr einsam sein, du schönes Wild.« Sie rannte und verbarg sich, beide Hände auf ihrem Bauch. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie hätte ihn niederschlagen wollen und auch können für seine Dreistigkeit, aber sie dachte an die friedlichen Weisheiten ihres Volkes und an Rodraeg, wie er sich hilflos geprügelt hatte, um das Verhängnis von ihr abzuwenden.
Das Fenster war zerbrochen, mitten in der Nacht.
Sie zählte die Tage seit dem Fenster, die Tage, in denen Rodraeg und Hellas und Bestar und Eljazokad immer noch nicht zurück waren von ihrer Wandryer Mission. Cajin rechnete ihr vor, daß es noch nicht soweit sein konnte, daß sie mindestens zwölf Tage brauchen würden vom Meer aus bis hierher, aber jeder einzelne Tag fand kein Ende, und in den Nächten quälten Naenn Träume und Hunger und Schweiß, und sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her und bildete sich Wehen ein, wo noch lange keine sein konnten.
Sie betete viel. Zu den Zehn und besonders zu Lun, sowie zu den vielen kleinen oben in den Bäumen zwischen den Blättern hausenden Schutzgeistern der Schmetterlingsmenschen. Sie betete für ihren Vater, ihre Mutter, ihre beiden Großmütter, ihre kleine Schwester und ihren großen Bruder. Für die Hauptfrau des Schmetterlingshaines, für Riban Leribin, Rodraeg Talavessa Delbane und Ryot Melron, ihren Liebhaber, der so ungreifbar war wie ein Traum.
Sie dachte ans Davonlaufen, ans Frei- und Ungefragtsein, an Sonnen und Monde unter unverhülltem Himmel, gewiegt vom Rauschen machtvoller Bäume.
Sie dachte an vorher und nachher, an die ungewisse Zukunft ihres winzigen schutzbedürftigen Kindes, an giftblubbernde Flüsse, geschlachtete Wale und an den geheimniswabernden Brief, den der Kurier ihnen von Gerimmir überbracht hatte.
Als sie an diesem Tag, dem siebzehnten des Sonnenmondes, am späten Vormittag vom Marktplatz zurückkehrte und die Kutsche von Slaarden Edolarde vor dem Haus des Mammuts halten sah, blieb sie wie angewurzelt stehen und beobachtete aus sicherer Entfernung, als sei sie nur eine der Schaulustigen, die sich gerade in der Gasse aufhielten.
Als erster stieg Bestar Meckin aus. Der riesige, kraftstrotzende Klippenwälder hinkte, machte aber einen gutgelaunten Eindruck, sagte gerade etwas Spaßiges und hielt den anderen übertrieben vornehm die Kutschentür auf. Ihm folgte Hellas Borgondi. Der knapp dreißigjährige Bogenschütze mit den bereits schlohweißen Haaren tauchte unter den neugierigen Blicken der Umstehenden etwas ab und beeilte sich, ins Haus zu gelangen. Dritter war Eljazokad, der junge Magier, der erst vor einem Mond zum Mammut gestoßen war. Naenn spürte, wie sie aufatmete. Es gab niemals eine Garantie dafür, daß sie alle wieder zurückkehrten. Bei ihrem allerersten Auftrag waren sie zu viert aufgebrochen und nur zu dritt wiedergekommen. Diesmal schien zumindest in dieser Hinsicht alles geklappt zu haben. Und Bestar war gut gelaunt gewesen. Hellas war niemals gut gelaunt. Eljazokad sah ernst aus, aber nicht verwundet oder zerknirscht. Auch der Zeitplan stimmte. Cajin hatte sie sogar erst ab morgen erwartet, wie er immer wieder betonte.
Aber Rodraeg fehlte noch. Wo blieb Rodraeg? Weshalb stieg er nicht aus?
Eljazokad, der sich umsah, bemerkte sie, wie sie dort stand und unsichtbare Wände häufte zwischen sich, die Kutsche und die Welt. Er lächelte, hob grüßend die Hand und winkte sie heran.
Er meint mich. Ich gehöre doch dazu. Ich bin eine von ihnen. Irgend etwas stimmt mit Rodraeg nicht.
Furcht und Zweifel platzten von ihr ab wie die äußere grüne Schale einer Walnuß. Sie ließ die eingekauften Brote fallen und rannte zur Kutsche hin. Bestar hieb ihr jubelnd seine Pranke auf die Schulter, das war seine Art einer herzlichen Begrüßung. »Das wird schon wieder«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen.«
»Rodraeg«, hauchte sie.
