7 | Die Höhle des Alten Königs |
richter licht
Sie standen in der Helligkeit. Das Licht tastete sie ab, durchtauchte ihre Poren, streichelte über die Härchen auf ihren Unterarmen, hob die Falten ihrer Kleidung hervor, akzentuierte den Staub ihrer Schuhe, überstrahlte ihre Gesichter bis hin zur Unkenntlichkeit, durchmaß das Gestrüpp ihres Haupthaares, die sturmgebeugten Wälder ihrer unrasierten Kinnpartien, den feuchten Widerschein der Augen. Eine Stimme, die nicht durch ihre Ohren in sie drang, sondern die wie eine Erinnerung in ihren Köpfen aufklang, fragte:
»Wer seid ihr wer seid ihr wer seid ihr wer seid ihr?«
Sie antworteten, und das Licht strömte über ihre Gaumen nach unten, erfüllte ihr Inneres mit Neugier und Drang.
»Eljazokad.«
»Rodraeg Talavessa Delbane.«
»Bestar Meckin aus Taggaran.«
»Hellas Borgondi.«
Die Stimme fragte:
»Seid ihr bereit seid ihr bereit seid ihr bereit seid ihr bereit?«
Sie nickten oder bejahten, und das Licht wurde heller bis hin zur Erblindung, und als Bestar Meckin aus Taggaran und dann Hellas Borgondi und dann auch Rodraeg Talavessa Delbane sich zu Boden krümmten, die Hände über Ohren und Augen gekrallt, da hob Eljazokad beide Arme und trank das Licht durch seine Fingernägel, bis um sie her nur mildes Dunkel herrschte. Der Magier lächelte. Die Höhle verneigte sich murmelnd zum Gruß.
»Dies ist die Höhle des Alten Königs«, sagte die Stimme. »Um sie zu betreten, müßt ihr Höhle werden. Um sie zu verstehen, müßt ihr alt werden. Um sie zu durchmessen, müßt ihr Riesen werden. Um sie zu meistern, müßt ihr König werden. Um mir zu glauben, müßt ihr geboren werden. Wählt einen der sieben Wege.«
der sieben wesen wege
Sie blickten sich um. Das Dunkel um sie her wich einem mildgestimmten Glimmen, das golden war und staunen machte. Sie befanden sich in einer kreisrunden, mit Tropfsteinen behängten Kuppel. Gegenüber dem jetzt verschlossenen Doppelflügeltor nach draußen bildeten sich sieben Türen ab, die wie aufgemalt aussahen. Sie waren schmal, aber hoch genug für einen Riesen.
»Wählt mit Leid«, sagte die Stimme, oder vielleicht sagte sie auch: »Wählt Mitleid.« Auf jeden Fall sagte sie dann noch: »Wählt Mitleben.«
Auf den Türen leuchteten goldene Symbole auf.
Die erste Tür: ein Riese.
Die zweite Tür: ein Schmetterling.
Die dritte Tür: ein Maulwurf.
Die vierte Tür: eine Spinne.
Die fünfte Tür: ein Äffchen.
Die sechste Tür: ein Mensch.
Die siebte Tür: ein Schattengebilde.
Im Zenit der Kuppel war ein mattes Sonnensymbol mit sieben Zacken zu erkennen, vielleicht war es auch eine Art Windrose. Als Rodraeg nach oben schaute, hatte er das Gefühl, die Helligkeit der Sonne zu sehen, aber wenn er den Blick auch nur einen Deut abwandte, strahlte dort oben nichts.
»Müssen wir alle durch ein und dasselbe Tor gehen«, fragte Hellas ihn, »oder sollten wir versuchen, so viele Aspekte wie möglich abzudecken?«
»Welche vier würdest du wählen?« fragte Rodraeg zurück.
»Hm. Wenn der Maulwurf für die Untergrundmenschen steht, würde ich sagen: ein Riese, ein Schmetterling, ein Maulwurf und ein Mensch. Das sind die vier Völker, die uns geleitet und hierhergeschickt haben.«
»Aber wer von uns nimmt welchen Weg? Wer soll den Riesen mimen, wer den Schmetterling? Ich fürchte, daß wir überheblich wären, wenn wir gleich vier Wege auf uns nähmen.« Rodraeg hustete hinter vorgehaltener Hand. »Auch sind wir ja nicht vier Einzelpersonen, sondern das Mammut. Das sollten wir der Höhle so deutlich wie möglich machen. Laßt uns zusammenbleiben.«
»Ein Mammut ist gar nicht aufgezeichnet«, schmollte Bestar.
»Diese Höhle ist eben nicht für Rüsseltiere erbaut worden«, erklärte ihm Hellas.
»Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, Rodraeg«, sagte Eljazokad. »Du willst, daß wir alle durch die Menschentür gehen. Aber die Stimme sagte: ›Wählt Mitleben‹. Was ist, wenn wir also eine Tür aussuchen sollen, zu der wir uns bewußt hinwenden? Das würde bedeuten, die Höhle erwartet von uns, daß wir die Riesentür wählen.«
»Oder ich müßte die Schmetterlingstür wählen«, lächelte Rodraeg. »Die Sache ist komplizierter, als sie zuerst erscheint.«
»Es kann ebenfalls sein«, fuhr Eljazokad fort, »daß wir etwas über die Tsekoh lernen könnten, wenn wir die Tür des Schattenwesens wählten. Vielleicht sollten wir uns für Tsekoh und Affenmenschen und Spinnenmenschen entscheiden, weil gerade das die Völker sind, über die wir am wenigsten wissen. Mit denen wir am wenigsten Mitleid haben.«
»Die Stimme, die wir wohl alle gehört haben, sagte, wir müssen Riesen werden«, rief Hellas in Erinnerung. »Also sollten wir den Riesenweg beschreiten.«
»Aber wir sind keine Riesen«, beharrte Rodraeg. »Ich glaube, daß es hier immer noch um uns geht und darum, wer wir sind. Und ob wir bereit sind. Wir sind lediglich Menschen, und wir sollten nicht so tun, als seien wir mehr.«
»Jeder Idiot würde durch die Menschentür gehen!« ereiferte sich Hellas. »Bestar, sag uns: Wo würdest du reingehen?«
»Durch die Riesentür«, antwortete Bestar, »und ich bin kein Idiot!«
»Das habe ich nicht gesagt, aber ein Klippenwälder denkt geradlinig, genau so geradlinig, wie ein Grabräuber denken würde.«
»Hört auf damit«, sagte Rodraeg. »Die Höhle erfährt alles über uns, sogar, wie in unserem Viereck die Spannungslinien verlaufen. Die Höhle ist in unseren Köpfen, spricht von innen heraus mit uns. Wir können nichts verbergen.«
»Aber wir könnten etwas lernen«, schlug Eljazokad noch einmal vor.
»Ja, das ist durchaus möglich«, gab Rodraeg ihm recht. »Aber bevor ich auf den Spinnenweg gehe und unter Umständen in einen weiteren Baumspinnenbruthinterhalt gerate, werde ich mich an das halten, was ich bin und wovon ich etwas verstehe. Ich gehe durch die Menschentür. Wer kommt mit?«
»Du läßt uns die freie Wahl?« fragte Eljazokad.
»Ja. Ihr habt immer die freie Wahl. Niemand wurde zum Mammut gepreßt.«
»Ich folge Rodraeg, wohin immer er auch geht«, sagte Bestar bestimmt.
»Ich nehme die Tsekoh-Tür«, erklärte Eljazokad.
»Du bist verrückt«, schalt ihn der Klippenwälder. »Hast du schon vergessen, was der Riese über die Tsekoh sagte? Dunkelheit und … Grauen!«
»Ich will es verstehen. Die Feinde unserer Freunde kennenlernen.«
»Und du, Hellas?« fragte Rodraeg den Bogenschützen.
»Ich würde am liebsten hier draußen bleiben. Aber bevor ich alleine auf irgendwelche Irrwege gerate, komme ich lieber mit zu den dummen, dummen Menschen.«
»Dann ist es abgemacht«, faßte Rodraeg zusammen. »Ich hoffe, wir treffen uns jenseits der Türen wieder.«
»Das hoffe ich auch«, lächelte Eljazokad.
der ersten menschen weg
Der Platz des Alten Tempels in Warchaim.
Abenddämmerung.
Rodraeg erscheint, aus einer Gruft in der Ruine steigend. Seine Kleidung leuchtet marmorn.
Vier Männer warten zwischen Säulen. Bestar. Hellas. Ein zwergwüchsiger Schwarzer mit einer Kette an den Füßen. Ein kleiner Mann, nein, ein Knabe mit runzligem Gesicht.
»Wir gehen in den Habicht«, sagt Rodraeg. »Dorthin habe ich einen Tisch getragen.«
Zu fünft überqueren sie den Platz. Die Sonne versinkt und geht wieder auf. Wolken rasen über den Himmel wie eine panische Rinderherde.
Im Habicht. Alles ist rot. Am Tresen stehen Spucknäpfe, in die Kruhnskrieger Schwarzwachs speien.
Bestar betrinkt sich und trommelt sich auf die Brust. Er verwandelt sich in einen Affenmenschen und wieder zurück in Bestar.
Hellas erschießt einen tief durch den Raum segelnden Habicht. Zwei königliche Gardisten mit dem Gesicht des Wandryer Bürgermeisters fahnden nach ihm, übersehen ihn jedoch, weil Hellas plötzlich eine handgestrickte Mütze trägt.
Der kleine schwarze Mann zerfließt, wird zu Spinnen, die sich im ganzen Raum verteilen und mehrfarbig leuchtende Netze weben.
Cajin und Naenn stehen hinter dem Tresen und bedienen die Gäste.
Bestar verwandelt sich in Migal, dann wieder zurück.
»Wir sind hier, um ein Mammut zu finden«, sagt Rodraeg mit auffallend grauen Schläfen. Er zwinkert Naenn schäkernd zu, die läßt sich von einem Blauhaarigen küssen.
Ein Riese durchquert auf allen vieren den Raum und schabt dennoch mit den Schultern und dem Hintern an der Decke.
Bestar verwandelt sich in einen Riesen, dann wieder zurück.
Das greisenhafte Kind schrumpft, wird ein Embryo, dann eine Fleischfliege und summt durch ein Fenster davon, während Hellas unbemützt und braunhaarig Pfeil auf Pfeil danebenschießt.
»Wir sind hier, um ein Mammut zu gründen«, sagt Rodraeg als Fünfzigjähriger mit dickem Bauch und schütterem Haar.
Cajin trägt lachend zehn Krüge gleichzeitig auf einem einzigen Tablett.
Bestar verwandelt sich in ein Schattenwesen, dann wieder zurück.
Ryot Melron kommt durch die Tür und drückt dem jetzt greisen und wieder abgemagerten Rodraeg eine enge Königskrone auf den Kopf.
»Wir sind hier … wir sind hier, um … wir sind hier, um …«, versucht der alte König sich zu erinnern, doch das Wesentliche scheint ihm entfallen zu sein.
Bestar verwandelt sich in Eljazokad, dann in eine Lichtgestalt, dann in die Explosion eines großen Gebäudes, dann in eine siebenzackige Sonne, dann wieder zurück.
Leise weint Naenn.
der tsekoh weg
Zuerst ist da überhaupt nichts.
Dann schnappen Zähne nach ihm, die gebleckten, überlangen Gebisse von Pavianen.
Eljazokad versucht zu fliehen, wegzutauchen, doch das Dunkel ist wie flatternde Fahnen. Sein Blut bildet Sterne aus Schreien.
Endlich beendet jemand den Lärm mit der Geste eines höfischen Konzertdirigenten. Schatten wabern. Die Sonne, siebenzackig, wird in ein tiefes Grab gesenkt. Die Trauernden tragen ein irres Grinsen unter ihren regentropfenden Hutkrempen.
Wieder die Paviane, eine kreischende Meute, die um Ecken biegt, die vorher gerade waren. Eljazokad kommt mühsam auf die Beine und rennt durch dunkle Melasse. Ein stechender Geruch nach Hagebutten und Juckpulver.
Die Stadt schnappt über.
»Was machst du denn hier?« fragt eine schöne Frau mit silbernen Augen, die Eljazokad noch nie zuvor gesehen hat. »Du solltest doch längst tot sein.«
ein zwischenraum
»Eljazokad!«
Sie sammeln sich um den am Boden liegenden Magier, der schwer atmet, sich anfangs gegen die Zuwendungen wehrt, dann erst sich beruhigt. Bestar sieht sich staunend um. Eine kleine Kammer, glänzend wie sein Bernstein. Wo ist der Habicht hin?
»Wie war es bei dir?« fragt Rodraeg den sich langsam aufrichtenden Eljazokad. »Bei uns war es sehr kurios. Eine Ansammlung von Erinnerungen an das erste Treffen des Mammuts, aber alles war ganz anders. Die Personen stimmten nicht, Hellas war dabei, obwohl er in Wirklichkeit noch nicht dabei war. Migal fehlte, bis auf einen kurzen Augenblick.« Rodraeg stutzte. »Sagt mal, habt ihr eigentlich dasselbe gesehen wie ich?«
Bestar zuckte die Schultern. »Ich habe mich andauernd verwandelt, und du wurdest dick und alt und König.«
»Und ich habe dauernd herumgeschossen wie ein Blödmann«, ärgerte sich Hellas. »Das kann nicht meine Erinnerung gewesen sein, das muß deine Wahrnehmung von mir sein.«
»Ich glaube, daß alles vermengt wurde«, sagte Rodraeg. »Alles, was wir bislang erlebt haben. Aber es gab auch neue Aspekte. Warum erhielt ich eine Krone? Warum war Eljazokad nur ein Bestandteil von Bestars Verwandlungen?« Er dachte kurz nach. »Habt ihr eigentlich den Mann gesehen, der mir die Krone aufgesetzt hat?«
Bestar und Hellas nickten.
»Das war Ryot Melron. Der Vater von Naenns Kind. Jetzt wißt ihr, wie er aussieht. Falls ihr ihm begegnet, in Tyrngan zum Beispiel – haltet ihn fest.«
Wieder nickten die beiden. Dann wandten sie sich alle Eljazokad zu, dessen Atmen sich wieder gemäßigt hatte.
»Bei mir war es …«, versuchte er in Worte zu fassen, »einfach nur schrecklich. Ich habe Affen gesehen und Dunkelheit. Ich flüchtete vor Schatten und Verfolgung. Alles war verrückt. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, daß die Bedrohung gar nicht mich betrifft, aber alles um mich her, selbst den Boden unter meinen Füßen. Immerhin … am Ende durfte ich eine ausgesprochen schöne Frau erblicken.«
»War das Stadtschiff von Tengan wieder dabei?« fragte Rodraeg.
