2Felsgruß

Rodraeg war es schließlich, der, seiner Rolle als Oberhaupt entsprechend, den Umschlag ergriff und das darin enthaltene Pergament herauszog. Der Text bestand diesmal lediglich aus sechzehn Worten. Rodraeg las sie einmal laut vor, dann legte er den Brief so auf den Tisch, daß alle die seltsamen, an eine Keilschrift erinnernden Buchstaben sehen konnten:

EUCH FELSGRUS:

ROTER KEILER

MOWESCH

DER KONTAKTMAN:

IST EIN

SCHEMENREITER

KEIN WORT

WARTE AUF EUCH

GERIM:IR

Unter den Namen des Absenders war noch ein nicht ganz geschlossener Kreis gezeichnet, krakeliger als bei einem Brief von Riban Leribin, aber dennoch einigermaßen rund.

»Gerimmir«, stellte Rodraeg fest. »Der Untergrundmensch.«

Cajin stand auf und holte die Karte des Kontinents. »Mowesch ist ein kleines Dorf am Westrand des Wildbartgebirges, zu klein, um auf den allgemeinen Karten eingezeichnet zu sein, aber ich habe mich schon kundig gemacht. Es liegt hier, wo auf der Karte der I-Punkt des Wortes Wildbart ist.«

»Hm«, brummte Rodraeg. »Das ist nicht so eine weite Reise wie nach Wandry. Mit der Kutsche etwa sieben Tage, zu Fuß vierzehn. Hat der Kreis uns noch mal Geld geschickt?«

»Bisher noch nicht«, antwortete Cajin.

»Wir könnten Alins trotzdem fragen, ob er damit einverstanden ist, erst nachträglich bezahlt zu werden«, schlug Rodraeg vor. »Der Kreis soll sich nicht so anstellen und uns wenigstens eine vernünftige Reisemöglichkeit finanzieren, wenn er es mir schon nicht ermöglicht, meinen Männern pünktlich ihren Lohn zu zahlen.«

»Na schön«, sagte Hellas. »Der Rote Keiler ist wahrscheinlich ein Gasthaus in Mowesch. Aber was zum Henker ist ein Schemenreiter?«

Alle blickten Naenn und Cajin an, die üblicherweise das größte theoretische Wissen über den Kontinent und seine Rätsel besaßen, aber auch diese beiden konnten nur die Achseln zucken. »Ich habe schon in der Rathausbibliothek gestöbert, aber nichts darüber gefunden«, berichtete Naenn. »Absolut nichts.«

»Es könnte ein Begriff sein, den es nur bei Untergrundmenschen gibt«, vermutete Eljazokad. »Wenn das der Fall ist, können wir hier nichts darüber in Erfahrung bringen. Aber wir wissen, wo wir das können: in Mowesch.«

»Wann brechen wir auf?« fragte Bestar.

Rodraeg blickte die anderen der Reihe nach an. »Morgen früh. Laßt uns mal eine Nacht in richtigen Betten schlafen, sonst lohnt es sich ja kaum, dieses Haus zu haben.«

»Sehr gut«, sagte Bestar vergnügt. »Dann haben wir heute abend frei und können das Lunfest nachholen.« Sie hatten das Fest vor zwei Tagen verpaßt, weil zwischen Harpas Hof und Warchaim keine Ortschaft lag, die ohne beträchtlichen Umweg zu erreichen war.

»Jeder, der will, kann das tun«, erteilte Rodraeg die Erlaubnis. »Ich gehe zu Rigurds Stall und versuche, Alins erneut anzuheuern. Vergeßt aber bitte nicht: In Gerimmirs Brief steht: ›Kein Wort‹! Also erzählt niemandem etwas über die geplante Reise, und versucht auch nicht, euch nach Schemenreitern zu erkundigen. Eljazokad hat recht: Wir werden vor Ort alles erfahren, was wir wissen müssen.«

»Ich gehe einkaufen«, kündigte Hellas an. »Ich brauche neue Pfeile und neue Wurfmesser. Möchte jemand mitkommen?«

»Ich komme mit«, sagte Eljazokad. »Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mir Warchaim in Ruhe anzuschauen.«

»Ach ja«, fiel Rodraeg beim allgemeinen Aufbruch ein, »die Zimmeraufteilung ist klar, Eljazokad. Das oben im Flur hinten links ist deins.«

»In dem ich schon einmal eine Nacht schlafen durfte? Ja, sehr gerne.« Eljazokad war von Rodraeg abgelenkt worden, eigentlich hatte er mit Naenn reden wollen. »Ich möchte gratulieren«, sagte er, als er vor ihr stand, und lächelte sie warmherzig an.