Da saß er, im Dunkel des Kutscheninneren. Rodraeg. Er trank aus einer kleinen Glasphiole, schlürfte die unbekannte Flüssigkeit in sich hinein, als gelte es sein Leben, und sah grauer und älter aus, als Naenn ihn in Erinnerung hatte. Äußerst gekrümmt saß er da, eine Hand in die Brust gekrallt. Seine Schläfen und seine Oberlippe glänzten feucht. Als er sie bemerkte, lächelte er, und es ging ein Ruck durch ihn. Er entfaltete sich, nahm ihre Hand, seine zweite Hand faßte die Bestars, und so zogen sie ihn hinaus, wo er schier erschlagen wurde vom hellen Licht. Rodraeg war schwer krank, das brauchte Naenn niemand zu erklären. Cajin hatte ihr erzählt, daß Rodraeg schon vor dem Aufbruch zum Meer mit ihr hatte sprechen wollen, damit sie ihm vielleicht Kräutertränke brauen konnte gegen die Vergiftung, die er aus der Schwarzwachsmine mitgebracht hatte, aber sie hatte ihm ja nur von sich erzählt, von sich und Ryot und dem Kind, und so war für ihn alles andere in Vergessenheit geraten. Bis es zu spät dafür gewesen war.
Ich bin eine eigensüchtige Närrin, schalt sich Naenn. Ich bekomme lediglich ein Kind, aber Rodraeg ist furchtbar krank. Sein Los wiegt weit schwerer als meins.
Eljazokad verabschiedete sich von Alins Haldemuel, dem Kutscher, und dankte ihm für die vorzügliche Fahrt. »Ich rolle jetzt wieder in Rigurds Stall ein«, sagte Haldemuel. »Falls ihr mich also erneut braucht, wißt ihr, wo ihr mich finden könnt.«
Bestar und Naenn führten den zittrigen Rodraeg zur Tür mit dem Mammutsymbol.
»Was ist da passiert?« fragte Rodraeg und deutete auf die zerbrochene Küchenfensterscheibe, die von Cajin behelfsmäßig mit zwei zurechtgeschnittenen Brettern abgedichtet worden war.
»Das muß euch Cajin erzählen«, sagte Naenn. »Ich habe weniger als die Hälfte davon mitbekommen. Aber es ist eine recht abenteuerliche Geschichte.«
»Wo steckt Cajin?« fragte Bestar. »Warum begrüßt er uns nicht?«
»Er schläft«, erklärte das Schmetterlingsmädchen. »Er arbeitet nachts am Hafen, damit wir uns eine neue Fensterscheibe leisten können.«
»Der Verrückte!« tadelte Rodraeg nicht ganz ernst gemeint. »Für so etwas haben wir doch den Kreis.«
Sie gingen nach drinnen, wo Hellas sich schon Hände und Gesicht gewaschen hatte. »Haben wir Wein im Haus?« fragte er, unruhig durch alle Räume streifend. »Es gibt viel zu berichten, und dafür sollte man Wein haben.«
»Wir hatten …«, gestand Naenn stockend, »kein Geld mehr für Wein.«
»Dann geh los, Eljaz, hol uns ein paar Flaschen.« Hellas drückte Eljazokad fünf Taler in die Hand. »Ich würde selber gehen, aber die Garde und einige Schankwirte sind nicht gut auf mich zu sprechen, und wir wollen doch keinen Ärger.«
Eljazokad tippte sich an die Stirn und verließ das Haus. Naenn staunte, wie sicher sie auftraten, wie gut aufeinander abgestimmt inzwischen ihre Bewegungen wirkten. Einen Mond lang waren sie zusammen gereist; Rodraeg, Bestar und Hellas waren vorher schon zwei Monde gemeinsam unterwegs gewesen, davon mehr als vierzig Tage in Gefangenschaft. Das Mammut schien zu einer Einheit gewachsen zu sein, so, wie Rodraeg das immer vorgehabt hatte. Aber sie selbst, Naenn, war daran nicht beteiligt gewesen und fühlte sich nun mehr oder minder wie ein Mädchen, das neben einem Mammut steht.
Sie weckte Cajin, der so erschöpft war, daß es nicht einfach war, ihn wach zu bekommen. Aber als er die Stimmen der anderen und das Husten Rodraegs hörte, war der Junge nicht mehr zu bremsen. Er begrüßte alle überschwenglich und ging dann in die Küche, um ein Jubelmahl zu zaubern.