»Nein. Seltsam eigentlich. Kein Stadtschiff. Keine Mandelaugen. Kein Mammut. Niemand von euch. Ich erkannte nichts.«
»Weil du den Weg der Tsekoh gegangen bist«, vermutete Hellas. »Menschen spielen dort vielleicht keine Rolle.«
»Während bei uns alle möglichen Völker auftauchten«, sagte Bestar. »Und manche Sachen sogar lustig waren. Der dicke Rodraeg!«
»Jedenfalls … habt ihr recht gehabt«, ächzte der Magier. »Der Weg der Tsekoh ist für einen Menschen nicht beschreitbar. Zu fremdartig ist das alles.«
»Geht… weiter… zurück!«
Sie blickten sich an. Die Stimme in ihren Köpfen. Sie hatten sie alle vernommen.
Neue Türen bildeten sich ab im goldenen Glosen der Bernsteinwände. Es schienen zuerst vier zu sein, dann schoben sie sich ineinander wie Spielkarten. Jetzt war da nur noch eine einzige Tür, und da die vier Menschen ohnehin nicht wußten, aus welcher Richtung sie gekommen waren, gingen sie hindurch.
der weiteren menschen weg
Beim Betreten hatten sie das Gefühl, in das vorderste von vier transparent hintereinandergeschachtelten Zimmern zu geraten. Die hinteren waren noch sichtbar, verblaßten jedoch, als das Innenleben des vordersten Raumes aus den Schatten hervortrat.
Dies war mehr als ein Zimmer. Dies war zuerst eine Landschaft, ein schwindelerregender Vogelflug, dann ein Haus, dann das Innere des Hauses.
Die glitzernde Oberfläche des Delphiorsees. Somnicke mit dem bunten Zierturm, dann weiter südlich am Seeufer entlang. Ein Dorf im wirtschaftlichen Schatten der Hauptstadt, ungepflegt und unbedeutend. Eine winzige Hütte, schief, nur notdürftig geflickt. Innen spielen acht schreiende Kinder im Unrat. Fünf Mädchen und drei Jungen. Die Mutter trinkt und redet mit krächzender Stimme Unsinn. Ihre Worte klingen wie: »Kivut riu urb tritz gao.« Sie weist ihre Kinder übermäßig laut zurecht, aber nicht die Verursacher von Streitigkeiten, sondern die Opfer. Der Vater ist ein Tagelöhner, grau und ausgemergelt. Ein trauriger Mann mit leiser Stimme. Die älteste Tochter bringt den jüngeren Geschwistern Lesen und Schreiben bei und liest ihnen Geschichten vor. Sie achtet auf eine deutliche Aussprache, damit ihre Geschwister nicht den verschliffenen Dialekt der Eltern nachahmen. Das zweitjüngste der Kinder steckt sich etwas in den Mund, das wie Kot aussieht, aber auch eine Art Mürbegebäck sein könnte. Ein reicher Fremder mit einem von einer Kapuze verhüllten Gesicht betrachtet die Hütte, als hätte sie einen exquisiten Schauwert, und läßt rinwegesichtige Almosen über die splittrigen Holzdielen rollen. Die Kinder wimmeln auf der Jagd nach den Münzen umher wie struppige, bucklige Ratten. Die Mutter bietet sich feil. »Gao tritz urb riu kivut.« Kerzenlicht fällt unter die Kapuze des Fremden, als er über alles lacht: Es ist Rodraeg.
Der zweitvorderste Raum schiebt den vordersten außer Sicht. Eine Welt kippt aus den Fugen und wird durch eine weitere ersetzt. Eine andere Landschaft.
Die Hafen- und Glasfertigungsstadt Fairai auf halber Höhe der westlichen Küste. Die Straßen sind gerade und sauber. Eine Mutter, stolz und schön, mit ihrem einzigen, neunjährigen Sohn an der Hand. Der Junge sieht seiner Mutter ähnlich, hat dieselben großen dunklen Augen. Er betrachtet seinen eigenen Schatten, der im Sonnenlicht neben ihm herläuft und ihm Grimassen schneidet. Der Fremde mit der Kapuze kommt ihnen im flimmernden Licht der Mittagsstunde entgegen, unterhält sich freundlich mit der Mutter und streichelt dem Jungen über den Kopf. Das Gesicht des Fremden, als er die Kapuze zurückstreift, um die Mutter zu küssen, ist das von Dasco.
Der dritte Raum tritt vor, kantet den zweiten hinfort.
Die zerklüftete, dichtbewachsene Wildnis der Klippenwälder. Baum an Baum über Abhängen und Schluchten. Eine Holzhütte steht in einem rußigen Dorf. Zwei Jungen, offenbar Freunde, toben in der kargen Hütte herum mit einer Lanze, die sie dem Vater des einen entwendet haben. Ein Milchkrug geht zu Bruch. Der weiße Fleck, der sich auf dem Boden ausbreitet, zeigt den Umriß des Kontinents, wie man ihn von Karten kennt. Der Vater erscheint aus einer Kellerluke und droht, den einen der beiden Jungen, seinen eigenen Sohn, mit der Lanze zu töten. Der andere Junge geht mit trommelnden Fäusten dazwischen. Jemand pocht unerbittlich von außen an die Tür und stört den furchtbaren Streit. Der Vater öffnet und will den Fremden, der selbst nicht größer ist als ein Kind, mit seiner Lanze verscheuchen, doch der Fremde wirft ihm einen Lichtzauber entgegen und verdampft ihm so beide Augen. Der Vater windet sich mit ins Gesicht gekrallten Händen auf dem Boden. Die beiden Jungen klammern sich aneinander und sehen aus Augenhöhe in das grausame Gesicht, das in den Schatten der Kapuze liegt. Der Fremde ist kleinwüchsig, aber erwachsen, dunkelhäutig und unterernährt. Es ist der Gefangene, den das Mammut in Wandry befreit hat.
Der hinterste Raum, nun vorne und überall um sie herum.
Die Sonnenfelder. Weithin wogendes Ährengold. Die weiße Kleinstadt Abencan. Eine kleine weiße Schule. Drei weißgekleidete Kinder schreiben voneinander ab, toben dann um einen ziselierten Fontänenbrunnen herum – zwei Jungen und ein Mädchen. Sie rufen sich mit Namen: Baladesar, Rodraeg und Kiara.
Sie erhalten Unterricht in Kalligraphie und Poesie. Der hübsche Knabe Rodraeg trägt ein Gedicht vor: »Erinnerst du dich noch / an alles / was anklang? / War alles / von echtem Belang? / Es nähert sich doch / jedes Ende / dem Anfang, / je weiter / du folgst / dem Gesang.«
Eine mit einer Kapuze verhüllte Händlerin verkauft den Kindern frische Milch. Kiara macht einen Knicks vor ihr, Rodraeg und Baladesar knuffen sich gegenseitig mit den Ellenbogen und verbeugen sich dann wie junge Edelmänner. Die Fremde summt lächelnd ein Lied. Es ist Naenn.
Der Raum würfelt sich selbst ins Nichts.
ein zwischenraum
»Ich finde es zum Kotzen hier!« stöhnte Hellas. Sie stützten sich auf allen vieren auf dem kargen Felsboden ab und versuchten ihrer Seekrankheit Herr zu werden. Sie waren nicht durch die Räume geschritten, die Räume waren durch sie hindurchgewuchtet worden. Sie waren geflogen, hinabgetaucht durch Holz und Mörtel in geschlossene Räume, hatten in kurzen Geschichten verharrt und waren dann um sämtliche Achsen in eine neue Landschaft katapultiert worden.
»Naenn, Naenn, Naenn!« schimpfte auch Bestar, dem speiübel war. »Wenn du sie so sehr liebst, daß jeder Raum mit ihrem Gesicht endet, solltest du endlich um ihre Hand anhalten, Rodraeg.«
»Das ist doch alles …« – Rodraeg wurde von einem würgenden Hustenanfall durchgeschüttelt – »… nicht echt. Die Höhle … nimmt Fetzen aus unseren Köpfen und setzt sie neu zusammen. Als ich ein Kind war, war Naenn noch gar nicht geboren. Sie kann nicht als Händlerin an uns Milch verkauft haben. Außerdem … waren Baladesar und ich nicht mit Kiara zusammen in der Kinderschule. Das kam erst später, als wir schon vierzehn waren.«
»Bei mir ist auch nicht der Urwaldmann aus Wandry aufgetaucht«, bestätigte Bestar. »Das ist alles Quatsch. Die Hütte stimmt, aber ich habe niemals einen Milchkrug umgeschmissen. Niemals!«
»Und bei uns zu Hause«, meldete sich Hellas zu Wort, »ist nie ein Reicher vorbeigekommen, um uns zu beschenken. Und Rodraeg schon gar nicht.«
»Was soll das alles?« fragte Bestar. »Warum denkt sich die Höhle so was aus?«
»Bei mir stimmte alles ganz genau«, sagte Eljazokad. Alle wandten sich ihm zu. »Wir wohnten nicht in Fairai, aber einmal im Mond gingen wir dorthin zum Einkaufen. Eines Tages war da dieser Fremde mit der Kapuze, der mich streichelte. Er erkundigte sich nach dem Verbleib meines Vaters. Und er küßte meine Mutter, was mich sehr verwirrte. Bei den Göttern – es war tatsächlich Dasco! Er hatte ein anderes Gesicht damals, aber ich hatte gleich, als wir ihm in Warchaim begegneten, das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Und nicht nur von dem Steckbrief her. Es war seine … Aura. Unglaublich! Möglicherweise … bin ich eines von seinen Kindern!«
»Dasco ist Zarvuer?« fragte Rodraeg ungläubig.
»Nicht doch! Erinnert ihr euch nicht mehr an das, was Dasco erzählt hat? Daß er überall Kinder hat? Daß er mit den Müttern der Kinder die Nacht der Leidenschaft teilte? Möglicherweise sprach er von magisch begabten Kindern! Alle magisch begabten Kinder sind sozusagen Dascos Kinder. Wenn sich das Kind von Adena und Terenz Harpa, um das sich Dasco so sehr bemühte, in den kommenden Jahren als magisch begabt herausstellt, dann stimmt meine Theorie.«
»Aber wie kann die Höhle des Alten Königs solche Dinge wissen?« Rodraeg war skeptisch. »Sie nimmt Teile unserer Erinnerungen und setzt sie neu zusammen. Wie aber können unsere Erinnerungen klüger und wahrer sein als wir?«
»Weil wir die Zusammenhänge oft vergessen oder verdrängen oder einfach nicht sehen. Oder nicht wahrhaben wollen!« Eljazokad redete mit beiden Händen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Die Höhle belehrt uns über uns selbst. Wenn wir aufmerksam zuhören und zuschauen, können wir hier Wahrheiten erfahren, die von großer Tragweite sind. Wir Menschen… sind wie Herbstblätter, hilflos vorwärts trudelnd durch die tausendfachen Eindrücke des Lebens. Wir sind nicht in unserer eigenen Vergangenheit verwurzelt. Jeder Eindruck kann jederzeit abreißen, davontreiben und verlorengehen. Die Höhle jedoch ist massiv, felsig, untergründig. Sie will uns festigen, uns an uns selber binden, damit wir … wachsen können zu Riesen.«
»Bist du übergeschnappt?« fragte Bestar ganz sachlich.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Eljazokad ebenso ehrlich.
»Was auch immer: Ich finde es scheiße hier!« ließ Hellas sich nicht ablenken. »Diese verdammte Höhle soll aus meinem Kopf rausgehen und mich nicht zum Kotzen bringen. Und sie soll Nauske in Ruhe lassen. Hörst du, Alter König? Laß sie in Ruhe!« Hellas’ wütender Ruf hatte kein Echo und keinen Hall. Der Raum, in dem sie sich befanden, war klein, spröde und finster.
»Deine Schwester?« wagte Bestar als einziger zu fragen.
»Ja, meine Schwester«, schnauzte Hellas ihn an. »Ihr habt sie alle gesehen. Sie hat sich abgerackert, um uns ein Dasein zu ermöglichen, und jetzt ist sie tot, na und? Alle guten Menschen sind tot! Nur meine Mutter lebt immer noch und hurt herum. Daran will ich nicht erinnert werden. Ich will das nicht.«
Die anderen schwiegen. Jeder von ihnen hatte das Gefühl, daß man von hier aus nicht so einfach wieder hinausgehen konnte, wenn einem etwas nicht paßte. In der Wildbarthöhle, in der sie sich mit Gerimmir und den Riesen getroffen hatten, war das für Hellas noch möglich gewesen. Hier nicht.
»Reinigt euch reinigt euch reinigt euch reinigt euch«, brummte die Stimme in ihren Köpfen, und eine neue Tür bildete sich ab und wurde zu einem offenen Durchgang.
»Reinigt euch doch selber«, entgegnete Hellas wütend. Sehr leise fügte er hinzu: »Unverschämte Hexer.«
Wacklig, aber gemeinsam, gingen sie weiter.
raum der reinigung
Der nächste Raum erinnerte Rodraeg sofort an das Badehaus von Warchaim, nur daß hier das Wasser nicht künstlich erhitzt wurde, sondern offensichtlich eine heiße Quelle in einem steinernen Becken sprudelte. Es gab große, für Riesenhände gefertigte Deckelkaraffen mit getrockneten Kräuterzusätzen. Es gab sogar Badetücher, die sorgsam zusammengefaltet auf einem Stapel lagen.
»Sind die tausend Jahre alt?« fragte Bestar argwöhnisch und nahm eines der Tücher in die Hand. »Scheinen aber reißfest zu sein.«
Das Wasser roch salzig. Eljazokad tauchte zwei Finger hinein und lutschte sie ab. »Leicht salzhaltig, weniger als im Meer, und zusätzlich … ich weiß auch nicht … perlend.«
»Was meinst du, ob wir auch unsere Kleidung waschen sollen?« fragte Rodraeg den Magier.
»Ich weiß es nicht. Aber klatschnaß möchte ich in einer Höhle eigentlich nicht herumlaufen.«
»Hier sind Gewänder!« rief Bestar, der den Stapel mit den Badetüchern jetzt vollständig durchsucht hatte. »Vier Stück. Menschengröße. Wie kann das sein?« Er hielt eines der Gewänder in die Höhe: Es war ärmellos, von der Farbe einer braunen Eierschale und reichte ihm bis zu den Knien.
»Ich denke, das Wundern können wir uns hier so langsam abgewöhnen«, sagte Rodraeg. »Die Höhle weiß mehr über uns als wir selbst, und ihr steht offenbar genügend magische Energie zur Verfügung, um Räume und Gegenstände tatsächlich zu verändern. Wir ziehen das an nach dem Bad.«
»Und was machen wir mit unserer alten Kleidung?« fragte Eljazokad, der als einziger von ihnen auf so etwas wie Mode Wert legte und sich seine Kleidungsstücke nach ihrer schwarzen Farbe und der Qualität der Stoffe auswählte.
»Wir waschen sie und nehmen sie in unseren Rucksäcken mit«, schlug Rodraeg vor. »Von meiner Ausrüstung und meinen Waffen möchte ich mich nicht trennen, und ich wette, Hellas ebensowenig.«
»Nie und nimmer überlasse ich meinen Bogen diesen Hexenmeistern. Nie und nimmer!«
Sie fanden einen hölzernen Schöpflöffel, der innen am Rande des unregelmäßig geformten und möglicherweise natürlichen Beckens hing. Der aufsteigende Dampf hüllte jede Bewegung in Lagen aus Watte.