Am Tisch noch selbstbewußt und bestimmt, wirkte Naenn plötzlich verlegen. Sie bedankte sich. Auch Bestar tauchte neben ihnen auf. »Wenn du irgendwas brauchst, sag nur Bescheid. In Taggaran war mal eine schwanger, die wollte dauernd mitten in der Nacht sauer eingelegten Kürbis essen und solche Sachen. Ihr Mann war andauernd am Rennen. Und am Morgen hat sie das alles wieder ausgekotzt!« Bestar lachte rauh und patschte Naenn auf die Schulter, so daß sie beinahe einknickte.

»Ich … werde es euch wissen lassen, falls ich eure Hilfe brauche«, lächelte sie.

»Und wer ist nun der Vater?« hakte Bestar unbekümmert nach. »Wo steckt er und wann stößt er zu uns?«

»Er ist … irgendwo. Wenn er überhaupt noch lebt. Das ist … nicht … weiter wichtig. Ich werde das Kind alleine bekommen und aufziehen. Das heißt: Ihr alle könnt mir natürlich dabei helfen. Bei uns Schmetterlingsmenschen nennt man Erwachsene, die auf die Kinder der anderen aufpassen, Schößlingshüter.«

»Wir werden lauter Schößlingshüter sein«, sagte auch Cajin, der ebenfalls hinzugekommen war. Nur Hellas hielt sich abseits und stopfte sich noch Essensreste in den Mund.

»Ich begleite dich zu Rigurd«, schlug Naenn Rodraeg vor. Der nahm das Angebot gerne an.

So verließen alle Richtung Innenstadt das Haus und trennten sich dann in zwei Zweiergruppen auf; Bestar machte sich alleine auf den Weg. Cajin blieb, wie üblich, zu Hause und kümmerte sich um den Abwasch.

Bei Rigurd stand zwar die Kutsche, doch Alins Haldemuel war bereits zum Ehernen Habicht weitergezogen, um sich dort ein Zimmer zu suchen. Im Ehernen Habicht hatte Rodraeg zu Beginn des Regenmonds seine Mammut-Mitstreiter angeworben. Von den vier Männern, die sich damals gemeldet hatten, waren zwei ihm gefolgt, und nur einer war noch immer dabei. War das alles tatsächlich erst drei Monde her?

»Was ist eigentlich mit Hellas los?« fragte Naenn Rodraeg, als sie sich gemessenen Schrittes auf der Hauptstraße nach Süden bewegten. »Ist er so mürrisch, weil wir ihm noch keinen Lohn zahlen können?«

»Nein. Ich fürchte eher, daß deine Schwangerschaft ihm zu schaffen macht. Hellas war verheiratet. Seine Frau wurde vor seinen Augen von Banditen umgebracht, womöglich vorher auch vergewaltigt, genau weiß ich das nicht. Womöglich erwartete sie ein Kind. Er spricht nicht darüber. Aber ich fürchte, daß Frauen und Schwangerschaften und Zukunftspläne an seinen Wunden rühren. Auf der Reise müssen wir ein bißchen behutsam sein. Hellas hat ohnehin schon ein Problem mit Nähe und kommt mit der Enge in der Kutsche kaum klar, und mit dir wird es noch ein wenig enger. Ich möchte vermeiden, daß es zu unnötigen Reibereien kommt.«

»Aber du hast keine grundsätzlichen Einwände mehr dagegen, daß ich mitkomme?«

»Ich wollte dich schon beim letzten Einsatz dabeihaben. Nur beim allerersten Mal hatte ich Bedenken, weil ich die Männer noch nicht richtig einschätzen konnte und nicht wußte, ob sie unangemessen auf dich reagieren. Inzwischen kann ich das ausschließen. Wir sind eine ziemlich gut funktionierende Einheit geworden.«

»Das merkt man, wenn man euch sieht.«

»Na ja, wir sind jetzt seit drei Monden ununterbrochen zusammen. Vier Wochen davon in Gefangenschaft. Mehrmals in tödlicher Gefahr. Das Mammut hat jetzt ein dickes Fell und Stoßzähne.«

»Aber dein Husten … Ich werde sehen, was mein Schmetterlingswissen hergibt, um dir beizustehen. Ihr wollt meine Schößlingshüter sein, und ich werde versuchen, dich zu behüten, Rodraeg Talavessa Delbane.«

Er wußte nicht, was er darauf entgegnen sollte. Sie waren angekommen. Im strahlenden Sommerlicht des frühen Nachmittags leuchtete die Ruine des Alten Tempels. Erneut fühlte Rodraeg sich von diesem Ort berührt und angeregt. Irgend etwas an diesem Gebäude sprach zu ihm, aber in einem Zungenschlag, den zu verstehen er sich noch nicht zutraute.