Naenn und Rodraeg standen für ein paar Momente allein im großen Zimmer, während alle anderen anderswo beschäftigt waren. Ob es ihnen nur so vorkam, daß alles übrige in den Hintergrund getreten war, oder ob sich das tatsächlich zufällig so ergeben hatte – es war jedenfalls nicht das erste Mal, daß sie beide einen solchen Augenblick miteinander teilten. Er hätte sie umarmen können, sie sich an ihn schmiegen. Sie wußten das beide und verzichteten vielleicht nur deshalb darauf, weil es so offensichtlich war und deshalb irgendwie peinlich.
»Wie geht es dir?« fragte Rodraeg mit warmer Stimme und entkorkte ein weiteres kleines Glasfläschchen.
»Gut soweit. Man sieht noch fast nichts. Eine kleine Wölbung nur, als hätte ich zuviel gegessen.« Sie strich sich über den Bauch. »Cajin weiß übrigens Bescheid. Ich konnte … einiges nicht vor ihm verborgen halten.«
Rodraeg lächelte und trank.
»Was ist das, was du da trinkst?« fragte sie.
Statt mit Worten zu antworten, hielt er ihr das Fläschchen hin, so daß sie daran schnuppern konnte. »Wasser?« fragte sie.
»Quellwasser aus den Kjeerklippen. Das einzige, was mir zur Zeit noch hilft. Das Kjeerhemd mußte ich wegwerfen, nach zwei Wochen fing es langsam an zu riechen. Ein Heiler namens Nerass hat mich in Tyrngan auf der Rückreise mit diesen Fläschchen versorgt, und noch mit ein paar essenzengetränkten Schwämmen dazu. Er hat sich auch um Bestars Bein gekümmert. Bestar hat einen Armbrustbolzen abbekommen in Wandry.«
»Aber ihr wart erfolgreich. Das kann man eurer allgemeinen Stimmung entnehmen.«
»Ja. Wir waren erfolgreich. Die Wale sind am Leben.«
»Das ist großartig. Ich freue mich sehr. Und was hat dieser Nerass gesagt über deine Krankheit?«
»Daß ich … daran sterben werde binnen eines Jahres. Falls kein Wunder geschieht. Ich habe zweimal Blut gespuckt. Einmal in Wandry mitten in einer Besprechung, und das zweite Mal auf der Heimreise zwischen Wandry und Tyrngan. Irgend etwas in meinem Inneren löst sich auf, und ich fürchte, im Inneren eines Körpers ist nicht allzuviel, was der Körper nicht dringend zum Leben braucht.«
»Das können auch … Wunden sein, die wieder heilen! Oder Geschwüre, die … unter Blut abgestoßen werden. Blut, das sich gesammelt hat und heraus muß.«
»Möglich. Ich habe nicht vor, mich im Bett zu verkriechen und auf den Tod zu warten. Das Ganze ist durch Magie entstanden, durch ein Zusammenwirken von Magie und Schwarzwachsdämpfen. Vielleicht gibt es auch irgendeine magische Art und Weise, das alles zu bekämpfen oder sogar wieder rückgängig zu machen.«
»Ich würde alles dafür geben, dir helfen zu können, aber ich fürchte, meine Magie ist noch nicht stark genug …«
»Du brauchst gar nichts zu tun. Möglicherweise kann mir Riban helfen.« Rodraeg verschwieg ihr, daß inzwischen einiges darauf hinwies, daß Riban Leribin für seinen Zustand verantwortlich war. »Jedenfalls habe ich mich auf der Rückreise noch ein wenig nach Ryot Melron umgeschaut und umgehört. Ich weiß, du legst keinen Wert darauf, daß ich ihn für dich finde, aber da wir nun schon in Tyrngan waren, wollte ich doch zumindest das Wenigste getan haben. Innerhalb nur eines Tages waren leider keine Ergebnisse zu erzielen, und ich hielt es dann für besser, möglichst zügig nach Warchaim weiterzureisen, anstatt einem Phantom nachzujagen. Vielleicht hat er uns ja nicht die Wahrheit gesagt, als er Tyrngan als Ziel angab.«
»Oder er hat die Wahrheit gesagt, aber sein Ziel nie erreicht. Alles mögliche kann sich ereignet haben. Ich danke dir, daß du dir die Mühe gemacht hast. Du denkst an mich, selbst in deiner eigenen Not.«
»Ich denke immer an dich. In der Not und in der Freude.«
Sie schaute ihn an. Das letzte hatte er so vor sich hingesagt wie einen Gedanken, bei dem man sich gar nicht im klaren darüber ist, daß man ihn soeben laut ausgesprochen hat.
Dann passierte alles gleichzeitig: Eljazokad kehrte mit Wein zurück, Cajin war mit der Zubereitung des Essens fertig, Bestar stürmte in den Raum, um den Tisch zu decken. Jetzt war keine Zeit mehr für Zwischentöne.