»Auauauau, ist das heiß!« ächzte Eljazokad, der sich ausgezogen hatte und als erster den Fuß ins Becken tauchte. »Seid ihr sicher, daß wir da reinsollen?«
»Ich sage euch was«, knurrte Hellas. »Die Riesen sind Menschenfresser, und wir sind das einzige Gemüse auf der Welt, das dämlich genug ist, von alleine in den Suppentopf zu steigen.«
»Nun stellt euch nicht so an.« Bestar hüpfte übermütig ins Becken und tauchte sofort ganz unter. Als er wieder auftauchte, ließ er aus seinem Mund eine Wasserfontäne sprühen. »In den Klippenwäldern gibt es einige heiße Quellen. Das ist klasse hier! Kommt, wir krümeln uns ein paar von diesen Kräutern ins Wasser. Toll! Brennesseln mit irgendwas Gelbem. Und jetzt noch davon.«
Insgesamt planschten sie eine Drittelstunde herum. Rodraeg fand das Wasser genau wie Eljazokad ein wenig zu heiß, aber die Dämpfe, die von den im Wasser gelösten Kräutermischungen aufstiegen, drangen ihm durch Nase und Mund bis in die schmerzverkrustete Lunge und lösten dort etwas, und er konnte so frei und unbelastet atmen wie schon seit Wochen nicht mehr. Hellas hielt sich argwöhnisch am Bekkenrand fest. Er stieg auch als erster wieder hinaus und begann fluchend damit, seine Kleidung im Wasser zu rubbeln, während Bestar noch immer Karaffeninhalt auf Karaffeninhalt ausprobierte, bis um ihn her die Quelle aussah wie die Palette eines Malers.
Rodraeg dachte nach über Quellen. Die dunkle und giftige von Terrek. Die klare von Kuellen. Die des Feuers im Land der Affenmenschen. Die reinigende heiße in dieser Höhle. Er dachte auch an Naenn und die mit ihr geteilte Nähe im Badehaus. Wenn sie mitgekommen wäre – hätte sie sich zu ihnen ins Becken gesellt? Oder würde sie sich zieren wie damals am Ufer des Larnus, als er testen wollte, wie gut seine neu angeworbene Gruppe schwimmen konnte und Bestar und Migal als gutes Beispiel vorangingen, während Cajin sich als Nichtschwimmer bekannte und Naenn als zu schamhaft?
Vieles hatte sich seitdem geändert. Wahrscheinlich war dermaßen heißes Wasser ohnehin nicht gut für Schwangere. Das wäre diesmal ihre Ausrede gewesen.
»Wenn du sie so sehr liebst, daß jeder Raum mit ihrem Gesicht endet, solltest du endlich um ihre Hand anhalten, Rodraeg.« Es war nicht die Stimme der Höhle, die da zu ihm sprach, sondern die Erinnerung an etwas, das Bestar vor weniger als einer Stunde gesagt hatte. Aber der Unterschied zwischen Stimmen verklärte sich in der Rückschau.
Sie wuschen ihre Kleidung, wrangen sie so gut wie möglich aus, verstauten sie in den Rucksäcken und zogen sich die Gewänder über. Wie Mönche sahen sie aus oder wie Büßer. Büßer allerdings, die sich Rucksäcke und Waffengehänge über ihre Gewänder schnallten, und einer von ihnen, der größte, sogar einen hartledernen Brustpanzer.
fliegen
Es gab nur einen Ausgang aus dem Baderaum. Wie vorher auch war der Eingang verschwunden, und eine zuerst nicht vorhandene Öffnung hatte sich statt dessen am gegenüberliegenden Ende des Raumes aufgetan.
Die nun eigentümlich gewandeten Mammutmänner drangen durch einen Gang, der heiß war, als würden die Wände glühen, weiter ins Innere des Höhlensystems vor. Hinter den Wänden rauschte Wasser. Ab und zu schienen unsichtbare Wasserstürze zu brausen. Der Gang – viel zu niedrig für Riesen – wand sich wie ein Korkenzieher durch dunkles Gestein, das dennoch eine kaum zu fassende, bräunliche Leuchtkraft absonderte.
»Schön, daß wir uns gewaschen haben, bevor wir uns in dieser Hitze wieder vollschwitzen.« Hellas war die ganze Zeit am Hadern. Keiner nahm ihm das übel, denn allen war klar, daß dies seine Art war, mit der Raumangst umzugehen, die in der brodelnden Enge an ihm hing wie tausend peinigende Eisenkletten. Selbst die anderen fühlten sich beklommen in diesem merkwürdigen Rohr, das eher unbehauen wirkte als planvoll angelegt.
Nach zehn bis fünfzehn Sandstrichen Enge kam ihnen frisch riechende Zugluft entgegen. Rodraeg befürchtete schon, daß sie jetzt nach draußen gelangen würden, weil sie die Aufgaben, die die Höhle ihnen gestellt hatte, wohl nicht erfüllt hatten, aber die Gangröhre öffnete sich nur, und sie traten auf eine Art Plateau hinaus, das sich in einem gigantischen Hohlraum befand. Hunderte von kleinen Talglichtern brannten in Hunderten von Nischen und überzogen die riesige Höhle mit samtenem Schein. Vor den vier Mammutstreitern senkte sich ein Abgrund jäh in eine unausgeleuchtete Tiefe. Auf der anderen Seite des mehr als zehn Schritte breiten Abgrunds war undeutlich ein Plateau auszumachen wie das, auf dem sie standen, komplett mit einer weiterführenden Gangöffnung.
Rodraeg mußte sofort an seinen Mammuttraum denken, der ebenfalls an einen Abgrund geführt hatte, nur daß dieser aus Schnee und Eis bestanden hatte und nicht aus schwarzem, flächig glänzenden Fels.
»Verborgen in einem Irrgarten, verdunkelt durch ein Rätsel, entfernt durch einen Abgrund«, zitierte Eljazokad den Traum, der ihn zum Mammut nach Warchaim geführt hatte.
»Was machen wir jetzt?« keuchte Hellas, der hörbar durchatmete, weil alle Wände nun in erträgliche Ferne zurückgewichen waren. »Zehn Schritte kann niemand springen, und es sieht nicht so aus, als könnte man dort drüben irgendwo Bestars Enterhaken festmachen.«
»Wie tief es da wohl runtergeht?« fragte sich Bestar, der sich vorgewagt hatte an den Abgrund. Er suchte etwas zum Hinunterwerfen, fand einen kleinen Stein, der sich von den Wänden gelöst hatte, und ließ ihn – von den anderen besorgt beobachtet – in die Tiefe fallen. Der Stein verschwand im Dunkel, fiel weiter, fiel weiter – dann schlug er klackend auf Fels.
»Fünfzig, sechzig Schritte«, schätzte Bestar. »Wie eine tüchtige Klippenwaldschlucht. Kein Wasser unten oder sonstwas Nettes. Die Wände zum Klettern viel zu glatt und steil, und fünfzig, sechzig Schritte Seil haben wir auch nicht. Wir müssen also oben rüber.« Er holte den Enterhaken aus dem Rucksack, band seine zehn Schritte Seil daran, dann noch die neuen von Eljazokad. Anschließend begann er damit, den Wurfhaken nach drüben ins Halbdunkel zu schleudern und ihn dort langsam über den Plateauboden zu schleifen, damit er sich verhaken konnte. Aber auch nach dreißig Versuchen war kein Resultat zu erzielen, also peilte er eine der über dem Zielplateau liegenden Talglichtnischen an. Beim dritten Mal traf er sie und stürzte mit seinem Haken das Licht um, so daß es erlosch, aber der Haken fand beim vorsichtigen Nach-vorne-Ziehen keinen Halt und polterte aus der Nische heraus.
Sämtliche Wurfversuche hatten Lärm verursacht, der stets als rollender Schall die gesamte Höhlenkuppel durchmaß. Jetzt jedoch blieb der Nachhall haften: als ein dunkles, bedrohliches Summen aus der Tiefe.
»Was hast du jetzt schon wieder angerichtet, du Tolpatsch?« zischte Hellas. »Mußtest du unbedingt das Licht umschmeißen, ja?«
»Mach dich doch selbst mal nützlich!« zischte Bestar zurück. »Du kannst ja mit deinem sagenhaften Schußtalent ein Seil rüberschießen. Viel Spaß dabei, alter Meckerkopf!«
»Seid doch mal still!« bedeutete ihnen Eljazokad. »Das klingt gar nicht gut. Wenn das mal keine Fleischfliegen sind.«
Hektisch holte Bestar seinen Seilhaken ein, aber noch bevor er damit fertig war, schoß aus dem Abgrund eine ganze Wolke fetter, sperlingsgroßer Fliegen und fiel über ihn her. Ihre Leiber waren mattglänzend und schwarz sowie sechsoder achtflügelig. Die Köpfe wirkten nicht wie die von Insekten, sondern sahen eher wie die von fleischfressenden Kleinfischen aus, mit Reißmäulern, die vor lauter Zähnen kaum zu schließen waren. Die Zähne jedoch waren hohle Röhren, ein insektisches, wucherndes Sauggebiß von furchterregendem Aussehen.
»Würdest du vielleicht die Güte haben, mal zu schießen?« herrschte Bestar Hellas an.
»Das sind tausend!« schrie Hellas zurück. »Mehr als neununddreißig kann ich nicht treffen, dann sind es noch 961. Hilft dir das weiter?«
»Zurück!« rief Rodraeg. »Zurück in den Gang!«
»Wir sind verloren!« jammerte Eljazokad. »Bis wir die Tür zum Baderaum erreicht haben, sind wir längst aufgefressen!«
»Los, los, los.« Rodraeg winkte die anderen an sich vorbei. Er wußte nicht, weshalb er das Gefühl hatte, seine Gefährten, selbst den viel größeren Bestar, vor dem Schwarm abschirmen zu können. Möglicherweise taumelten ihm immer noch Nerass’ Worte – »Ihr führt Gift in Eurem Atem« – im Kopf herum. Jedenfalls ließ er, obwohl er der Gangöffnung am nächsten gestanden hatte, Eljazokad, Hellas und dann auch Bestar an sich vorbei, bevor er selbst in den Gang schlüpfte. Bislang waren die Fliegen nur über Bestar hergefallen, und der hatte sie mit Händen und Füßen abgewehrt, so daß nur wenige an ihm hängende Fliegen mit in den Gang gelangten. Die große Wolke jedoch ballte und verformte sich brausend und blieb vor der Gangöffnung schweben, ohne zu folgen.
»Sie kommen nicht nach«, berichtete Rodraeg. »Wir sind hier drin sicher.«
»Sicher sind wir erst, wenn wir eine Tür zwischen uns und sie gebracht haben«, widersprach Eljazokad, der einer Panik ziemlich nahe war.
Bestar schüttelte und schlug die letzten Fliegen von sich herunter. »Verfluchte kleine Biester. Die beißen wie Ratten. Selbst an meiner Kopfhaut haben sie sich zu schaffen gemacht, trotz meiner vielen Haare.«
»Erst Spinnen. Jetzt Fliegen. Ich sollte meine Pfeile wegschmeißen und auf Zahnstocher umsatteln«, brummte Hellas sarkastisch.
Damit Eljazokad sich beruhigen konnte, gingen sie die gesamte heiße, gedrechselte Röhre bis zu ihrem Ursprung zurück. Aber dort war keine Türöffnung mehr zu finden, nichts außer einer massiven Wand.
»Das darf doch nicht wahr sein!« ächzte der Magier. »Wir sitzen in der Falle!«
»Vielleicht müssen wir nur diese albernen Gewänder ausziehen«, überlegte Hellas laut. »Die sind möglicherweise mit einem Lockstoff getränkt, den wir gar nicht riechen können, aber die um so besser.«
»Dann wären sie uns doch gefolgt, Hellas«, berichtigte Rodraeg. »Nein, ich glaube, daß wir die einzelnen Elemente dieses Rätsels falsch zusammensetzen.«
»Rätsel?« fragte Bestar. »Welches Rätsel denn?«
»Wie wir weiterkommen sollen«, erläuterte Rodraeg geduldig. »Wir können nicht mehr zurück, stimmt’s? Also erwartet die Höhle von uns, daß wir weitergehen. Wir können nicht über den Abgrund springen. Wir können nicht runterklettern oder -hüpfen und an der anderen Seite wieder hoch. Wir können keinen Haken hinüberwerfen, weil der nirgendwo Halt findet. Wir können keine Brücke bauen, weil es hier kein Material gibt. Und wir können nicht fliegen. Die Fleischfliegen aber können fliegen. Jungs – ich glaube, ich weiß jetzt, wozu diese Gewänder gut sind.«
»Du gehst doch wohl nicht zum Schwarm zurück?« fragte Hellas ungläubig.
»Doch. Ich glaube, daß wir es hier mit einer Frage der Einstellung zu tun haben. Ein Sprung des Vertrauens, wenn man so will. Wären die Fleischfliegen einfach nur hungrige Raubtiere, wären sie uns längst gefolgt und hätten uns gefressen. Sie sind etwas anderes. Wächter. Boten. Prüfer. Wenn man ihnen nicht als Beute gegenübertritt und nicht als Feind, sondern als einer, der von den Riesen gesandt Einlaß begehrt in die weiteren Geheimnisse dieser Höhle, dann werden sie einen weiterführen.«
»Wenn du dich irrst, klappert dein Skelett in den Abgrund«, brachte Eljazokad es auf den Punkt.
»Richtig. Und das macht mich zum geeignetsten Anwärter für den ersten Versuch. Da ich der einzige von uns bin mit einer Krankheit, die ohnehin binnen weniger Monde zum Tode führt, bringe ich das geringste Opfer, falls es nicht funktioniert.«
Jetzt kam in Bestar Bewegung. »Ich komme mit dir. Vielleicht kommen die Fliegen nur deshalb nicht in diesen Gang, weil es ihnen hier zu heiß ist. Hellas glaubt zwar nicht daran, daß es etwas bringt, auf sie zu schießen, aber ich glaube sicher daran, daß es etwas bringt, wie bekloppt mit dem Schwert um sich zu hauen, wenn sie anfangen, dich aufzufressen.«
»Aber …«, begann Rodraeg, sprach jedoch nicht weiter. Wenn es wirklich um einen Test des Vertrauens ging, konnte Bestars feindselige Haltung alles gefährden. Aber wie das ihm klarmachen? Und was, wenn es nicht nur darum ging, den Fliegen zu vertrauen, sondern auch den eigenen Männern? Rodraeg hatte nie damit aufgehört, sämtliche Einfälle und Gedanken seiner Weggefährten zu hinterfragen. Weil er zur Selbständigkeit erzogen worden war. Weil die Händlerseelen seiner Ahnen nichts anderes gekannt hatten als wohlbegründetes Mißtrauen. Vielleicht war es ja das, was als schwarzes Tier in seinem Inneren wütete: der Zweifel an allem und jedem, der ihn bei der Terrek-Mission auch dazu bewogen hatte, Naenn zu Hause zurückzulassen. Andererseits wiederum: was für ein Glück, daß Naenn nicht mit in Gefangenschaft geraten war. Nicht auszudenken, was das giftige Wachs ihrem ungeborenen Kind angetan hätte.