Sie betraten den Ehernen Habicht. Rodraeg grüßte das junge Wirtspaar und erblickte Alins Haldemuel, der an einem Tisch saß und sich ein halbes Dutzend Würstchen schmecken ließ.

»Wir könnten dich gleich noch einmal brauchen«, kam Rodraeg ohne Umschweife zur Sache. »Unser Weg führt uns zum Wildbartgebirge. Westlicher Rand. Das hier ist Naenn. Sie wird uns begleiten. Naenn: Das ist Alins Haldemuel, Slaarden Edolardes bester Mann.«

»Hocherfreut!« Alins wischte sich mit einem Tuch Mund und Hände ab, bevor er sich erhob, Naenn die Hand gab und sich dabei verbeugte. »Wir haben uns vorhin am Haus schon kurz gesehen, sind uns aber nicht vorgestellt worden. Der beste Mann bin ich wohl nicht, aber ich weiß meine Gäule zu zügeln, wenn ich das behaupten darf. Wie eilig habt ihr es zum Wildbart?«

»Nicht allzu eilig, aber trödeln sollten wir nicht.«

»Wenn wir den ganzen Weg mit der Kutsche fahren, brauchen wir etwa acht Tage. Aber wir könnten auf einem Schiff den Larnus hinunter bis Uderun fahren, das würde nur zwei Tage dauern, und von Uderun aus mit der Kutsche noch mal zwei Tage bis zum Wildbart. Vier Tage oder acht, das sind die Möglichkeiten.«

»Hmm.« Rodraeg dachte nach. Naenn wollte ihm die Entscheidung überlassen. »Das ist eine Kostenfrage. Wir müßten dich bitten, auf Vorauszahlung zu verzichten und diese zweite Reise denjenigen in Rechnung zu stellen, die auch für die erste Reise schon aufgekommen sind. Wäre das möglich?«

»He – habt ihr schon vergessen, daß ihr Harpas Hof beigestanden habt in einer Stunde der Not? Harpas Hof ist eine Versorgungsstation von Slaarden Edolarde. Das wenigste, was Slaarden Edolarde also für euch tun kann, ist, die Entlohnungsmodalitäten großzügig auszulegen.«

»Sehr gut, vielen Dank dafür. Aber eine Schiffspassage müßten wir sofort bezahlen.«

»Nun gut, aber es gäbe einen Sonderpreis. Slaarden Edolarde arbeitet nämlich mit Flußschiffern zusammen, um seinen Kunden die schnellstmöglichen Reisen anbieten zu können. Ich kenne mehrere Kapitäne, die den Larnus befahren, und würde schätzen: Ein halber Taler pro Person und Tag, plus drei Taler pro Tag für Kutsche und Pferde. Verpflegen müßtet ihr euch aber selbst.«

»Das macht elf Taler. Was meinst du, Naenn – wollen wir elf Taler ausgeben, nur um vier Tage schneller zu sein?«

»Haben wir denn überhaupt noch elf Taler?«

»Ich habe noch etwas übrig vom letzten Mal.«

»Dann laß es uns so machen. Im Brief hieß es ›Warte auf euch‹.«

»Also abgemacht, Alins.«

»Wann soll es losgehen?«

»Morgen früh.«

»Gut.« Alins stürzte sein Bier hinunter. »Dann gehe ich zum Hafen, mache alles klar mit einem Kapitän und sage euch dann in eurem Haus Bescheid, wann das Schiff morgen ablegt.«

»Großartig. Bis später dann!«

Nachdem sie den Habicht verlassen hatten, fühlte Rodraeg sich erschöpft, und sie setzten sich eine Weile auf die Bruchstücke der alten Tempelmauer. Rodraegs Kraftreserven reichten immer nur noch für kurze Unternehmungen, danach mußte er sich ausruhen und Atem schöpfen. Die Vergiftung höhlte ihn von innen unerbittlich aus wie ein Schabemesser.

»Du kannst es gar nicht erwarten, so schnell wie möglich große Entfernung zwischen dich und Warchaim zu bringen?« fragte Rodraeg lächelnd.