Sie genossen Cajins vorzügliches Reisgericht, und Rodraeg berichtete ihnen vom Verlauf des Wandryer Abenteuers. Wie sie einen aus dem Regenwald entführten Gefangenen befreiten, der seit mindestens acht Jahren auf dem Hauptschiff des Wandryer Stadtkapitäns gefangengehalten worden war. Wie der Befreite Vergeltung übte, indem er sich mitsamt dem Versammlungshaus des Wandryer Kapitänsrates in die Luft sprengte. Wie das Mammut anschließend mit Hilfe der Gezeitenfrau die vom Gesang des Gefangenen angelockte Buckelwalherde auf See abfing und zur Umkehr dirigieren konnte. Wie anschließend noch die Wilden Jäger auftauchten und in einem erbitterten Gefecht bezwungen wurden, und wie der Körper ihres blauhaarigen Anführers sich rätselhafterweise in Luft auflöste, nachdem er gefallen war. Um die Wilden Jäger zu erklären, mußte Rodraeg auch von der Hinreise berichten, von Dasco, der das Aussehen eines steckbrieflich gesuchten Mörders hatte, in Wirklichkeit aber ein Werwolf war, der das Leben von Kindern bedrohte. Rodraeg erzählte von dem Gefecht um Harpas Hof und von dem Kentern der Kutsche. Und wie Dasco schließlich von den Wilden Jägern umgebracht wurde, vier Gestalten, die geradewegs dem Traum entstiegen waren, den Rodraeg in der Nacht, als Naenn ihn zum ersten Mal aufsuchte, geträumt hatte: dem Mammuttraum.
Naenn und Cajin hörten staunend zu. Ab und zu sahen sie sich an, wenn das Erzählte gar zu phantastisch klang.
Auf Nachfragen hin mußte Rodraeg die Details erläutern. Daß sie auf dem Rückweg wieder auf dem Hof der Harpas Station gemacht hatten und die Lage dort in der Zwischenzeit ruhig geblieben war. Daß Eljazokad kurz nach dem Überleben einer magischen Flutwelle tatsächlich dem Stadtschiff von Tengan begegnet war, für das das Schicksal ihn bestimmt zu haben schien. Daß die Stadt Wandry die Königin mit Geld besticht, damit der Thron sich nicht einmischt in den schwelenden Konflikt zwischen den Städten Wandry und Skerb. Daß die Gezeitenfrau ihrer aller Auftraggeber Riban Leribin von früher kannte, weil sie mit ihm zusammen eine der Zehn gewesen war – so nannte sich eine Magiervereinigung, als deren Aufgabe es angesehen wurde, die fortgegangenen Götter zu ersetzen. Daß ein anderer der Zehn, ein Mann namens Zarvuer, möglicherweise Eljazokads unbekannter Vater war.
»Riban hat mir von Zarvuer erzählt, als er mich auf meine Aufgabe vorbereitete«, sagte Naenn langsam. »Er schätzt ihn als einen klugen und eigensinnigen Mann, der jedweder Form von Gewalt abgeneigt ist. Wenn ich mir Eljazokad so ansehe mit seinem entschlossenen Verzicht auf Bewaffnung, kann man tatsächlich Ähnlichkeiten entdecken.«
Eljazokad schwieg zu dieser Äußerung und leerte lediglich seinen Weinkrug.
»Willst du deinen Vater suchen gehen?« fragte Cajin. Rodraeg und Naenn wechselten einen kurzen Blick. Ausgerechnet Cajin, dessen eigene Herkunft vor ihm verborgen gehalten wurde, weil er bei einer Vergewaltigung in einem Kriegsgefangenenlager gezeugt worden war.