Das Rasen der Gedanken verstärkte den Druck auf seine Lunge. Er nickte Bestar einfach zu, und gemeinsam schoben sie sich zurück zur bedrohlich summenden Gangmündung. Das Licht der hundert Kerzen wurde hundertfach durch schwarzes Hagelgestöber durchbrochen.
Rodraeg hatte Angst. Sich diesem zahnbewehrten Sturm auszusetzen, nur weil eine innere Stimme ihm erzählte, daß die Riesen vertrauenswürdig seien, widersprach all seinen Lebensgrundsätzen. Auch wußte er nicht, ob er sein Vorhaben mit Schwert und Rucksack wagen konnte oder ob das zusätzliche Gewicht sein Scheitern herbeiführen würde. Aber wer von ihnen sollte die Ausrüstung über die Schlucht werfen, ohne bereits von den Fliegen behelligt zu werden? Dazu war es jetzt zu spät.
Nach einem letzten Blick zu dem mit gezogenem Schwert auf der Unterlippe kauenden Bestar löste Rodraeg sich von der Wand und trat hinaus in das Chaos des Raubinsektenschwarms. Er streckte die unbewaffneten Hände nach oben und sagte: »Bitte tragt mich hinüber.«
Die Fliegen fielen über ihn her wie Aasgeier über ein verendetes Vieh. Für einen furchtbaren Moment glaubte Rodraeg, sich ganz idiotisch geirrt zu haben, aber dann spürte er, wie die Fliegen sich in sein Gewand, seinen Rucksack und sogar in die Umhängetasche verbissen, in der er seinen Anderthalbhänder spazierentrug. Sein Gesicht und seine nackten Arme und Unterschenkel wurden zwar von knisternden Chitinleibern berührt, nicht jedoch verwundet. Das Gewand wurde von Hunderten von Schnappmäulern gepackt und gezogen, bis es Rodraegs Leib ganz einschnürte. Dann hob ihn der Schwarm an, trug ihn über die Schlucht und setzte ihn auf der anderen Seite sanft wieder ab.
Rodraeg hustete und lachte gleichzeitig. Als die Felskante unter ihm fortgeglitten war und er mit ausgebreiteten Armen ungesichert über dem Abgrund schwebte, war ihm der Atem weggeblieben und ein unglaubliches, schwindelerregendes Gefühl vom Unterleib in den Kopf geschossen, so daß er sich auch jetzt noch ganz trunken fühlte. »Beeilt euch!« rief er abwechselnd lachend, winkend und keuchhustend seinen im fernen Höhlengang kauernden Gefährten zu. »Macht es wie ich! Traut euch einfach und laßt euch tragen! Es ist großartig!«
Bestar war der erste, obwohl er als einziger schon von den Fliegen angegriffen worden war. Er vertraute auf Rodraeg, lief nach vorne zum Rand, reckte die Arme hoch, rief: »Tragt mich bitte auch!« und wartete ab. Die Fleischfliegen kamen, packten ihn und hatten nicht mehr Mühe als mit dem verhältnismäßig leicht gebauten Rodraeg. Eljazokad folgte als nächster, bleich zwar und mit fest zusammengekniffenen Augen, aber als er auf der anderen Seite ankam, ordnete er seine stachelige Frisur und lachte genauso überspannt wie Rodraeg und Bestar.
Zum Schluß blieb nur noch Hellas drüben. Die Fliegen waberten über dem Abgrund, warteten eine Entscheidung ab.
»Jetzt seid ihr zu dritt. Wirf mir deinen blöden Wurfhaken rüber, Bestar.«
»Du kannst dich einfach tragen lassen, Hellas«, antwortete Bestar. »Sieh doch: Sie tun uns auch jetzt nichts.«
»Ich traue keinen Scheißhausfliegen, auch wenn sie noch so freundlich grinsen. Werft her und holt ein, während ich springe.«
»Bei den Göttern, laß den Quatsch!« beschwor ihn auch Rodraeg. »Du gefährdest dich völlig unnötig!«
»Ich traue euch. Das ist schon mehr, als je zu erwarten gewesen wäre.«
»Also gut.« Bestar warf ihm den Haken hinüber und hielt das andere Ende des zwanzig Schritte langen, immer noch aus seinem und Eljazokads Stücken zusammengeknoteten Seiles fest um die Rechte gewickelt. Hellas lief geduckt aus dem Eingang, wich den Fliegen ein Stück weit aus, griff sich im Rennen den Haken vom Boden und sprang. Bestar wickelte sich das nachgelassene Seil so schnell wie möglich um Ellenbogen und Handfläche seines linken Armes herum, während Hellas durch die Luft flog, damit der Bogenschütze nicht zwanzig Schritte tiefer gegen die Felswand prallte. Eljazokad und Rodraeg ihrerseits hielten Bestar am Gürtel fest, damit dieser den bevorstehenden Ruck abfangen konnte.
Acht der zwanzig Schritte konnte Bestar verkürzen. Drei Schritte stand er vom Abgrund entfernt. Hellas krachte also in neun Schritten Tiefe gegen die hintere Felswand, konnte aber mit den Füßen und angewinkelten Beinen den Aufprall annähernd schmerzfrei abfedern. Den Haken hielt er mit nichts weiter als seinen wohlgeübten Bogenspannfingern.
Der Ruck riß Bestar noch mal einen Schritt nach vorne, dann stand er – auch dank Eljazokads und Rodraegs Hilfe – fest, und zu dritt konnten sie das Seil nun hochziehen, indem sie rückwärts gingen.
Hellas kletterte aus eigener Kraft über die Kante. Dem Bogen über seinem Rücken war nichts passiert.
Die Fleischfliegen ließen den Weißhaarigen in Ruhe, ballten sich über dem Abgrund und stießen dann wie eine flirrende Faust nach unten ins Abgrunddunkel, wo ihr Summen verhallte.
Das Mammut war bereits in den nächsten Gang vorgedrungen.
ein zwischenraum
Eine Stimme raschelte in ihren Köpfen wie Käfer im Laub:
»Laßt euch leiten
ihr müßt weiterschreiten
müßt euch vorbereiten
euch zu Riesen weiten.«
»Na wunderbar«, sagte Hellas. »Da haben wir aber Glück, daß diese Höhle nicht von Gnomen erbaut wurde.«
»Du hast wirklich was verpaßt«, versuchte Bestar ihm immer noch zu vermitteln. »Wir sind tatsächlich geflogen! Über eine Schlucht hinweg! In voller Rüstung!«
»Mit tausend Flügeln, die nicht die unseren waren«, vollendete Eljazokad lächelnd.
Für Rodraeg endete, da über Flügel gesprochen wurde, auch dieser Raum wieder mit Naenn.
das riesenwerden: hinab
Ein schmaler Gang führte abwärts, wurde dabei flacher und dunkler.
Als sie nichts mehr sehen konnten, entzündeten sie ihre Laternen. Der Gang wurde so steil, daß sie auf dem Hintern rutschen mußten. Mit schwindelerregender Unerbittlichkeit kippte der Boden immer weiter, so daß es ihnen schwerfiel, den Punkt zu erkennen, an dem das Rutschen in einen Sturz übergehen würde. Schließlich begannen sie zu klettern, Bestar voran, der sich am sperrigen Rodraeg vorbeigedrängt hatte, um ihn im Falle eines Sturzes abfangen zu können. In der einen Wand des Schachtes, in den der Gang sich gemächlich verbogen hatte, entdeckte Bestar regelmäßige Furchen, die ein Greifen und Hinabklettern fast wie bei einer Leiter ermöglichten.
»Seid ihr sicher, daß wir nicht falsch abgebogen sind?« fragte Hellas, dem das Klettern von allen am leichtesten fiel. »Hier sieht es eher so aus, als würde es zu den Untergrundmenschen gehen als zu den Riesen.«
Sie kletterten weiter und erreichten mit schmerzenden Fingern nachtdunklen Grund.
das riesenwerden: dunkel
Hier war kein Licht, kein Klang, keine Wände an den Seiten. Die Laternen, selbst die beunruhigt entzündete Fackel waren ausgestanzte Löcher ohne jeglichen Schein. Die Atemluft schien von Schwärze erfüllt. Der feste, felsige Boden war nicht mehr als Watte oder Schaum, Schlamm oder eine Aufschüttung aus kleinen Kügelchen.
Rodraeg verlor hier die Orientierung, er wähnte, das Schwarz aus seinem Leib sei ihm über die Lippen nach draußen gequollen und würgte die ganze Welt. Hustend knickte er ein, doch sein Husten war so leise, so weit entfernt, daß er selbst es nicht mehr hören konnte. Blind tastete er nach Nerass’ helfendem Salz und roch daran, doch er roch nichts.
Eljazokad rettete ihnen möglicherweise allen das Leben. Er forschte nach Licht, fand es zuerst in sich selbst, dann in einer ganz bestimmten Richtung dieses unbestimmten Raumes, und zweigte von der Kraft und dem Pulsieren des ihm innewohnenden Lebens einen Widerschein ab, in den er sich hüllte wie in eine Decke, so daß die anderen ihn sehen konnten als einen geisterhaften Umriß vor der Verlorenheit des Alls. Dann faßte er sie bei den kleinen und angstfeuchten Händen und führte sie dem fremden Leuchten entgegen, dessen Puls dunkler war und schwerer als der seine.
das riesenwerden: licht
Sie gerieten in ein Leuchten, das ganz anders war als das Blenden des ersten Raumes hinter dem Eingangstor. Dieses Leuchten vervollständigte das Dunkel zu etwas beinahe Greifbarem, auf dem sich aufbauen ließ.
Fragen verließen ihre Lippen und verwehten in einem zarten Dunst, der sich ähnlich anfühlte wie Hoffnung oder Sehnsucht oder Melancholie.
Eljazokad trank sich satt an diesem Licht. Er spürte, wie letzte Webfasern des Spinnengiftes in ihm sich auflösten und seinen Blutkreislauf fortan eher bereicherten denn beschwerten. Er spürte auch, wie Erinnerungen an die von einer unnatürlichen Flutwelle überschwemmte Nacht des Stadtschiffes in einen milderen Glanz getaucht wurden, wie das Stadtschiff selbst sich nicht mehr in Seeigel hüllte und scharfkantige Korallen, sondern in Seesterne und Schwämme. Er spürte, wie der Wolf, der sein Vater war, und sein anderer Vater, jener kritische alte Mann, der die Dämmerung gegründet hatte, sich begegneten in einem tiefverschneiten Wald im Sonnenglitzern eines klaren Frostmondtages.
das riesenwerden: leben
Sie hörten ein Herz. Vier Herzen. Ihre Herzen. Größere Herzen als ihre.
Ihre Herzen wurden größer. Die acht Herzen wurden vier.
Begannen neu zu schlagen. Oder begannen erst wirklich zu schlagen im ersten Moment des bewußten Hörens.
Sie hörten wieder.
Die Welt war Schleim, aber dieser Schleim war erfüllt vom Gesang winzigster Kreaturen.
das riesenwerden: geburt
Alle Farben wurden Rot.
Das Schlagen der Herzen ging über in wildes Trommeln.
Neue Gesänge: die kehligen Stimmen von Eltern.
Sie wurden gepreßt und gezogen in eine neue Welt, hervorgebracht aus Wärme und Heimeligkeit in eine alles beherrschende Unheimlichkeit. Gehüllt in Decken, hochgehoben in den Himmel von stolzen, vollbärtigen Gesichtern, gedrückt an gewaltige, milchige Brüste.
Bestar ließ sich das nicht zweimal sagen und griff herzhaft zu.
Rodraeg war schwindelig. Er wollte husten, um sich selbst zu bestätigen, und brachte nicht mehr als ein krähendes Sabbern hervor.
Eljazokad gluckste wohlig.
Hellas weinte und zeterte und wollte sich auch durch Schaukeln und Rückentätscheln nicht beruhigen lassen.
das riesenwerden: kindheit
Es gab Spielräume. Auf in den Grund gezeichneten Mustern wurden farbig bemalte Steine gezogen. Gewürfelt wurde mit Kleintierknochen.
Der kleine Helasborgok und der kleine Rodrachdelban rollen sich irgendwann raufend am Boden. Bestarmekin, der von Anfang an das größte ist unter den Riesenkindern, geht dazwischen.
Dann ist Schule. Auf einem weiten Feld, aus Holz erbaut. Der Wildbart ist nirgendwo zu sehen. Eljatsokan tut sich hervor, kann alle Namen der Könige auswendig aufsagen und Lieder singen in der alten Sprache. Der Lehrer ist uralt und hat einen weißen Bart, der bis zum Boden reicht. Pflanzen werden bestimmt und die Namen von Tieren. Nicht die Namen von Tiergattungen, sondern die einzelner Wesen, die tatsächlich alle unterschiedlich aussehen.
Rodraeg versuchte, Distanz zum Gezeigten/Gesehenen/Erlebten zu bewahren, indem er darüber nachdachte, ob das hier die Vergangenheit war oder ein Wunschtraum von der Zukunft, denn es gab viele Riesenkinder in dieser freien Schule, und dennoch wurde den vieren, die sich zur Mammutbande zusammengeschlossen hatten, besonderes Augenmerk zuteil.
Es mußte die Vergangenheit sein. Die Höhle war vor tausend Jahren eingerichtet worden.
Während Rodrachdelban wuchs und die Räume und Bäume um ihn her schrumpften, hoffte Rodraeg darauf, ein Mammut zu erblicken.
das riesenwerden: liebe
Mädchen sind rar. Bestarmekin, Rodrachdelban und Helasborgok bemühen sich um dasselbe Riesenmädchen. Nur Eljatsokan hat das Glück, daß sich gleich zwei Mädchen für ihn interessieren, wahrscheinlich, weil er so schön singen kann.
Das mit dem Bartwuchs ist ein Problem. Ohne Bart nehmen einen Mädchen nicht für voll. Bestarmekin hat die Idee, sich seine Kinnfusseln leuchtend rot zu färben. Ihr Mädchen geht mit ihm spazieren. Er versucht sie zu beeindrucken, indem er einen umgestürzten Baum wieder aufrichtet und so tut, als wäre alles wieder in Ordnung.
Rodrachdelban behauptet, auf Mammutjagd zu gehen, um eine Trophäe mit zurückzubringen, aber in Wirklichkeit will er nur ein Mammut sehen. Er durchstreift Wälder und begegnet einer Einhornherde mit gescheckten Fohlen und einem jungen Fliederwurm, der seinem eigenen Schwanz nachjagt, aber Mammuts sind nicht zu finden. Aber auch keine Menschen oder Städte.
das riesenwerden: haß
Urplötzlich hat der Krieg begonnen. Krieg gegen Menschen, die in Überzahl wimmeln, Krieg aber auch gegen Schmetterlingsmenschen, Untergrundmenschen, Spinnenmenschen und Affenmenschen, die alle auch nur Menschen sind in mehr oder weniger gelungenen Verkleidungen.