»Ich werde hier mein Kind zur Welt bringen, Rodraeg. Aber vorher möchte ich noch einmal hinaus. Atem schöpfen.«

»Du solltest dir diesen einen kleinen Stein nicht so sehr zu Herzen nehmen. Der Stein steht nicht für Warchaim. Der Stadtgardehauptmann steht schon eher für Warchaim, und der war auf deiner Seite.«

»Mit einer deutlichen Spur Mißtrauen gegenüber unserer Gruppe.«

»Wer will ihm das verdenken? In Terrek haben wir gegen die Königin und ihre Söldner gekämpft. Wenn das jemals herauskommt, werden wir alle gesteinigt. Aber das würde uns überall passieren, in jeder Stadt des Kontinents.«

»Vielleicht … sollten wir die Menschenstädte meiden, in den Larnwald gehen und das Haus des Mammuts im Schmetterlingshain neu gründen. Das wäre auch nicht weit entfernt von der Mitte des Kontinents.«

»Vielleicht. Aber Riban und die anderen vom Kreis werden einen Grund gehabt haben, uns in Warchaim anzusiedeln. Das wahre Heim. Die zehn Tempel. Erinnerst du dich noch daran, wie du mir das alles in glühenden Farben geschildert hast?«

Auch sie lächelte jetzt. »Das war an den Quellen von Kuellen. Damals war ich noch … unberührt.«

Rodraeg seufzte. »Weißt du eigentlich, worauf ich schon immer Lust hatte, wozu ich bisher aber noch keine Zeit fand?«

»Nein«, antwortete sie beinahe furchtsam.

»Das Badehaus! Es liegt gar nicht weit vom Mammuthaus entfernt. Ich würde mir so gerne den Straßenstaub und den Sommer abspülen und mich durchdampfen lassen bis auf die Knochen.«

»Aber ist das denn gut für deinen Husten?«

»Rauch ist schlecht. Heißer Dampf ist herrlich.«

»Dann mach das doch. Sei vorsichtig und gib auf dich acht, damit du nicht im Wasser einen Anfall bekommst.«

»Du mußt mitkommen und auf mich aufpassen.«

»Was? Nein!«

»Du wolltest mich doch behüten. Wie kannst du da also fernbleiben, wenn ich mich so sehr in Gefahr begebe?«

»Aber wie stellst du dir das denn vor? Wir können ohnehin nicht zusammen baden. Männer und Frauen sind doch sicherlich getrennt voneinander.«

»Wir können uns doch wenigstens erkundigen.«

Tatsächlich stellte sich heraus, daß die allgemeinen Badehausbereiche nach Geschlechtern unterteilt waren, aber Paare, die sich »im von den Göttern gesegneten Stand der Ehe« befanden, konnten eine gemeinsame Bottichkammer mieten. Rodraeg sagte frech, daß sie selbstverständlich verheiratet wären, und die streng gescheitelte Empfangsdame glaubte es ihnen, weil Naenn so schamhaft war.

Also teilten sie sich einen großen Bottich voll mit warmem Wasser, milden Ölen und duftspendenden Essenzen. Naenn war beim Baden von den Achseln bis zu den Knöcheln in ein weißes Tuch gehüllt, Rodraeg trug lediglich einen Lendenwickel. Aber sie teilten sich die Nähe, und wenn Rodraeg die Augen schloß, konnte er sich vorstellen, daß die Wärme, die ihn umschmeichelte, die ihre war, und der Dampf, der ihn umhüllte, ihr Atem. Sie war so verwirrend körperlich, daß alle Zeiten und Geschichten ihre Bedeutungen vertauschten.

Sie wies ihn an, ruhiger zu atmen, und übergoß ihn mit frischem Wasser.

Sie ließ sich von ihm das Haar waschen und die Kopfhaut massieren.

Er atmete ruhiger.

»Siehst du?« sagte er. »Keine Anfälle. Mein Körper fühlt sich schwerelos an, und meine Lunge hat nur wenig zu tun.«

Dann, ohne Vorwarnung, mit einer langsamen Bewegung, löste sie ihr Tuch ein wenig, so daß es ihr Dekolleté zwar immer noch bedeckte, aber ihre Flügel freigab. Über die Schulter hinweg blickte sie Rodraeg an und hauchte: »Vergiß nie, daß ich nicht menschlich bin. Schau hin und versuche zu verstehen, weshalb man mich haßt.«

Sie waren nicht verkümmert oder unterentwickelt. Sie saßen an Naenns Schulterblättern, hatten die vollendete Form von Schmetterlingsflügeln, mehrgeteilt und durchschimmernd, sie waren in sich faltbar, von einem matten, verletzlichen Rot mit himmelblau durchwirkten Rändern, und sie waren lediglich viel zu klein, als daß ein Wesen von der Größe eines Menschen damit hätte fliegen können. Jede der beiden zarten Schwingen hatte die Größe einer gespreizten Hand.