»Das hat Rodraeg mich auch schon gefragt«, brummte Eljazokad. »Jeder erwartet von mir, daß ich aufspringe, ›Papa, Papa!‹ rufe und ihm entgegeneile, nur weil mein bislang unbekannter Vater die Bühne betritt. Aber ich kenne ihn nicht. Ich brauche ihn nicht. Ich vermisse ihn nicht. Ich habe nicht das Gefühl, daß mir etwas fehlt, wenn ich ihm nie begegne.« Als die anderen ihn schweigend ansahen und ihm klar wurde, daß sie gefühlsmäßige Gegenargumente hatten, aber nicht wußten, ob sie sie vorbringen sollten, fügte er noch hinzu: »Mein Vater hat meine Mutter und mich im Stich gelassen, kaum daß ich auf der Welt war. Ich will ihm nicht ähnlich sein. Ich will aber auch nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, ihm keinesfalls ähnlich zu werden. So lange ich ihn also nicht kennenlerne, bin ich einfach nur ich selbst. Und wenn es mir nicht gelingt, daß ich selbst von Wert bin – dann erst habe ich tatsächlich etwas versäumt.«
Naenn wechselte elegant das Thema. »Das Stadtschiff hast du gefunden. Wie bist du mit diesem Seelenentführer verblieben?«
Der junge Magier zuckte die Schultern. »Das weiß ich ehrlich gesagt selber nicht genau. Sie haben eine Namensliste. Bevor sie dich an Bord holen, fragen sie, wer du bist. Da ich fürchtete, daß der Name Eljazokad auf dieser Liste stehen könnte, habe ich mir einen Namen ausgedacht und diesen falschen Namen genannt. Daraufhin haben sie gesagt: ›Willkommen an Bord!‹ Ich habe keine Anhaltspunkte, ob es möglich ist, diesem Schicksal zu entgehen. Aber fürs erste bin ich, scheint es, noch mal davongekommen … indem ich geflohen bin.«
»Vieles ist uns unklar geblieben.« Rodraeg hustete mehrmals und konnte erst dann weitersprechen. »Die Gezeitenfrau war ein Sammelsurium kurioser Andeutungen und Hinweise. Möglicherweise werden all diese seltsamen Wesen und Phänomene – der Wolf an unserer Haustür, dann ein gestaltwandelnder Wolfshirte, das Stadtschiff von Tengan, die vier Wilden Jäger mit ihrem fremdartigen Aussehen – möglicherweise wird all dies von uns angezogen, weil wir das Mammut sind und weil wir tiefe Spuren im Gefüge der Dinge hinterlassen. Auch Eljazokad wurde von uns angezogen und kam den weiten Weg von Skerb hierher. Erinnert ihr euch noch an diesen Heimlichgeher, der uns in derselben Nacht wie Eljazokad aufsuchte?«
»Sein Name war Raukar«, nickte Cajin schaudernd.
»Richtig. Noch so eine rätselhafte Gestalt. Der Affenmenschenfeldzug, die Schwarzwachsquelle, die daraus hervorgehende Theorie der vier Elementquellen, selbst meine Träume und die von Eljazokad – alles scheint miteinander verwoben zu sein. Riban hat uns mitten hineingeführt in einen gewaltigen Irrgarten. Nach Meinung der Gezeitenfrau ist es sehr gut möglich, daß Riban für meine Krankheit verantwortlich ist.«
»Was?« schnappte Bestar. Dieses Gespräch zwischen Rodraeg und der Gezeitenfrau hatte unter vier Augen stattgefunden. Bisher hatte er niemandem davon erzählt.
»Warum sollte Riban so etwas tun?« zweifelte Naenn.
»Wahrscheinlich war es keine Absicht«, sagte Rodraeg mit belegter Stimme und stürzte Wein hinunter, um den üblen Geschmack aus seinem Mund zu bekommen. »Er hat mich in Aldava magisch berührt, um … ja, um meinen Horizont zu erweitern. Ich sollte in die Lage versetzt werden, auch Übernatürliches besser verstehen zu können. Du erinnerst dich noch daran, Naenn: Er hielt mich für schwach, für unzulänglich. Also hat er mich … empfänglich gemacht. Was er nicht wissen konnte, war, daß ich nur kurze Zeit später einundvierzig Tage und Nächte neben der offenen Schwarzwachsquelle in Ketten liegen würde. So etwas nennt man dann wohl eine Überdosierung.«