Nur die Tsekoh sind anders. Sie sind strahlend schön und blenden mit den Schatten, die sie werfen wie Waffen.
Bestarmekin und Helasborgok tun sich hervor. Bestarmekin verteidigt seine kleine Familie, führt die Armee der Riesen an und schlägt mit seinem gewaltigen erzenen Schwert ausgefranste Schneisen in die Heere der Gegner. Helasborgok findet Wege im Gebirge, auf denen die kostbaren Frauen und Kinder den Häschern entgehen können. Mit einem tragbaren Katapult tötet er Haarjäger in großer Zahl.
Eljatsokan und Rodrachdelban, Legendensänger und Zeichenzauberer der eine, Steinschriftschreiber und Gedenkenbewahrer der andere, müssen mit dem Zug der Fliehenden die Mühlentäler preisgeben. Die Tsekoh läuten zum Ende der Zeit. Der Versuch Rodrachdelbans, einen dauerhaften Frieden auszuhandeln, scheitert an den blutigen Hängen des Wildbarts.
das riesenwerden: verbitterung
Die Riesen sind Ungeheuer geworden. Sie ernähren sich vom Fleisch der Menschenkinder und verbringen ihre Zeit mit dem Betrauern der Gefallenen und dem Beweinen des Verlorengegangenen. Eljatsokan singt an den Gräbern von Bestarmekin und Helasborgok, Rodrachdelban erfindet Geschichten, um ein Lächeln in die Augen seiner wenigen Zuhörer zu zaubern.
Alles Lebendige, das begegnet, wird vertilgt.
das riesenwerden: der raum ohne ausweg
Rodrachdelban ist närrisch geworden, Eljatsokan ein gebeugter Riesengreis, der keine Erinnerung mehr bei sich behalten kann.
Rodrachdelban tanzt und lacht und singt mit krächzender Stimme von seiner Liebe zu einem Schmetterlingsmädchen. Eljatsokan schließt seine Augen in kalter, schneestürmischer Nacht.
Rodrachdelban ist ganz allein geblieben. Das Entsetzen über diese Erkenntnis schnürt ihm Tanz und Lachen ab.
Obwohl es ihnen nicht bewußt geworden war, mußten sie wohl eine Abfolge von Zimmern durchquert haben, denn nun ging es nicht mehr weiter. Dieser Raum hatte nur den Eingang, durch den sie ihn betreten hatten.
»Sind wir falsch abgebogen?« fragte Eljazokad.
»Laßt uns zurückgehen und einen anderen Weg finden«, schlug Rodraeg vor. Die Erinnerung an sein eigenes erschrokkenes Greisengesicht suchte ihn heim.
das riesenwerden: verbitterung
Die Riesen sind immer noch Ungeheuer. Aber sie fressen kein Menschenkinderfleisch; das sind womöglich nur Geschichten, die Menschen ihren Kindern erzählen, damit diese ihre Suppe aufessen. Die Riesen fressen Traurigeres: mit Wasser und einem Schuß Ziegenmilch gestreckten Haferschleim, und nur wenn einer Jagdglück hatte, Marksuppe.
Sie verbringen ihre Zeit mit dem Betrauern der Gefallenen und dem Beweinen des Verlorengegangenen. Doch Bestarmekin und Helasborgok sind noch am Leben, Bestarmekin hat zwar ein Bein verloren und Helasborgok ein Auge, doch sie leben. Etwas muß anders gelaufen sein im Krieg. Eljatsokan singt andere Lieder, Rodrachdelban erfindet Geschichten, die kunstvoll sind und weniger vorhersagbar.
das riesenwerden: haß
Die Mühlen brennen. Selbst die Mühlräder, die durch die Wasser des Larnus pflügen, schlagen Funken.
Es sind diese vier – Helasborgok, Bestarmekin, Rodrachdelban und Eljatsokan –, die den Krieg gegen die gleißenden Schatten, die wurmartigen Heere und Verbände der uniformierten Menschen und die ungezähmt brüllenden Horden der Affenmenschen verlorengeben und verbündet mit den Untergrundmenschen und sogar zwei oder drei Schmetterlingsmenschen ihr Volk in die verborgenen Grotten des Wildbartes führen.
Aus diesen vieren entsteht ein neuer Riese, ein König namens Hebesroel oder Lastardrachjat oder Bormedelso oder Gokkinbankan oder einfach: Rulkineskar. Er lacht ins Angesicht des Untergangs. »Wir sind ein altes Volk«, sagt er. »Nun bricht für uns ein Dunkel an, doch das Zeitalter des Menschen wird kommen und gehen, und wenn es gegangen ist, wird es immer noch den Riesen geben. Vieles wird in dieser Zeit in Vergessenheit geraten, doch dieses Zepter, seht her, dieses Zepter!« Er hält einen Stab in die Höhe, der so hell und plastisch ist, daß man ihn nicht erkennen kann. »Dieses Zepter wird das Vergessene in sich bewahren und uns Riesen befähigen, den weitgefaßten Plan der Götter zu Ende zu führen.« Der alte König nimmt den Stab und formt eine Höhle um ihn herum und um diese Höhle einen Berg, und er schmiedet sieben Schlüssel und reicht je einen dieser Schlüssel den sieben Menschenarten, auch den Tsekoh, und die Tsekoh nehmen ihren Schlüssel und erstechen damit einen Gott, und fünf der anderen Menschenarten verlieren ihre Schlüssel auf der Suche nach den Kleinigkeiten des Alltags, lediglich die Untergrundmenschen bewahren den ihren in einer herzförmigen Kaverne, und der alte König Rulkineskar schließt die Augen und wartet darauf, geboren zu werden.
das riesenwerden: erwiderte liebe
und Bestarmekin findet eine Gefährtin, die Meldrid ähnelt und Eljatsokan findet eine Gefährtin, die Ronith ähnelt und Rodrachdelban findet eine Gefährtin, die Naenn ähnelt und Helasborgok findet eine Gefährtin, die Saciel ähnelt und sie finden heraus, daß sich alles nur um die Frauen
dreht, weil es nur noch wenige gibt, und daß Kinder das
größte Geschenk sind, das die Riesen kennen
das riesenwerden: leben und lernen
Sie gründen Familien und leben im Wildbart.
Sie lernen, die rauchenden Kessel zu bereiten, die Pilze der Weissagung zu kauen und in den Wangen wirken zu lassen, die Wände der Grotten mit Gemälden zu verzieren, aus störrischem Holz feine Körbe zu flechten, Gebirgsziegen zu halten und zu melken, die Wege der Menschen zu meiden, in den Schründen des Gebirges zu klettern, Lawinen zu lenken, eine Wassermühle zu bauen und zu nutzen, im jährlichen Baumstammwerfen siegreich zu sein, die Farben der Familien in den Haaren, dem Bart und dem Gesicht zu tragen, die Losung und Spur von Wild zu lesen, mit Speer und Keule zu jagen, die Haut erjagter Tiere zu gerben und daraus Kleidung und Schuhwerk zu fertigen, die Steinschrift mit Keilen zu meißeln, aus dem Flug der Vögel auf das kommende Wetter zu schließen, den Tanz der dreibeinigen Paare zu tanzen, die Geschichten um Rulkineskar und seine menschliche Entsprechung Irinweh zu erzählen, gegen die Tsekoh wachsam zu sein, den zehn Göttern wohlriechende Kräuter zu opfern, den alten Bergbären Wildblütenhonig zu schenken, den letzten Drachen bei der Reinigung zu helfen, die siebentönige Sackflöte zu spielen, mit den Unsteten Tauschhandel zu treiben, das Spiel mit den bunten Steinen und den Knochenwürfeln zu spielen, Maulbeerkompott mit braunem Krustenzucker einzukochen, siebeneckige Getreidefelder nach den Regeln des Himmels auszurichten und zu bestellen, Fackeln zu fertigen mit Pechschlamm und Werg, das Fieber der Kranken zu bändigen und sachte zu lenken, die Frauen zu beschützen vor den Gefahren der Bergwelt, die Kinder zu unterweisen und in ihrem Riesenwerden zu unterstützen, im Eis der Bergseen zu fischen, den großen alten Bäumen Gebete zuzusprechen, die felsigen Grabmäler der Gestorbenen zu pflegen, die Behausungen um neue Stollen und Gänge zu erweitern und dabei Bernstein zu ernten, so wie Winzer Trauben ernten würden.
das riesenwerden: alter
Sie lernen durch tausend Runzeln zu lächeln, den Kleineren beim Riesenwerden zuzuschauen und die Behausungen mit langsameren Bewegungen zu durchmessen.
Sie lernen, Räte zu bilden, den Rat der Vier, den Rat der Sieben, den Rat der Zehn und schließlich den Rat der Einhundert.
Sie lernen, Aufgaben, die unabdinglich scheinen, an andere abzutreten, und Teile des langsamen Weges mit den Angehörigen der anderen Menschenvölker gemeinsam zu gehen.
Sie schließen Bündnisse.
das riesenwerden: tod
Sie schließen die Augen.
Rodrachdelban stirbt als erster, an einem schrecklichen Husten, der immer wieder wie ein Raubtier über ihn herfällt, ihn schwach und klein macht für einen Riesen, und ihn schließlich erlöst.
Helasborgok stirbt wenige Wochen nach seiner über alles geliebten Frau, obwohl ihm gesundheitlich nichts fehlt.
Eljatsokan kommt, bereits ein leicht verwirrter Greis, in einem Schneerutsch ums Leben, weil er einem mandeläugigen Kind, das außer ihm niemand sehen kann, hinterhertaumelt in den blendendhellen Winter.
Bestarmekin überlebt die anderen um Jahrzehnte, schlohweiß, wortkarg, weise und auf Lebenszeit der Größte von allen. Er wacht über die Jüngeren und weigert sich zu sterben, weil die Jüngeren noch so viel zu lernen haben, um überleben zu können auf dem Kontinent und den weitgefaßten Plan der Götter zu Ende führen.
Schließlich, ganz am Ende eines Zeitalters, geht auch er, der neue alte König, und ein Weinen raunt durch alle Hallen.
das riesenwerden: licht
Übermannt und schier betäubt von all den Eindrücken folgten sie einem Licht, das nur Eljazokad sehen konnte, einem Licht, das nach dem Tod oder aus dem Tod entstanden war und das wie ein ganz fernes Seufzen klang.
Dann, übergangslos, traten sie in dasselbe warme Leuchten, das sie schon zu Beginn des Riesenwerdens tiefgrundig bemalt hatte. Lächelnd begrüßte Eljazokad das Licht wie einen Hund, der hechelnd an ihm hochsprang.
Die anderen mußten sich erst gewöhnen: Wer waren sie nun? Riesen oder Menschen? Gegenwart oder Vergangenheit? Vier oder einer?
das riesenwerden: dunkel
Einen Raum weiter wurde das Licht abgelöst vom Dunkel. Die Vorstellung war vorüber. Das Dunkel jedoch war ebenfalls vertraut und barg nun nicht mehr die Schrecken der Einsamkeit und des Verlorenseins.
Das Dunkel bedeutete nun Ruhe. Durchatmen und Sammlung.
»Wir sind im Kreis gegangen«, stellte Hellas fest.
»Wir sind ein Teil des Kreises«, entgegnete Rodraeg mit belegter Stimme.
das riesenwerden: hinauf
Ein schmaler Gang führte sie aufwärts, wurde dabei höher und heller.
Ihre Laternen, die sie entzündet hatten, als sie unter Eljazokads behutsam glimmender Führung den dunklen Raum verließen, konnten jetzt wieder gelöscht werden. Der Gang wurde so steil, daß sie auf allen vieren klettern mußten. Als es schließlich senkrecht hinaufging, waren wieder regelmäßige Furchen zu entdecken, die ein Greifen und Hinaufklettern fast wie bei einer Leiter ermöglichten. Hellas kletterte voran, nach ihm Eljazokad, dann Rodraeg und Bestar als letzter dichtauf.
»Ist das wirklich derselbe Gang, den wir hinabgeklettert sind?« fragte Eljazokad zweifelnd. »Die Krümmung ist anders. Er wurde unten allmählich steil, während unser Abstieggang unten ganz eben war.«
»Dafür wird dieser oben flach bleiben«, mutmaßte Hellas. »Es ist nicht derselbe, und das ist eine gute Nachricht, denn sonst wären wir ja überhaupt nicht vorangekommen.«
Sie kletterten weiter und erreichten mit schmerzenden Fingern dämmerigen Grund.
das riesensein
»Wenn ich mir nur ein Viertel von dem merken könnte, was ich jetzt über die Riesen gelernt habe, könnte ich mich als Bücherschreiber in der Hauptstadt zur Ruhe setzen«, stellte Rodraeg fest.
»Es fragt sich, wer für ein solches Buch Geld ausgeben würde«, seufzte Eljazokad. »Die Menschen scheinen nicht allzuviel Interesse am Schicksal der Riesen zu haben. Stehen sie nicht auch in der Bebilderthen Encyclica unserer Thierweltwie Tiere?«
»Ich weiß es nicht. In der Encyclica kenne ich mich nur bis ›M wie Mammut‹ aus.«
»Hast du nicht kürzlich unter ›W wie Wale‹ nachgeschlagen?« fragte Hellas spöttisch.
Rodraeg schüttelte den Kopf. »Die standen unter ›F wie Fische‹, obwohl es genaugenommen ja gar keine Fische sind.«
»Wale, Fische, Mammuts!« polterte Bestar los. »Wen interessiert das denn jetzt? Was ist nur mit euch los? Habt ihr Augen und Ohren zugemacht die ganze Zeit über? Das war doch toll! Habt ihr gesehen: Ich war den Riesen ein König, ich hatte Kinder und ein Riesenweib.« Bestar lachte über das ganze Gesicht. »Und wir haben Honig an Bären verschenkt und Affenmenschen bekämpft und sind uralt geworden und auch ganz klein auf allen vieren, und wir haben Rat gehalten und gezielt Schneelawinen ausgelöst und …«
»Ja, ja, ja, wir haben es auch gesehen«, murrte Hellas. »Aber nichts davon ist wirklich passiert. Es war ein Gaukelspiel der Sinne.«
»Aber es war so … echt!« ließ Bestar sich nicht abbringen. »Jahre sind vergangen. Ich konnte die große Suppe riechen und diesen Knusperkompott schmecken und …« – er hielt im Gestikulieren inne – »… ich bin gestorben.«
»Niemand ist gestorben, wir sind alle noch hier«, sagte Eljazokad sanft. »Aber ich gebe dir vollkommen recht: Es war überwältigend. Die Höhle hat uns ein Geschenk zuteil werden lassen, dessen wir uns jetzt würdig erweisen müssen.«
Als hätte die Höhle auf eine solche Überleitung nur gewartet, knisterte nun wieder die körperlose Stimme durch ihre Köpfe. Ein Hauchen nur, wie milder Wind, und dennoch deutlich als Worte verständlich.