Rodraeg begriff, daß selbst Ryot Melron ihre Flügel höchstwahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hatte. Diese Flügel zu berühren, sie von einem Mann berühren zu lassen, kam einem Ewigkeitsversprechen gleich.

Er war außerstande, sich zu regen, auch, weil der umherwabernde Dampf das Ganze fast zur Unwirklichkeit verklärte. Naenn schlug ihr Tuch wieder hoch und hielt so die Farbigkeit im Zaum.

Verwundert stellte Rodraeg fest, daß er ein wenig wütend auf sie war, weil sie so berechnend mit ihm kokettierte. Weil sie ihm offensichtliche Schönheit zeigte und gleichzeitig behauptete, dies sei ein Grund zur Abscheu. Das war ein sehr plumpes Spiel, und von Naenn hatte er immer so viel mehr erwartet. Aber andererseits – und dieser Gedanke zerstreute seine Wut – war sie noch unglaublich jung. Wie konnte man von ihr verlangen, sich nicht ausprobieren zu wollen, die eigene Wirkung nicht an hilflos zappelnden Männern zu testen? Er selbst war kaum anders gewesen in ihrem Alter, und er war niemals so eine herausragende Erscheinung gewesen wie sie.

»Verzeih mir«, sagte sie jedoch zu seiner Überraschung. »Ich wollte nicht … unverschämt sein. Es gab einen Grund, weshalb ich dir das jetzt zeigen mußte. Ich vermute nämlich schon seit Tagen, daß es keine andere Erklärung für Gerimmirs Brief und seinen Gruß aus dem Wildbart gibt, als daß er uns mit Riesen zusammenführen möchte. Und ich wollte, daß du ein Bewußtsein bekommst für die Andersartigkeit der nichtmenschlichen Völker. Mögen wir auch noch so vertraut erscheinen, noch so verständlich – wir sind eben doch anders.«

»Weil du Flügel hast?« entgegnete er. »Genausogut hätte man behaupten können: Weil du schön bist. Weil du eine Frau bist. Weil deine Haut sehr hell ist und meine deutlich dunkler. Weil du noch beinahe ein Kind bist und dennoch schon Mutter wirst. Die Unterschiede zwischen dir und mir sind kaum zählbar. Aber glaubst du wirklich, diese Unterschiede gibt es zwischen Menschen nicht? Glaubst du, wir sind gleich, weil wir Menschen sind, und ihr seid gleich, weil ihr keine seid? Nein, Naenn. Du bist wie Riban, und der ist ein Mensch. Ihr denkt immer, ihr müßt mich an der Hand nehmen und mir zeigen, wie man sieht. Aber damit meint ihr es zu gut, denn: Danke schön – ich sehe und denke schon ganz ordentlich mit meinem eigenen Kopf.«

Sie schwieg und senkte den Blick.

»Als das Wort Wildbart fiel«, fuhr er fort, »habe ich auch gleich an die Riesen gedacht, die dort angeblich leben sollen. Nichts anderes Außergewöhnliches ist mir über den Wildbart bekannt. Übrigens haben wir auf der Reise nach Wandry das Tor zur Höhle des Alten Königs in der Nähe von Tyrngan besichtigt und uns schon Gedanken über Riesen gemacht. Ich traue es dem Kreis ohne weiteres zu, daß er uns zu den Riesen schickt, nachdem wir eines ihrer Heiligtümer besuchten und bestaunten. Riban weiß alles, was wir tun. Er lehrt uns, belehrt uns und führt uns. Bleib auf meiner Seite, Naenn. Der Seite der Schüler, nicht der Lehrer.«

»Ich hätte nicht mit dir … hierherkommen dürfen. Ich schäme mich nun sehr.«

»Du brauchst dich nicht zu schämen. Deine Flügel sind wunderschön. Du hast mir ein großes Geschenk gemacht, als du sie mir gezeigt hast.«

»Was ist nur mit mir los? Ich hätte Lust … mich dir ganz zu zeigen …«

»Das müssen die ätherischen Öle im Wasser sein. Sie steigen uns beiden zu Kopf. Komm jetzt, so langsam bekommt meine Lunge doch wieder zu viel zu tun. Ich muß Luft schnappen gehen. Du machst mir das Atmen nicht gerade leichter.«

Sie entschuldigte sich hundertmal bei ihm, während sie sich – durch eine dunkle Flechtholzwand voneinander abgeschirmt – abtrockneten und ankleideten, doch er nahm alle Schuld auf sich, auf seine Krankheit und auf seine Eigensucht.