»Aber dann mußt du nach Aldava, zu Riban«, schlug Cajin dringlich vor. »Er ist der einzige, der dir helfen kann!«
»Er hat mich schon gesehen, nach der Vergiftung, als er uns hier besucht hat, bei unserer Rückkehr aus Terrek. Er hat mich angesehen und gesagt, daß ich den Göttern nun wohl näher wäre als jeder andere von uns, aber er hat nicht den Eindruck gemacht, mir helfen zu wollen.«
»Weil er nicht weiß, wie schlimm es ist!« ließ Cajin nicht locker. »Weil er nichts vom Blutspucken und den Anfällen weiß!«
»Ich glaube, er weiß alles, einfach alles«, sagte Rodraeg ernst. »Es sind nicht irgendwelche Seemagier, die Wale sichten und dann den Kreis verständigen – es ist immer Riban Leribin. Er hat mich ohne mein Wissen verändert. Wahrscheinlich hat er Eljazokad durch Träume hierhergelockt, weil er den Sohn seines alten Widersachers Zarvuer auf unsere Seite ziehen wollte. Er verfolgt einen Plan, in den er uns nicht eingeweiht hat. Aber da ich genau so wenig wie ihr alle glaube, daß dieser Plan dem Zweck dient, uns zu schaden, habe ich für mich beschlossen, mich selbst zum Vertrauen zu zwingen. Solange Riban noch nicht in Panik gerät, solange läuft womöglich immer noch alles wie vorgesehen. Also: Entweder ist meine Vergiftung gar nicht so schlimm, wie sie sich darstellt, oder ich werde noch früh genug geheilt werden, oder mein Tod ergibt einen nutzenbringenden Sinn. Es fällt mir nicht leicht, aber ich habe beschlossen, das fürs erste so zu akzeptieren. Bis dahin werde ich weitermachen und lernen, und erst wenn ich vollkommen neue Informationen erhalte, die Riban Leribin in einem unzurechnungsfähigen oder bösartigen Licht darstellen, werde ich anfangen, mich gegen seine Lenkung zu stemmen.«
Alle schwiegen. Naenn fand als erste die Stimme wieder. »Die Gezeitenfrau hat also nicht schlecht über ihn geredet.«
»Nein, hat sie nicht. Sie war früher sogar in ihn verliebt. Kein einziges böses Wort hat sie über ihn verloren. Über Zarvuer übrigens auch nicht. Sie schätzt beide Männer als kluge und eigenständige Ausnahmeerscheinungen. Leider konnte ich nicht in Erfahrung bringen, ob Zarvuer noch lebt oder schon tot ist.«
»Zumindest vor fünf Jahren lebte er noch«, sagte Cajin und verblüffte einmal mehr alle mit seinem Wissen. »Ilde Hagelfels hat mir von ihm erzählt. Zarvuer gründete eine Geheimorganisation namens Die Dämmerung und nahm Kontakt mit Bauern, Waldläufern, Forsthütern, Bergführern und Seeleuten auf dem ganzen Kontinent auf, um die Geheimnisse der – wie er es wohl nennt – natürlichen Magie zu erlernen. Magie, die nicht von Menschen angewandt und kontrolliert werden kann, sondern die vom Land und vom Meer und vom Himmel selbst ausgeht.«
»Die Dämmerung!« Rodraeg lachte lautlos auf. »Das also meinte die Gezeitenfrau, als sie sagte: ›Hütet euch vor der Dämmerung, sie kommt noch früh genug.‹«
»Aber warum sollen wir uns vor ihr hüten?« fragte Naenn. »Die Schmetterlingsmenschen leben in Harmonie mit natürlicher Magie. Das Mammut hat einen Schmetterlingsmenschen, der Kreis hat einen Schmetterlingsmenschen. Wir stehen der Natur doch vollkommen aufgeschlossen gegenüber. Mehr noch: Wir retten Flüsse und Wale!«
»Und dennoch«, vollendete Rodraeg, »arbeiten wir für Riban Leribin, einen nicht natürlichen Magier, wie er im Buche steht. Einer, der sich sogar verjüngen wollte, um nicht altern zu müssen. Wir stehen zwischen allen Fronten, ob wir das nun wollen oder nicht. Wenn ich noch lange darüber nachdenken muß, was das alles zu bedeuten haben könnte, würde mein Kopf platzen, lange bevor meine Lunge schlappmacht. Ich will jetzt lieber endlich wissen, was es mit dem zerbrochenen Fenster auf sich hat!«
Naenn leitete mit einer winzigen Geste ihrer Hand alle Blicke weiter an Cajin.