»Ihr seid die ersten seit langer Zeit. Von nun an gibt es keine Gegner mehr außer euch selbst. Geht weiter und überwindet eure Körper. Geht weiter und stellt euch eurer größten Furcht. Geht weiter und wendet an euren Geist. Geht weiter und fügt euch den Kräften, um aus ihnen hervorzugehen. Geht weiter und begegnet euch selbst. Als letztes begegnet dem Zepter.«
Von Hellas ging ein Knurren aus wie von einem in die Enge getriebenen Wolfshund.
Auch Bestar sah beunruhigt aus. »Jetzt gehen die Prüfungen erst richtig los«, sagte er besorgt.
»Diese Hirnspielchen fangen langsam an, mir auf die Nerven zu gehen«, grollte Hellas. »Wie viele Jahre muß man hier herumtappen und ausgedachten Unsinn über sich ergehen lassen, bevor man endlich zum Zepter gelangt? WIR SIND KEINE GRABRÄUBER!« rief er plötzlich laut ins Nichts. »WIR SIND IM AUFTRAG DER RIESEN HIER UND SOLLEN IHNEN DAS ZEPTER DES KÖNIGS BRINGEN!«
»… nigs bringen … nigs bringen …«, hallte ein brüchiges Echo nach.
»Wir haben keine Wahl«, faßte Rodraeg zusammen. »Das dort ist der einzige Ausgang. Und er führt, soweit ich das sehen kann, nicht auf das Plateau der Fleischfliegen zurück, sondern weiter in unbekanntes Gebiet. Hellas, du darfst dich nicht so gegen das alles stemmen. Die Höhle wollte uns erst kennenlernen, dann wollte sie, daß wir die Riesen kennenlernen, nun wird sie uns prüfen und uns dabei auch belehren. Bislang ist uns nichts angetan worden. Wir wurden lediglich mit neuen Blickwinkeln bereichert. Ich sehe also keinen Grund, feindselig zu sein. Gehen wir weiter und nehmen an Eindrücken mit, was sich uns bietet.«
»Aber ich habe keine Lust, mich meiner größten Furcht zu stellen«, haderte der Bogenschütze weiter. »Was soll das alles? Ich kenne meine größte Furcht! Macht es mich zu einem besseren Zepterüberbringer, wenn ich vor Angst schlottern muß? Es ist doch klar, was jetzt kommt. Die Höhle kennt keine Gnade und kein … Taktgefühl.«
»Wie kommst du denn darauf?« fragte ihn Eljazokad.
»Weil sie in unseren Köpfen ist. Innen drin, wo niemand etwas zu suchen hat«, antwortete Hellas, und sein Gesichtsausdruck war auf eine äußerst eindringliche Weise verzweifelt.
in den höhen
Es gab keinen anderen Weg. Rodraeg duldete kein Umkehren. Energisch schritt er voran, und als jetzt die Strapazen begannen, weigerte er sich lange, sich den Grenzen seiner eigenen Leistungsfähigkeit zu unterwerfen.
Sie mußten klettern, auf immer höher werdende, offensichtlich von Riesenhand gehauene Stufen. Die erste war nur eine Handspanne hoch, so daß sie sie im schummrigen Licht übersahen und über sie stolperten. Die zweite maß schon zwei Handspannen, und so ging es immer weiter. Ab der vierten Stufe mußten sie die Hände zum Hochziehen benutzen, ab der zwölften Stufe mußten sie mit Kletterhaken und Seil arbeiten. Hellas warf die Haken, Bestar zurrte sie im glatten, schwarzen Gestein so fest wie möglich und kletterte als erster hoch. Dann konnte er Rodraeg und Eljazokad hinaufhelfen, während Hellas meist als letzter und meist aus eigener Kraft aufenterte.
Nach Stufe Neunzehn waren sie alle schweißgebadet. Eigentümlich warm war es mitten in diesem Berg. Ab und zu roch es nach Wasserdampf, oder ein Strom rauschte hinter der Felswand. Rodraeg röchelte und hustete, schaufelte alle Mittelchen, die er noch bei sich führte, in sich hinein wie ein Verhungernder, und sah dennoch von Stufe zu Stufe elender aus. Bestar war der einzige von ihnen, dem diese urtümliche Kletterpartie regelrecht Spaß machte.
Auf Stufe Zweiundzwanzig angekommen, rasteten sie erstmals. Die Treppenabsätze waren stets gleich groß, gönnten den Kletternden nur knapp bemessene anderthalb Schritt Fläche auf einer Breite von etwa fünf Schritten. Sie waren froh über die Trinkwasservorräte, die sie mit sich führten, und machten zur Erfrischung ausgiebig davon Gebrauch. Weiter ging es. Dreiundzwanzig. Siebenundzwanzig. Zweiunddreißig. Hier war bereits eine zweite, längere Ruhepause vonnöten. Sie wollten nicht mehr, alle Gliedmaßen und Gelenke schmerzten vor Überbeanspruchung. Rodraeg scheuchte sie wieder hoch. Sie nahmen die Dreiunddreißig und die Vierunddreißig. Bei der Fünfunddreißig rutschte Bestar das Seil aus den schweißnassen Händen, und der daran hängende Eljazokad schlug schmerzhaft auf die Vierunddreißig zurück. Er rollte sogar beinahe über die Kante zur Dreiunddreißig und konnte sich gerade noch festhalten. Ein Sturz auf den harten Stein der mehr als sechs Schritte darunterliegenden Dreiunddreißig hätte wahrscheinlich sein Ende bedeutet. Der junge Magier konnte nicht mehr weiter. So kletterten die anderen zu ihm auf die Vierunddreißig zurück, und Rodraeg willigte ein, daß sie alle ein paar Stunden schlafen sollten. Hier drinnen gab es ohnehin keinen Tag mehr und keine Nacht. Ab und zu hatten sie ihre Laternen gebraucht, dann wiederum waren die Wände mit phosphoreszierenden Flechten übersät gewesen, so daß das Mammut als vier spinnengleiche Schatten unter Schatten klettern konnte.
Sie schliefen, ohne Wachen aufzustellen. Im Schlaf drängten sich die Sorgen nach vorne: Was, wenn die Stufen niemals endeten – oder höher wurden, als ihre paar Seile noch reichen konnten? Was, wenn es immer heißer wurde? Wenn ihr Wasser und ihre Vorräte zur Neige gingen? Wenn Rodraegs Husten ihn umbrachte, bevor sie den absurden unterirdischen Gipfel erreichten, auf den sie hinzuarbeiten schienen?
Nach fünf oder sechs Stunden unruhigen Schlafes kämpften sie sich wieder auf die Füße und fuhren fort mit dem Aufstieg. Eljazokad war der einzige von ihnen, der noch eine Ahnung hatte, ob draußen inzwischen Tag oder Nacht war. Als Lichtmagier, sagte er, konnte er spüren, daß draußen die Sonne schien. Aber wie spät es genau war, vermochte auch er nicht zu sagen.
Sie kamen bis zur fünfzigsten Stufe und benötigten dafür über acht Stunden. Jede der Stufen war inzwischen zehn Schritte hoch, höher als ein dreistöckiges Hauptstadtgebäude. Alle bis auf Bestar waren bleich und zittrig, alle Finger bis auf Hellas’schmerzten bei jeder Bewegung. Eljazokad vertat einen Großteil seiner restlichen Energie damit, einen Lichtschein nach oben zu werfen, um einen Eindruck von dem zu erhalten, was noch vor ihnen lag: eine endlose Abfolge einander immer steiler in die Höhe drängender Steinstufen. Mindestens hundert Schritte aufwärts ging es noch so weiter. Rodraeg lachte verzweifelt auf.
Hellas rechnete ihrer aller Lebensalter zusammen und kam als Ergebnis auf die Zahl 113. »So viele Stufen türmen die Riesen vor uns auf. Einhundertunddreizehn«, sagte er fatalistisch.
»Ich glaube, es wird eine mehr sein, als wir schaffen können«, steuerte Eljazokad – auch nicht aufbauender – bei.
»Das geht doch nicht«, widersprach Bestar, der wenigstens noch atmen konnte, ohne zu hecheln. »Die Stufen sind aus Stein, die passen sich nicht dem an, der darauf herumklettert. Es werden sechzig sein oder siebzig, höher ist dieser Berg doch gar nicht, in dem wir sind.«
»Siebzig klingt gut«, ächzte Rodraeg mit rasselnder Stimme. »Siebzig oder siebenundsiebzig, weil es sieben Wege gab, die Sonne und die Felder siebenzackig waren und die Sackflöte sieben Töne hatte. Sieben ist eine wichtige Zahl für die Riesen.«
»Aber es waren nicht sieben Treppenstufen«, versetzte Hellas. »Ebensogut können es auch siebenhundertundsieben- undsiebzig sein.«
»Der Berg ist nicht hoch genug für mehr als siebzig Stufen«, beharrte Bestar. Damit war die Diskussion beendet. Sie tranken, rieben sich die Handgelenke mit Speichel und Wasser ein und kletterten weiter.
Beim Ersteigen von Stufe Sechsundfünfzig kam Rodraegs schon seit langem befürchteter Zusammenbruch. Der Husten packte ihn und schüttelte ihn wie ein Spielzeug, Bestar mußte ihn am Seil wieder auf die Fünfundfünfzig hinablassen, aber auch das Liegen brachte keine Linderung. Rodraeg stieß noch unter gräßlichen Mühen ein paar kaum verständliche Worte über das Salzfäßchen hervor, dann erbrach er Blut und Schwarzwachsbrocken und verlor das Bewußtsein. Die anderen drei kämpften um ihn. Bestar massierte seinen Brustkorb, Hellas rieb seine Schläfen und Handgelenke mit dem letzten Wasser ein, Eljazokad hauchte ihm sogar Luft durch Mund und Nase und hielt ihm immer wieder Nerass’ Heilsalz zum Riechen vor, aber das Bewußtsein kehrte nicht zurück. Rodraeg lag im Sterben.
»Er überwindet seinen Körper!« brüllte Hellas die Tiefe, die Stufen und die gnadenlosen Wände an. »Das ist doch, was ihr wolltet, oder? Er überwindet seinen Körper und krepiert, ihr mitleidlosen Schweine! Für euch tut er das alles, für euch!!!«
»Für euch … für euch … für euch …«, wehklagte das Echo und verstärkte damit nur noch das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein.
Übergangslos fing Hellas an zu weinen, aber er wischte sich die eigenen Tränen zornig aus dem Gesicht und zog sich vor den anderen bis an den äußersten Rand der Stufenkante zurück.
»Wir bleiben erst mal hier«, entschied Eljazokad leise. »Vielleicht bessert sich sein Zustand. Vielleicht tun noch ein paar Stunden Schlaf uns allen gut.«
Eljazokad und Hellas ruhten, Bestar wachte über Rodraeg und hielt mit traurigem Gesicht seine Hand. Als die anderen dann wieder zu sich kamen, hatte Bestar drei ihrer vier Rucksäcke geleert, den Inhalt aller vier in einen einzigen gestopft, den er Hellas übergab, und sich die drei leeren Rucksäcke mit ihren Schnürriemen und Lederschlaufen so an den Schultern und an der Hüfte befestigt, daß er sich den ohnmächtigen Rodraeg einigermaßen fest an Oberarmen und Gürtel auf den Rücken schnallen konnte. »Hilft alles nichts«, sagte er. »Wir müssen weiter.« Dann ergriff er das Hakenseil, warf es hinauf, zurrte es fest und begann mit dem Aufstieg, während Rodraeg schlaff an seinem Rücken hing wie ein menschenschwerer Umhang.
So kamen sie immerhin bis zur siebenundsechzigsten Stufe, dann gab Eljazokad als zweiter auf. Der eher schmächtige Magier war schon seit mindestens fünf Stufen über seine Leistungsgrenze hinausgegangen und taumelte und stöhnte nur noch herum, bis er auf die Knie sank, seitlich umkippte und sich zu rühren weigerte.
»Nur noch drei Stufen!« beschwor ihn Bestar. »Die siebzigste ist die letzte, ich verspreche es euch!«
»Ich kann ihn nicht tragen, Bestar«, keuchte Hellas. »Das ist das Ende.«
»Das ist nicht das Ende!« schrie Bestar ihn an. »Du und ich, wir können noch kämpfen!«
»Aber wogegen willst du denn kämpfen?«
»Gegen die Schwäche. Gegen das Aufgeben. Gegen den Tod. Ich werde nicht drei Stufen vorm Ziel mit euch verenden. Paß auf: Ich lasse dir Rodraeg hier und gehe alleine weiter. Ich hole uns Wasser und komme dann wieder zu euch.«
»Ja, selbstverständlich«, spottete der Bogenschütze. »Du kletterst weiter hoch, dann wieder herunter, und dann noch mal mit Rodraeg und Eljazokad auf dem Rücken wieder hoch.«
»Ja«, sagte Bestar erstaunlich ruhig. »Genau das werde ich tun. Du wartest hier und paßt auf, daß die beiden nicht aus Versehen über die Kante in die Tiefe kullern.«
Der Klippenwälder und der Weißhaarige maßen sich mit Blicken. Schließlich bildeten sich auf Hellas’ Gesicht Anzeichen eines Lächelns. »Ich habe eine bessere Idee: Ich gehe alleine weiter und kundschafte. Du ruhst dich inzwischen aus und sammelst Kräfte, denn wenn es da oben irgendwo ein Ende gibt, mußt du Rodraeg und Eljazokad dorthinwuchten.«
»Rumzusitzen und zu warten ist für mich das Letzte.«
»Für mich auch. Aber wir können nicht beide gehen. Was, wenn Rodraeg in der Zwischenzeit erstickt?«
»Ich kann auf ihn achtgeben«, meldete Eljazokad sich müde zu Wort. »Ich kann zwar nicht mehr weiter, aber aufpassen auf Rodraeg schaffe ich noch.«
»Dann gehen wir zu zweit«, nickte Bestar befriedigt. »Das ist gut, weil dann einer den anderen am Seil sichern kann. Ihr wartet hier. Wir kommen bald zurück.«
Sie setzten den Aufstieg fort. Ruhige, fast mechanische Bewegungen. Bestar mit Kraft, Entschlossenheit und Sorgfalt, Hellas mit Geschick, Gewandtheit und einem guten Auge für Erleichterungen, die man sich durch die Positionierung des Seiles verschaffen konnte. Bestar kletterte stets voraus und übernahm die schwierigere, weil ungesicherte Erstbesteigung, wohingegen Hellas anschließend vom Klippenwälder gesichert werden konnte, dieses Angebot aber nur bei einer einzigen Unsicherheit wahrnahm.
Die Siebzig war nicht die letzte Stufe. Nichts änderte sich, wieder ragte die nächste Barriere eine Handspanne höher als die letzte vor ihnen auf.
»Dann sind es eben siebenundsiebzig«, sagte Bestar beinahe vergnügt. »Weiter!«
Bei der Vierundsiebzig unterlief Hellas wieder ein Fehler, bei der Fünfundsiebzig gleich zwei. Seine Hände zitterten vor Anspannung. Bestar, der ihn am Seil halten und hochziehen mußte, sah ebenfalls ausgelaugt aus. Jede der Stufen war inzwischen fünfzehn Schritte hoch – eine Steilwand für sich. Hellas entschuldigte sich für die zusätzliche Mühe, die er Bestar bereitete. »Du bist nicht in den Klippenwäldern aufgewachsen«, tröstete ihn dieser.