Er wußte nun, daß er einen Fehler gemacht hatte, sie hierherzubringen. Die Naenn von Kuellen, das unnahbare Ideal, existierte nicht mehr. An ihre Stelle war eine aufgewühlte junge Frau getreten, die nach ihrer Identität suchte zwischen Völkern, Orten und Einzelpersonen. Er hätte sie nicht in dieses warme, lösende Wasser schwatzen dürfen, aber andererseits wurde ihm auch klar, daß es ihm wohl niemals möglich sein würde, diesen Fehler aufrichtig zu bereuen.

Alins Haldemuel war inzwischen am Haus gewesen und hatte Cajin verkündet, daß sie morgen vormittag in der zehnten Stunde für elf Taler auf einem Boot namens Kalme unter Kapitän Kliword Nönga Richtung Uderun ablegen könnten. Cajin hatte im Namen des Mammuts zugesagt.

Hellas hatte sich bei Teff Baitz und seiner Frau Lerte drei neue Wurfmesser und vierzig neue Pfeile gekauft und war im Abendlicht der Waidmänner vor die Mauern Warchaims gegangen, um auf Vogelscheuchen und Heuballen zu schießen. Eljazokad hatte er unterwegs verloren – dem Magier war das Fachsimpeln um Pfeilschaftholz und Federauftrieb zu langweilig geworden, und er streifte alleine durch die Stadt, bestaunte die zehn Tempel, den Marktplatz und das Haus der Siechen und Kranken, in dem er sich von einer Heleleschwester auch herumführen ließ. Eine halbe Stunde saß er in einem sonnigen Innenhof neben geistig Verwirrten auf einer Bank und sah gelbbäuchigen Meisen beim Körnerpicken zu.

Bestar probierte währenddessen unterschiedliche Kaschemmen durch und wurde am späten Abend im Würfelbecher unweit der Stadtmitte Zeuge eines denkwürdigen Kampfes der beiden Männer, die als Warchaims Stärkste galten. Teff Baitz kehrte dort ein, nachdem er sein Geschäft für heute geschlossen hatte, und stellte sich seinem alten Rivalen Ulric dem Schmied zum Armdrücken. Schon vorher war den ganzen Abend über gedrückt und gewettet worden, Bestar hatte ein wenig Geld gewonnen, weil er auf sich selbst setzte und ein paar Warchaimern beinahe die Unterarme aus den Gelenken hebelte. Aber um Ulrics Tisch wurde immer ein großer Bogen gemacht, obwohl es Bestar durchaus in den Fingern juckte, gegen diesen massigen, beinahe fettleibigen Kerl anzutreten. Schließlich erschien Teff Baitz, und man ging zum Hauptkampf des Abends über, der, wie Bestar erfuhr, jede Woche immer wieder aufs neue ausgetragen und entschieden wurde. In der ewigen Liste führte Ulric verhältnismäßig knapp mit 236 zu 216 Siegen. »Dafür hat Teff die schöne Lerte geheiratet und Ulric ging leer aus«, lallte ein Besoffener Bestar ins Ohr.