Der Siebzehnjährige räusperte sich. Der Wein hatte seine Wangen schon gerötet. »Bevor ich damit anfange, will ich noch etwas anderes loswerden. Hier, Hellas, fang!«
Er warf etwas über den Tisch, was Hellas geschickt mit einer Hand abfing. »Was ist das denn?« fragte der Bogenschütze und entfaltete das zusammengelegte Stück Stoff. »Eine Kappe?«
»Habe ich für dich gestrickt«, grinste Cajin. »Damit du den Gardisten nicht so ins Auge stichst mit deinen weißen Haaren, wenn du in der Stadt unterwegs bist.«
»Unglaublich.« Hellas war völlig baff, mußte aber auch lachen, als die anderen alle zu kichern begannen. Er zog sich die Mütze über. Sie war aus dunkelgrauer Wolle, unverziert und bedeckte lediglich den Schädel oberhalb der Augenbrauen. »Du gibst wahrlich ein großartiges Hausmütterchen ab, Cajin, vielen Dank. Leider fällt man, wenn man mitten im Sommer mit einer solchen Mütze durch die Gegend läuft, mindestens genauso auf wie mit schlohweißem Haar. Aber wenn der Herbst kommt, werde ich dir noch mal zu danken haben.«
»Keine Ursache. Ich will ja nur nicht, daß wir Schwierigkeiten bekommen«, winkte der Junge ab. »Und damit sind wir beim Thema. Es ist vor einer Woche passiert, nach einem völlig normalen Tag. Plötzlich, mitten in der Nacht, klirrte und schepperte es in der Küche. Mein Zimmer ist ja gleich daneben, also bin ich aufgesprungen und hinübergerannt. Da lag ein Stein inmitten von Scherben, unser Fenster war kaputt, und auf der Gasse konnte ich noch zwei lachende Gestalten erkennen, die Richtung Innenstadt weiterliefen. Naenn rief von oben, was los sei. Ich habe sie beruhigt, bin in meine Hosen gesprungen und zur Tür raus. Die beiden Kerle waren schon nicht mehr zu sehen, aber ich kannte ja ihre Richtung, und auf der Hauptstraßenkreuzung habe ich sie dann gesehen, wie sie nach Süden gingen und sich gegenseitig zu diesem gelungenen Streich gratulierten. Die waren angetrunken, jedenfalls gaben sie sich keine Mühe, besonders schnell oder besonders heimlich zu sein. Als sie merkten, daß ich auf sie zustürmte, schrien sie auf und fingen an zu rennen, aber den ersten hatte ich schon gepackt, bevor er richtig begriffen hatte, was los war. Er schmiß sich zu Boden, begann zu flennen, zeigte auf den anderen und winselte nur: ›Es war seine Idee! Es war seine Idee!‹« Cajin ahmte den Furchtsamen so gut nach, daß Bestar lachen mußte. »Ich habe nicht lange nachgedacht. Ich hatte keine Waffe und auch nicht vor, mich auf eine richtige Prügelei einzulassen, aber ich wollte den Anstifter nicht einfach so davonkommen lassen. Also bin ich ihm hinterher. Und er lief vor mir weg. Das ging fast durch die halbe Stadt. Dabei sind wir wohl ein paar Gardisten aufgefallen, denn nach zwei, drei Querstraßen rannten plötzlich drei Uniformierte hinter mir her und riefen uns beiden zu, wir sollen stehenbleiben. Aber mir war doch klar: Wenn ich stehenbleibe, befassen sich die Gardisten erst mal ausführlich mit mir, und der Schurke entkommt unterdessen. Was hätte ich denn tun sollen?«
Rodraeg stützte das Kinn auf die Hand und seufzte. Sie hatten immer vorgehabt, der Garde nicht unangenehm aufzufallen, denn immerhin hatte das Mammut in Terrek gegen die Interessen der Königin gearbeitet, und es würde ihrer aller Arbeit gefährden, wenn irgendein übereifriger Bürokrat Akten aus verschiedenen Städten miteinander verglich.
»Jedenfalls«, fuhr Cajin besorgt fort, »habe ich ihn eingeholt. Ich habe ihn zu Fall gebracht und ihn zur Rede gestellt. Dann waren die Gardisten heran und umringten uns beide. Möglicherweise war das gut für mich, denn der junge Mann, der unser Fenster eingeschmissen hatte, trug einen Dolch vorne am Gürtel. Er beschimpfte mich, daß ich ihn angegriffen und überfallen hätte. Ich blieb ruhig und verwies auf das zerstörte Fenster. Dann griffen wir alle gemeinsam seinen Kumpanen auf, der alles zugab und die Schuld wieder auf den anderen schob. Anschließend besichtigten die Gardisten unser Fenster. Naenn wurde verhört und bestätigte meine Geschichte. Als der mit dem Dolch sie sah, sagte er etwas, was ich zuerst nicht verstand, aber er sagte es später noch mehrmals.« Cajin senkte den Blick. Dann schaute er fragend zu Naenn hinüber, die ihm zunickte.