Mit Müh und Not quälten sie sich die Siebenundsiebzig hinauf. Das Plateau war schmal wie immer. Vor ihnen ragte die nächste Stufe auf.
»Vielleicht ist es keine Stufe, sondern ein abschließender Übergang«, stammelte Bestar, dem nun erstmals Furcht im Gesicht zu lesen stand. »Oder wir haben uns verzählt. Sind wir sicher, daß dies die Siebenundsiebzig ist? Vielleicht ist es nur die Sechsundsiebzig?«
»Oder die Achtundsiebzig. Es können auch siebenhundert Stufen sein, Bestar.«
»Nein, das geht nicht! Jede Stufe ist schon lange über zehn Schritte hoch. Wir können doch nicht meilenweit aufwärts gehen, ohne ins Freie zu gelangen!« Eine stürmische Sehnsucht nach Sommerwolken vor blauem Himmel und im Wind wehendem Langgras verwirrte ihn.
»Was hat Eljaz gesagt? ›Es wird eine mehr sein, als wir schaffen können.‹ Wenn einer versteht, nach welchen Regeln hier gespielt wird, dann er.«
»Nein. Wir müssen es schaffen können«, beharrte Bestar. »Dies ist eine Prüfung, kein Todesurteil. Also kann es höchstens eine mehr sein, als wir glauben, schaffen zu können. Es sind achtundsiebzig! Es sind achtundsiebzig, Hellas! Komm, gleich haben wir’s geschafft!«
Sie erklommen die achtundsiebzigste Stufe. Kein Ausgang. Nur ein weiteres Plateau. Eine weitere Stufe.
»Ich kann nicht mehr«, ächzte Hellas. »Ich habe Angst abzustürzen und zu zerschmettern. Außerdem sind wir jetzt schon … elf Stufen von den anderen entfernt. Vielleicht ist Rodraeg inzwischen bereits gestorben.«
»Nein!« Bestar begann jede seiner Äußerungen jetzt mit einem Nein. »Niemand wird hier sterben! Es sind … hundert Stufen. Das schaffen wir.«
»Du schaffst das vielleicht, aber sonst keiner von uns. Und was willst du machen, wenn du oben bist? Wieder runterklettern bis zur Siebenundsechzig und uns alle dreiunddreißig Stufen aufwärts tragen? Sieh doch ein, daß das Wahnsinn ist!«
»Wahnsinn ist, einfach aufzugeben. So lange ich noch atmen und mich rühren kann, werde ich mich nicht hinlegen und sagen: Das war’s.«
»Vielleicht«, zermarterte der Bogenschütze sich das Gehirn, »ist alles ja auch ganz anders gemeint. Die Stimme sagte ›Überwindet eure Körper‹ und ›Stellt euch eurer größten Furcht‹. Vielleicht müssen wir einfach springen, und die Fliegen werden uns auffangen und tragen.«
Bestar sah Hellas an und fing dann an zu lachen. »Das hast du schon beim ersten Mal nicht geglaubt. Jetzt plötzlich glaubst du an so was?«
»Na ja. Nicht so richtig.«
»Ich auch nicht. Dies ist die Körperprüfung. Die Riesen wollen sehen …« Bestar dämmerten Zusammenhänge. Es fiel ihm nicht leicht, seine Gedankengänge in Worte zu bändigen, aber er versuchte es. »Die Riesen wollen sichergehen, daß wir zu Riesen geworden sind. Sie haben uns zu Riesen gemacht durch diese … Lebenslaufgeschichte, aber jetzt … jetzt werden die Stufen immer höher, damit wir immer kleiner werden. Verstehst du? Einem echten Riesen würden diese Stufen nichts ausmachen. Man muß ein Riese sein, um das Zepter tragen zu können.«
»Ein Riese hätte das Gefühl, daß die Stufen immer niedriger werden?« ergänzte Hellas, aber mit deutlichem Zweifel in Stimme und Gesicht.
»Ja. Kann doch sein, oder? Bisher war doch auch alles in unseren Köpfen.«
»Aber dies ist die Körperprüfung. Hast du selbst gesagt. Und nicht alles ist hier Kopfsache: die Schlucht mit den Fleischfliegen zum Beispiel auch nicht.«
»War sie doch, irgendwie. Nur wenn man vertraute, wurde man getragen.«
»Dann vertraue, Bestar. Vertraue, bis du blau anläufst. Ich jedenfalls halte das alles für ausgemachten Schwachsinn. Die Riesen wollen, daß wir ihnen einen Gefallen tun, und dann foltern sie uns hier drinnen langsam zu Tode. Oder lassen uns durchdrehen und Schmeißfliegen vertrauen, was alles auf dasselbe hinausläuft: Man hält uns zum Narren, und das schmeckt mir gar nicht.«
»Dann warte hier. Ich versuche weiterzumachen. Vielleicht finde ich etwas heraus.«
Hellas knurrte und wand sich unbehaglich. »Laß mich bloß nicht hier allein! Ich komme mit!«
Sie schafften noch vier weitere Stufen, bei denen Bestar – auch wenn er sich noch so sehr darauf konzentrierte – nicht das Gefühl hatte, daß er ein Riese war und die Stufen vor ihm schrumpften. Dann passierte das, was sich schon seit längerem angekündigt hatte: Hellas stürzte ab und konnte sich nicht mehr fangen. Bestar hielt am Seil, was seine Muskeln hergaben, aber bei fünfzehn Schritten Seillänge war Hellas’ Körpergewicht schon beträchtlich erhöht, und das Seil rutschte Bestar durch die schweißigen Hände. Der Bogenschütze prallte mit einem Aufschrei hart auf den Absatz der zweiundachtzigsten Stufe und blieb jammernd liegen.
»Alles klar?« fragte Bestar besorgt. Hellas lag so weit unter ihm, daß er im grauen Dämmern kaum zu erkennen war.
»Mein Bein …«, schnaufte der Bogenschütze. »Umgeknickt. Vielleicht angebrochen. Tut verflucht weh.«
»Scheiße. Du mußt auf mich warten wie die anderen. Ich komme zurück.«
»Laß mich nicht hier verrecken, Bestar! Wenn du nicht zurückkommst, springe ich in die Tiefe!«
»Ich komme bald. Ich verspreche es dir.«
Als Bestar nun alleine weitermachte, fielen alle Zweifel der Welt über ihn her. Was brachte es, wenn er alleine oben ankam? Dort würde nichts sein außer einem Ausgang mit einer weiteren Prüfung dahinter. Er würde niemals die Kraft haben, alle drei Gefährten zu bergen und aufwärts zu schleppen. Niemals.
Er nahm die Vierundachtzig, und alle Sehnen schmerzten ihm.
Er nahm die Fünfundachtzig und wischte sich oben Salzwasser aus dem Gesicht.
Er nahm die Sechsundachtzig, obwohl er in der Mitte des Hinaufklimmens einen Krampf bekam und vor Schmerzen beinahe schrie. Oben blieb er liegen und schlief oder verlor kurz die Besinnung. Um ihn herum war immer dasselbe graubraune, uneigentliche Dämmern, dieselben steilen Wände ohne Poren, dieselben scharfen Kanten, dieselben Treppenflächen. Einmal hörte er eine Fliege summen, aber das war vielleicht nur Einbildung.
Er nahm die Siebenundachtzig in Angriff. Diesmal brauchte er alleine schon achtunddreißig Versuche, bis der Haken oben faßte. All diese Zählungen gellten durch Bestars Kopf. Wenn er sich verzählte, so fürchtete er, würde er sich trotz gerader Strecke verirren. Die Siebenundachtzig maß gute siebzehn Schritt an senkrechter Höhe. Während des Kletterns verspürte Bestar plötzlich einen Ruck in seinem Inneren, genau dort, wo vor lediglich zwei Monden noch der Speer eines Kruhnskriegers gesteckt hatte. Die Wunde war verschorft, vernarbt, verheilt, aber was in seinen Eingeweiden an Schäden geblieben war, konnte niemand sagen. Jetzt war etwas gerissen, was noch nicht völlig ausgeheilt gewesen war. Bestar beeilte sich mit dem Aufstieg, ruhte sich dann auf der siebenundachtzigsten Stufe erneut aus.
Er lächelte. Er fühlte sich Rodraeg in diesen Momenten sehr nahe. Auch in ihm floß nun ungelenktes Blut. Vielleicht würde auch er es bald hervorhusten können wie einen Schwall roter Worte.
Er mühte sich zwei Stunden, um den Haken auf die Achtundachtzig zu bekommen. Zwei weitere Stunden später war er oben.
Für die Neunundachtzig und die Neunzig machte er sich kleine Schlaufknoten in das Seil, weil er anders nicht mehr in der Lage war, daran hinaufzuklettern. Die Schwerkraft hing an ihm mit dem Gewicht aller neunundachtzig Stufen darunter. Das Seil war scharfkantig wie ein Messer. Die Schlaufen retteten ihn, Inseln in einem Ozean aus Gift.
Und dann passierte das Verrückteste, was ihm in seinem ganzen bisherigen Leben widerfahren war: Als er die neunzigste Stufe erklomm, fand er dort oben Eljazokad und Rodraeg, schlafend, wie Hellas und er sie auf der Siebenundsechzig zurückgelassen hatten.
»Was macht ihr denn hier? Wie seid ihr …? Wie konntet ihr …? Ich bin doch nicht … abwärts geklettert?«
»Bestar!« erkannte Eljazokad ihn müde, als der Klippenwälder ihn aufrüttelte. »Du bist zurück. Also gibt es ein Ende?«
»Nein«, erkannte Bestar in diesem Augenblick. »Es ist endlos. Ich bin aufwärts gestiegen und unterhalb von euch angekommen.«
Sie brauchten einige Sandstriche, um sich zu beruhigen. Rodraeg war immer noch bewußtlos, aber er atmete jetzt wenigstens ein wenig besser. Der Magier und der Schwertkämpfer hockten einander gegenüber auf dem kahlen Fels und dachten nach.
»Ich glaube, wir sind einer Lösung nahe«, sagte Eljazokad. »Daß du uns wiederbegegnet bist, ist eine Art Durchbruch. Die Frage ist nun: Sind wir auf der Neunzig, oder bist du wieder auf der Siebenundsechzig? Die nächste Frage ist: Spielt das überhaupt eine Rolle? Sehen nicht alle Stufen ohnehin gleich aus, abgesehen von ihrer stetig steigenden Höhe? Die Umgegend scheint immer dieselbe zu bleiben. Möglicherweise ist das alles nur ein kompliziertes Spiel. Möglicherweise gibt es nur wenige Stufen, die wir immer und immer wieder von neuem erklimmen.«
»Aber sie werden doch immer höher!«
»Das gehört wahrscheinlich dazu. Aber mein Kopf droht zu zerspringen, wenn ich versuchen will, die vielen denkbaren Schlußfolgerungen zusammenzufassen. Mir fällt kein Rechensystem ein, bei dem du … dreiundzwanzig Stufen weiter als wir … wieder bei uns ankommst. Gut, vorher haben wir nie etwas auf den Plateaus zurückgelassen, so daß wir nicht überprüfen konnten, ob wir vorher schon einmal dort waren. Wenn es also dreiundzwanzig Stufen gibt … 23 … 46 … 69 … 92. Das geht nicht ganz auf. Wir müßten auf 67 und 90 kommen. Oder wir haben uns verzählt. Die ersten beiden Stufen galten noch nicht als solche, weil sie nicht hoch genug waren.
Aber was müssen wir jetzt tun? Müssen wir hinabsteigen zur Dreiundzwanzig und von dort einfach geradeaus durch den Felsen gehen?«
»Das ist doch Quatsch. Die Felsen waren massiv, das haben wir beim Klettern gemerkt.«
»Richtig. Vielleicht ist es auch ganz anders. Mir geht deine Theorie mit den 70 oder 77 nicht aus dem Kopf. Wie viele Stufen bist du alleine geklettert, seit du Hellas zurückgelassen hast?«
»Ähhh, Hellas liegt auf der Zweiundachtzig. Dies ist die Neunzig.«
»Also acht. Eine mehr als sieben. Innerhalb von sieben wiederholt sich nichts. Danach fängt alles wieder von vorne an.«
»Aber das kann nicht sein, dann hätten wir doch …«
»Richtig, dann hättet ihr beide uns schon auf der Fünfundsiebzig erneut begegnen müssen. Es sei denn, es sei denn … das Spiel endete erst an einem ganz bestimmten Punkt. Vielleicht erst, nachdem wir eine Mindestanforderung von neunzig Stufen geschafft hatten. Vielleicht aber auch erst dann, als du alleine weitergemacht hast. Möglicherweise war dies der Punkt, an dem das Mammut seinen Körper überwunden hat.«
»Etwas … ist in mir geschehen … als ich zur Siebenundachtzig hochkletterte. Eine innere Wunde … ist wieder aufgegangen.«
»Ihr Götter! Hellas hatte recht: Die Höhle kennt kein Mitgefühl.«
»Hellas hat sich das Bein gebrochen«, sagte Bestar düster. »Du bist zusammengeklappt. Rodraeg auch. Wir haben unsere Körper überwunden. Wir sind tot.«
»Nicht ganz. Das ist das, was der Lebenslauf der Riesen uns beibringen sollte: Der Tod ist nicht das Ende.«
»Also was machen wir?«
»Hellas müßte eigentlich … fünfzehn Stufen über uns sein. Aber wenn wir die Prüfung bestanden haben, die Siebenundachtzig der Durchbruch war und es in Wirklichkeit nur sieben Stufen gibt, müßten wir Hellas innerhalb der nächsten vier Stufen begegnen – und dem Ausgang ebenfalls. Spätestens auf der Vierundneunzig.«
»Vierundneunzig Stufen. Was für eine krumme Zahl. Hat die irgend etwas mit der Zahl Sieben zu tun?«
»Sie ist nicht einmal durch sieben teilbar. Aber die Zahl Vierundneunzig wurde nicht durch die Riesen festgelegt, sondern durch uns, durch unser Durchhaltevermögen.«
Nach einem vollen Sandstrich des nachdenklichen Schweigens fragte Bestar: »Wenn ihr schon auf der Zehn schlappgemacht hättet – wären wir dann schon längst durch?«
»Nicht, wenn die Höhle tatsächlich kein Mitleid kennt.«
Eljazokad war klar, daß irgend etwas an dem System immer noch nicht aufging. Wenn die Siebenundachtzig tatsächlich der Durchbruch gewesen war – weshalb war Bestar erst auf der Neunzig auf Rodraeg und Eljazokad getroffen, und nicht bereits auf der Achtundachtzig? Für eine stimmige Berechnung gab es einfach zu viele Unbekannte, und die größte Unbekannte war, wie die Riesen über die Menschen dachten und im Besonderen über diejenigen, die wegen des Zepters hier waren. Aber immerhin war eine winzige Hoffnung besser als gar keine, also beschloß Eljazokad, Bestar nichts von seinen Zweifeln zu sagen, denn die Plackerei war noch nicht vorüber.