Der Kampf war recht kurz, aber das Drumherum war erstaunlich. Erst saßen sich die beiden Kontrahenten lange gegenüber und sahen sich schweigend an, während die Wetteintreiber den Tisch umtanzten und mit Münzen, Zurufen und Notizen jonglierten. Dann wurden zwei silberne Glöckchen auf den Tisch gestellt und mit allerlei Segens- und Bannsprüchen imprägniert. Die Tischplatte wurde gewienert, kein Krümel durfte die Ebenheit beeinträchtigen. Den Kontrahenten wurde Schnaps gereicht, Schnupftabak und Kräuterbrot. Beide aßen, tranken und schnupften schweigend. Anschließend wurde die Tischplatte noch einmal geputzt und diesmal sogar mit einem schnell trocknenden Öl bestrichen. Zwei aus Leder gefertigte schalenförmige Gebilde wurden auf den Tisch gesetzt, in diese stellten die Kontrahenten schließlich kampfbereit ihre Ellenbogen. Eine lange Reihe komplizierter Vorbereitungskommandos wurde vom Wirt intoniert. Dann kehrte mit einem Ruck vollkommene Stille ein. Teff und Ulric drückten und preßten, bis ihnen die Hals- und Schläfenadern deutlich hervortraten, Teffs Hand näherte sich langsam seinem Glöckchen, doch er bog die drohende Niederlage unerbittlich um, zog seinen Arm wieder aufwärts und drückte Ulrics in die andere Richtung, bis dessen Glöckchen als erstes berührt wurde und zart klingelte. Das Ungewöhnliche an dieser Prozedur war, daß normalerweise während eines solchen Kampfes immer geschrien, angefeuert und weitergewettet wurde, aber hier war alles andächtig und still, und nur deshalb konnte man das entscheidende Glöckchen überhaupt hören. Erst nach dem Klingeln brach die Hölle los. Die Kontrahenten trennten sich voneinander, wurden bejubelt, beklatscht, beklopft und mit Ratschlägen und Kampfeinschätzungen überschüttet. Die Tische und der Ausschank wurden wieder freigegeben, Dutzende kleinerer Ulrics und Teffs fanden sich an den Tischen zu Kampfpaarungen zusammen, um es ebenso gut oder besser zu machen. Einer spendierte eine Lokalrunde, Bestar nahm sich gleich zwei Schnäpse vom Tablett herunter und feierte mit den Warchaimern. Teff Baitz hatte auf 236 zu 217 verkürzt.

Eine halbe Stunde später zog Bestar weiter durch die Nacht. Er hatte keine Lust darauf, gegen schwächere Gegner anzutreten. Vielmehr hatte er einen leuchtenden Plan entwickelt: Da das Mammut noch lange, lange Zeit von Warchaim aus gegen die Ungerechtigkeiten des Kontinents ankämpfen würde, konnte Bestar doch in den Zweikampf mit einsteigen und einen Dreikampf daraus machen. Wenn er die beiden Schmiede Woche für Woche immer wieder besiegte, würde er in jeder Woche zwei Punkte machen, während sie immer nur einen machten. Innerhalb weniger Jahre würde er dann aufgeholt haben und mit seinen Punkten einfach an den beiden vorbeiziehen. Bestar Meckin, der ungekrönte König Warchaims. Der stärkste Mann der Stadt. So, wie es zu sein hatte.

Sein Weg führte ihn am ummauerten Anwesen des Barons Figelius vorbei. Dort schlief und träumte Meldrid, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte, und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß sie für ihn geschaffen war. Die Frau des stärksten Mannes von Warchaim.

Da er wußte, daß die übellaunigen Wachen ihn nicht durch eins der Tore lassen würden, sprang er kurz entschlossen in die Höhe, packte die Mauerkrone und zog sich hinauf. Kurz blieb er geduckt an den Speerspitzen hängen, die die Mauerkrone säumten, wartete, ob jemand etwas bemerkt hatte, schaute auch zu den unbemannten Wehrtürmen an den Grundstücksecken, schwang sich dann über die Spitzen und landete im Adelsgarten. Das Plätschern der Springbrunnen war selbst nachts zu hören.

Bestars Bewegungen waren nicht mehr ganz sicher, deshalb latschte er durch ein paar Beete und näherte sich den Gebäuden. Es gab mindestens zehn Häuser hier drin, der Adelsbezirk war beinahe so umfangreich wie der Tempelbezirk auf der anderen Seite der Stadt. Das Schloß des Barons war selbstverständlich das größte, in der Nacht von Fackeln beschienen. Meldrid schlief aber bestimmt nicht im Schloß, sondern in einem der Dienstbotenhäuser. Nur in welchem? Bestar fühlte sich verirrt und huschte in einen Ginsterstrauch, um nicht von zwei Wächtern gesehen zu werden, die plaudernd über einen gewundenen Kiesweg schritten.

Wie viele Männer der Baron wohl hatte? Es machte den Eindruck einer kleinen Armee. Möglicherweise mehr, als es in dieser Stadt königliche Gardisten gab. War der Baron königintreu oder knirschte er immer noch mit den Zähnen darüber, daß seine Vorfahren die Herrschaft über Warchaim hatten aufgeben müssen, um sich zurückzuziehen in diesen Mauerkäfig des Wohlstands und des Müßiggangs? Nur mit Mühe unterdrückte Bestar den Wunsch, laut Meldrids Namen zu rufen. Auch kam ihm die Idee, ein paar große Kiesel aufzunehmen und ein paar Fenster einzuschmeißen, so wie die Reichen es ja auch beim Mammut gemacht hatten. Ein Felsgruß von Bestar. Damit alles erschrocken durcheinanderlief wie Hühner in Nachthemden und Meldrid zum Vorschein kam, die es zu entführen galt wie eine gefangengehaltene Prinzessin vom Hof des Geisterfürsten.