»Er nannte mich«, ergänzte sie, »eine Raupenhexe. Das ist ein gemeines Schimpfwort für Schmetterlingsfrauen. Es gibt Leute, die denken, wir schlafen in stinkenden Kokons, die unter der Zimmerdecke hängen, und wir fressen uns durch Männerfleisch wie die Raupen mancher Schmetterlinge durch Salatblätter.«
»Die ganze Sache wurde von den Gardisten aufgeschrieben«, übernahm Cajin wieder die Erzählung. »Am folgenden Tag wurden wir zu Gauden Endreasis zitiert, dem Gardekommandanten von Warchaim. Ich wunderte mich anfangs sehr, warum solch eine unbeträchtliche Angelegenheit vor dem Stadthauptmann persönlich landet, aber ich wunderte mich nicht mehr, als die Identität des Dolchträgers aus den Akten verlesen wurde. Sein Name ist Cenrud Barsen. Einer der beiden Söhne von Yoich Barsen, dem wohlhabendsten Händler Warchaims und Stadtratsmitglied.«
»O nein«, ächzte Rodraeg. »Und der andere, der Feigling, war Sohn Nummer zwei.«
»Nein. Der andere Sohn war nicht verwickelt in die Sache. Der Feigling, der letzten Endes wohl den Stein geworfen hatte, heißt Velse Edelthy und ist nichts weiter als ein Saufkumpan von Cenrud Barsen. Jedenfalls war Gauden Endreasis ziemlich schnell auf unserer Seite, zumal die beiden als Grund für ihre Tat lediglich angeben konnten, Schmetterlingsmenschen und alle anderen Völker, die ihnen nicht ›normal‹ genug sind, zu verabscheuen. Sie wollen nicht, daß ›so welche‹ in ihrem sauberen Warchaim leben. Endreasis bezeichnete sie als eine Schande für die ganze Stadt und verdonnerte jeden von ihnen zur Zahlung von fünfzig Talern Strafe an das Haus des Mammuts. Gefährlich wurde das Ganze nur, als er uns plötzlich ganz nebenbei fragte, was wir eigentlich machen und was das Tier an unserer Haustür zu bedeuten hat. Ich druckste herum und sagte in etwa dasselbe, was Rodraeg damals dem Bürgermeister Tommsen gesagt hat: Wir bearbeiten rätselhafte Naturvorkommnisse. Aber Naenn setzte noch einen drauf. Sie erzählte, wir forschen auch nach ausgestorbenen Tierarten, deshalb das Mammut als Symbol. Sie hat sogar gesagt, falls die Garde von Warchaim einmal ein Problem haben sollte, bei dem sie nicht weiterkommt, könnte sie sich ruhig an das Mammut wenden, wir kämen ziemlich viel herum und trügen eine Menge Wissen zusammen.«
»Raffiniert«, lobte Rodraeg. Auch Eljazokad schmunzelte.
»So ging die ganze Sache aus«, fuhr Cajin fort. »Der Vorfall ist aktenkundig, und uns stehen noch zwei Entschädigungszahlungen zu. Da das aber dauern kann, will ich schon vorher Geld verdienen. Das Haus sieht mir zu verwahrlost aus mit der zerborstenen Scheibe.«
Alle schwiegen und ließen die Geschichte auf sich wirken. Hellas sagte als erster wieder etwas: »Sieh mal an. Das ruhige, beschauliche Warchaim.« Seine Mütze hatte er sich in die Hosentasche gesteckt.
Naenn nickte düster. »Ja. Man wirft mit Steinen nach mir. Selbstverständlich sind das nur einzelne Verwirrte, aber dennoch fühle ich mich hier nicht mehr so wohl wie vorher. Auf eurer nächsten Reise möchte ich gerne mitkommen.«
Rodraeg wand sich unbehaglich auf dem Stuhl. »Das sollten wir besser ein andermal besprechen …«
»Nein«, beharrte sie, »ich denke, wir können das gleich hier klären. Der Grund, weshalb ich bei der Wandrymission nicht mitgekommen bin, ist, daß ich schwanger bin. Im vierten Mond. Wir Schmetterlingsmenschen gebären nach sieben Monden, und im fünften Mond werden wir dick. Es ist also noch nicht soweit. Die durchschnittliche Dauer einer Mission dürfte wohl bei einem bis anderthalb Monden liegen – eine Mission kann ich noch schaffen, danach geht es fürs erste nicht mehr. Zerbrecht euch nicht die Köpfe, wer der Vater sein könnte: Ihr kennt ihn nicht. Es ist passiert, bevor das Haus des Mammuts gegründet wurde. Und – damit wollte ich warten, bis wir uns gegenseitig alles andere erzählt haben: Hier ist der nächste Auftragsbrief. Er wurde vor sechs Tagen von einem Kurier gebracht. Ich habe ihn geöffnet, für den Fall, daß darin etwas sehr Dringliches steht, aber das scheint nicht so zu sein. Es ist keine Frist genannt. Aber es klingt sehr geheimnisvoll, und ich werde auf jeden Fall mitkommen.«
Sie legte den Umschlag mit dem gebrochenen Siegel, den sie die ganze Zeit über in ihrem Kleid verborgen gehalten hatte, in die Mitte der großen Tischfläche.
Alle schauten zwischen ihr und dem Brief hin und her. Niemand wagte sich zu rühren.