Bestar kam nicht mehr weiter, aber irgend etwas mußte er doch hinterlassen. Er hätte Meldrids Namen in einen Baum ritzen können, aber jetzt, wo er beim Mammut war, kam ihm so etwas falsch vor. Naenn würde sich bestimmt schützend vor den Baum stellen. Die schwangere Naenn mit ihrem Kind, das keinen echten Vater hatte und deshalb wohl auch ohne Nachnamen würde zurechtkommen müssen. Anders als er selbst, ein echter Meckin. Bestar spuckte in einen Zierteich. Buntkarpfen glitten neugierig auf die Spucke zu und öffneten und schlossen ihre runden Mäuler, wie sein Vater, als er in seinem Blute lag und starb.

Müde schlurfte Bestar zur Mauer zurück, lauschte, ob auf der anderen Seite jemand vorüberging, und kletterte hinüber. Dann machte er, daß er nach Hause kam, in sein einsames, aber eigenes Bett.

Cajin war gerade zur Nachtarbeit zum Hafen aufgebrochen und Rodraeg war noch wach, als Bestar torkelig nach oben schlurfte und sich hinlegte.

Im Licht einer Öllampe und unter Zuhilfenahme eines ganzen Fläschchens von Nerass’ Kjeerklippenwasser hatte Rodraeg einen Bericht an den Kreis verfaßt, eine zweiseitige Zusammenfassung der Geschehnisse in Wandry und während der Reise dorthin. Auf einer dritten Seite notierte er ein paar allgemeinere Informationen, die das Mammut während seiner Mission in Wandry zusammengetragen hatte: Daß es dort kaum Gardisten gab, daß der Bürgermeister eine Marionette der Königin war und die Stadt in Wirklichkeit von einem Kapitänsrat regiert wurde, daß Wandry die Königin schmierte, damit diese sich aus den andauernden Seestreitigkeiten zwischen Wandry und Skerb heraushielt.

Nachdem er damit fertig geworden war, begann er einen persönlichen Brief an Riban Leribin.

Lieber Riban,

eine alte Freundin von Dir, die Du womöglich schon vergessen hast, gab mir in Wandry einen Hinweis. Es könnte durchaus sein, sagte sie, daß meine Vergiftung künstlich entstanden ist, weil Du mir in Aldava nicht allzuviel zutrautest.

Nun, was auch immer Deine Beweggründe gewesen sein mögenes stellt sich heraus, daß diese Vergiftung mich über die Maßen behindert und die Arbeit des Mammuts darunter zu leiden hat. Meine Lebenserwartung

Er schrieb nicht weiter. Lebenserwartung. Was für ein seltsames Wort.

Rodraeg hatte um Hilfe bitten wollen, auf dem Boden kriechen vor dem großen Magier, um Naenn, ihr Kind und das immer noch junge Mammut weiterhin unterstützen zu können, aber das kam ihm nun alles peinlich und verwerflich vor.

Stolz regte sich. Meine Lebenserwartung. Ein Jahr, hatte Nerass ihm prophezeit. Aber war Lebenserwartung nicht auch das, was man sich immer vom Leben erwartet hatte? Eine gewisse Unabhängigkeit. Die Möglichkeit, Situationen nach Kraft und Gewissen beurteilen und bewältigen zu können. Ohne um Hilfe zu flehen. Ohne sich verrechnet und verrannt zu haben. Ohne sich schämen zu müssen. Mit vielleicht sogar so etwas wie Stolz auf das Geleistete.

Er brauchte sich nicht zu schämen dafür, daß der Götternachfolger Leribin und das instabile Schwarzwachs ihn gemeinschaftlich verwundet hatten. Er konnte diese Wunde auch als Ehrenzeichen tragen, weil er immerhin nicht in Kuellen geblieben war, verschanzt hinter einem Aktenberg, umzäunt von den nur scheinbar bedeutsamen Entscheidungen der Alltagswelt.

Langsam knüllte Rodraeg das Pergament mit dem Brieffragment zusammen und warf es in die unterste Schreibtischschublade.

In der obersten Schublade lagen Reyrens Quellenkiesel, sein altes Kuellener Notizpergamentbuch und sein Rasierzeug. Nachdenklich betrachtete er diese Gegenstände.

Kurz schnappte er vor der Haustür noch frische Nachtluft, dann ging er nach oben zum Schlafen.