Mit Hilfe der Knotschlaufen kletterte der Magier, der genügend Zeit zum Ausruhen gehabt hatte – nach seinem Eindruck war mehr als ein voller Tag vergangen, seit Bestar und Hellas zu zweit weitergezogen waren – als erster zur Einundneunzig hinauf. Bestar vertäute unterdessen Rodraeg in den Rucksackhaltegurten, so daß man den Bewußtlosen so bequem wie möglich hinaufziehen konnte. Da Eljazokad oben sicherte, konnte der Klippenwälder dann verhältnismäßig entspannt hinaufklettern, und anschließend zogen sie Rodraeg nach oben, langsam und vorsichtig, damit er sich nicht stieß.
Die Zweiundneunzig nahmen sie ebenso. Allerdings waren jetzt Eljazokads Kräfte schon wieder am Ende, und auch Bestar spürte die Wunde in seinem Leib rumoren wie einen unsanft aus dem Winterschlaf geweckten Bären.
Sie kamen auf die Idee, Hellas zu rufen.
Tatsächlich befand dieser sich auf der Dreiundneunzig, robbte vor zur Kante und versuchte, beinahe neunzehn Schritte abwärts durchs trügerische Halbdunkel etwas zu erkennen.
»Seid ihr das wirklich, oder seid ihr Doppelgänger?«
»Wir sind es, Hellas. Du mußt uns hochhelfen. Dann noch eine Stufe, und wir haben es geschafft.«
»Ihr wollt mich wohl verarschen! Ihr könnt unmöglich zusammen sein, Bestar ist nicht wieder an mir vorbeigekommen!«
Mühsam versuchten sie über neunzehn Schritt senkrechte Distanz, dem Bogenschützen alles zu erklären, all ihre nicht vollständig aufgehenden Theorien. Hellas schien ihnen nicht zu trauen, sie für Geister, Trugbilder oder eine Falle zu halten. Aber das Argument, das ihn am Ende überzeugte, kam von Bestar: »Was willst du denn sonst machen? Aufs Verdursten warten?«
Zu dritt mühten sie sich und Rodraeg auf die Dreiundneunzig. Hellas konnte beim Ziehen und Sichern helfen – was das Klettern anging, mußte er mit seinem Bein jedoch passen. Also mußte wieder Bestar voran auf die Vierundneunzig. Mit zitternden Armen und schmerzverzerrtem Gesicht kam er oben an. Der Geruch von Frischgebackenem stieg ihm in die Nase. Zuerst glaubte er, den Verstand verloren zu haben.
»Hier gibt es dieses leckere Gebäck, das wir auch im Wildbart bekommen haben«, rief Bestar mit vollem Mund nach unten. »Und frisches, kaltes Wasser in riesigen Krügen!«
»Jemand muß hier leben und diese ganzen Teufeleien überwachen«, grollte Hellas.
»Vielleicht sind es die Fliegen«, sagte Eljazokad müde.
»Na klar: backende Fliegen.«
»Seid ihr wahnsinnig geworden?« fragte Bestar, als er von unten stotterndes, erschöpftes, zweistimmiges Gelächter hörte. »Haltet durch, das ist die letzte Stufe. Hier oben ist der Ausgang!«
Die letzte Stufe. Die letzte, noch einmal über alles Erträgliche hinausgehende Anstrengung. Bestar zog und stemmte mit hervortretenden Schlagadern. Eljazokad mühte und krampfte sich aufwärts. Hellas verbiß sich den Schmerz, als sein zerschlagenes Bein beim Hinaufziehen immer wieder gegen die Wand stieß. Nur Rodraeg bekam von alledem nichts mit. Er schwebte aufwärts, in einer Welt, die keinen Himmel, sondern nur eine Felsendecke kannte.
Oben angekommen, rafften sie alles an Trink- und Eßbarem, was sie greifen konnten, zusammen und zogen sich abergläubisch in die Sicherheit des Ausgangs zurück, damit dieser nicht verschwand, um auch nur einer einzigen weiteren Stufe Platz zu machen.
Sie schmatzten und schlürften und kümmerten sich um ihren Anführer, und tatsächlich kam Rodraeg unter der Wirkung des makellos frischen Kjeerklippenquellwassers wieder zu sich.
»Ich … habe geträumt …«, murmelte er schwach. »Von … rotem Schnee in einem Tal aus blauem Glas. Das Wirrsein … war Wachsein … im Angesicht der … Elementenchöre.«
»Du bist zu weit gewandert, Rodraeg«, sagte Eljazokad sanft. »Komm zurück in die Höhle des Alten Königs. Der Wunder gibt es hier genug.«
in der tiefe
Sie hatten ihm alles erläutert. Sie hatten ihn gefüttert und getränkt, warmer Teig und kühles Wasser hatten seinen Leib mit ihrer Substanz verstärkt. Er hatte sich sogar wieder auf die Beine gekämpft. Ihm war schwindelig geworden, die drei anderen hatten ihn gestützt. Sie hatten abgewartet und ihn losgelassen. Er war stehengeblieben.
Es war ihm klar, daß dies der letzte Anfall gewesen war, den zu überleben das Schicksal ihm einräumte. Der nächste würde ihn töten. Nerass’ Vorhersagen von einem stillen, mondelangen Dahindämmern mit Heilhoffnung hatten sich auf Bettruhe bezogen, er aber mutete seinem Körper Klettereien zu, Wagnisse und Furcht.
»Ihr führt Gift in Eurem Atem«, hatte der Heiler gesagt. Rodraeg bemühte sich, seine unermeßlich wertvollen Gefährten nicht anzuhauchen.
»Weiter jetzt«, sagte er rasselnd, und in seinen Worten brauchte keine Anerkennung dafür zu liegen, daß die anderen ohne ihn die Treppenprüfung gemeistert hatten. Seine Augen sagten genug. Bestar, Hellas und Eljazokad waren Riesen geworden, aber er selbst war leider ein Zwerg geblieben.
Ein kühler und schattiger Gang führte geradeaus und öffnete sich schließlich zu einer kleinen Kammer. In der Mitte der Kammer war ein Loch im Boden, in dem im schwankenden Licht ihrer Laterne Wasser schimmerte. Einen anderen Ausgang gab es nicht. »Scheiße, was ist das denn jetzt?« fragte Bestar, dem alles weh tat, besonders die Arme und der Bauch.
»Wir sollen wohl tauchen«, vermutete Eljazokad. »Ich werde mir das mal genauer ansehen.« Er legte seine Ausrüstung ab, stieg aus dem Büßergewand und glitt vorsichtig, nachdem er daran geschnuppert hatte, in das dunkle Wasser. »Es ist kühl, aber nicht eiskalt«, berichtete er. »Jetzt schaue ich mir das Ganze unter der Oberfläche an.« Einen halben Sandstrich blieb er unter Wasser, war aber für die anderen weiterhin sichtbar. Dann tauchte er wieder auf. »Es gibt eine zweite Öffnung, durch die das Licht vieler Kerzen fällt. Sie ist etwa zehn Schritte entfernt, aber der Tunnel ist vollständig mit Wasser gefüllt.«
»Zehn Schritte tauchen, das schafft man«, schätzte Bestar.
»Selbstverständlich. Wenn man zwei gesunde Beine hat und kein Schwarzwachs in der Lunge«, versetzte ihm Hellas.
Bestar seufzte. »Ich schwimme voran und nehme ein Ende des Seiles mit. Dann kann ich euch in Windeseile da durchziehen.«
»Ich werde voranschwimmen«, verbesserte ihn Eljazokad.
»Das Licht am anderen Ende schwingt eigenartig. Ich will mich vergewissern, daß es für euch nicht zur Falle wird.«
»Dann nimmst du das Seilende mit.« Bestar drückte es ihm in die Hand.
»Bind es dir um den Bauch«, sagte Rodraeg. Seine Stimme war dermaßen belegt und undeutlich, daß er seine Worte wiederholen mußte, damit die anderen sie verstehen konnten. »Binde es dir um den Bauch, falls dir etwas zustößt. Zieh am Seil, wenn wir dich zurückziehen sollen. Zieh dreimal, wenn du drüben bist und alles in Ordnung ist. Dann folgt Bestar als zweiter.«
Der junge Magier nickte, knüpfte sich das Seil um die Hüfte und tauchte in dem brunnenartigen Loch unter. Das Seil glitt ihm hinterher wie eine fliehende Wasserschlange.
Eljazokad glaubte, den Ausgang mit zwei, drei Schwimmzügen erreichen zu können. Er war an der Küste aufgewachsen und – wenn nicht gerade eine Flutwelle ihn aus einem Pfahlhaus riß wie in Wandry – im Wasser recht sicher. Aber er kam nicht beim Ausgang an. Als er die Mitte der Röhre erreicht hatte, drehten sich die Wände um ihn, das Wasser wurde warm und körperlich, die Wände zuckten pumpend wie etwas im Inneren eines Körpers. Eljazokad glaubte, die Kekse riechen zu können, die seine Mutter immer gebacken hatte, und wunderte sich darüber, daß er unter Wasser etwas roch, ohne zu atmen. Die Wände rissen auf und machten verzerrten Bildern Platz. Eljazokad trieb um seine eigene Achse wie in einem Mutterleib verschlossen. Der Keksduft wich Geräuschen, dem hellen und hallenden Lachen der Nachbarskinder seiner Jugend. Rodraeg torkelte herbei und stürzte schreiend mit verdampften Augäpfeln neben Bestar und Hellas, die ebenfalls ihre schwelenden Augenhöhlen mit Händen bedeckten. Eljazokads Mutter tappte hohl stöhnend einher, erblindet wie die schreienden Kinder des Nachbarhauses. Die ganze Stadt war blind geworden. Eljazokad begriff, was die Höhle zu tun versuchte, und wollte sich auf dieses einzigartige Spiel einlassen, doch plötzlich riß eine neuerliche Flutwelle alles hinfort. Trübes Meerwasser verdarb alle Klarheit. Eljazokad überschlug sich wassertretend. Unten wurde zuoberst. Der riesige Kiel des Stadtschiffs von Tengan, von Muscheln und Halterfischen wimmelnd, raste ihm auf Kollisionskurs entgegen. In Panik versuchte Eljazokad auszuweichen, schlug sich den Kopf hart an der Röhrenwand und verlor das Bewußtsein. Luftblasen umspielten sein bleiches Gesicht, als er mit dem Ertrinken begann.
»Heda, Codas, Seelenkamerad!« rief der unsichtbare Mannschaftsmeister ihm zu. »’S ist nicht so einfach, dich wieder und wieder zu finden. Entere endlich auf, damit wir an Fahrt gewinnen nach Etridti Djuzul.«
»Etridti Djuzul«, wiederholte Eljazokad träge. Die Worte quollen als weiches Wasser aus seinen Mundwinkeln. Er hustete und schlug die Augen auf.
Bestar kniete auf ihm und malträtierte seinen Brustkorb, während Rodraeg ihm die Arme nach hinten bog. Hellas’ Gesicht war nahe an seinem, und eine Hand des Bogenschützen tätschelte Eljazokads Wange.
»Was machst du für Sachen?« fragte Hellas vorwurfsvoll. »Kannst du keine zehn Schritte geradeaus tauchen? Noch ein paar Sandstrichbruchteile länger, und ich wäre gezwungen gewesen, dir Luft einzuhauchen!«
Eljazokad setzte sich auf. Die anderen waren noch trocken, der Raum hier die Kammer, wo er den Tauchgang begonnen hatte. »Ihr habt mich zurückgezogen«, stellte er fest, während seine Atmung sich wieder beruhigte.
»Als das Seil aufhörte sich zu bewegen, ja«, erläuterte Bestar. »Was ist dir passiert? Du hast eine Beule am Kopf. Wer hat dir denn unter Wasser eins übergezogen?«
»Etwas ist schiefgelaufen. Das Stadtschiff holt mich, sobald ich mich im Wasser befinde.«
»Stellt euch eurer größten Furcht«, krächzte Rodraeg. Seine Stimme schien ernstlich und dauerhaft Schaden genommen zu haben. »Das waren die Worte der Höhlenstimme. Dieser Tauchtunnel ist eine weitere Prüfung. Das Wasser läßt uns das sehen und erleben, wovor wir uns am meisten fürchten. Bei dir ist das eben das Stadtschiff von Tengan. Aber die Gefahr ist nicht wirklich vorhanden. Es wird lediglich eine Frage des Mutes gestellt.«
»Nein, ihr versteht nicht. Etwas ist schiefgelaufen. Die Höhle hat versucht, mir die größte Furcht meiner Jugendzeit vor Augen zu führen, nämlich, daß ich mein magisches Talent nicht kontrollieren kann und damit Schaden zufüge, meiner Mutter, meinen Freunden, sogar ihr wart dabei. Aber dann mischte sich das Stadtschiff ein und sprach zu mir. Es kommt, wenn ich im Wasser bin. Es war echt.«
Alle überlegten eine Weile. »Das kann nicht sein«, sagte Rodraeg dann.
»Warum nicht?«
»Weil du im Raum mit dem heißen Bad, wo wir diese Gewänder bekommen haben, auch im Wasser warst. Du bist sogar ganz untergetaucht, um deine Haare zu waschen. Ich habe es gesehen.«
»Stimmt«, mußte der Magier zugeben. Sein Körper war vollkommen vom Wasser umspült gewesen. Aber das Wasser war heißer gewesen, und von Bestars übermütigen Badezusatzpanschereien bunt verfärbt. »Ihr wart dabei. Ich war nicht allein. Das Stadtschiff kommt nur, wenn ich alleine bin. Das war auch in Wandry schon so.«
»Eljazokad, glaube mir: Du unterschätzt diese Höhle«, sagte Rodraeg eindringlich. »Das Schiff war ein Teil deiner Prüfung. Daß es dir so vorkam, als würde etwas schieflaufen, war auch Teil der Prüfung. Du bestehst diese Prüfung nicht, wenn du jetzt davor zurückscheust, den Tauchgang noch mal zu wagen.«
»Dieser Tunnel ist doch kaum breit genug für mich«, fügte Bestar grinsend hinzu. »Da paßt doch nie und nimmer ein Stadtschiff rein.«
Dennoch ging es nicht voran. Eljazokad war nicht überzeugt.
»Können wir nicht«, fragte Hellas, »alle Widrigkeiten umgehen, indem wir zu zweit tauchen? Rodraeg und ich brauchen ohnehin Hilfe, und Eljaz wird vom Stadtschiff in Ruhe gelassen, wenn jemand dabei ist. Bestar muß eben den Schwimmbegleiter mimen und mehrmals hin- und hertauchen.«
»Das mache ich, kein Problem«, bot der Klippenwälder an.
»Was ist mit dem Licht, das du untersuchen wolltest?« fragte Rodraeg den Magier. »Du sagtest, es sei verdächtig.«
»Ja, das sagte ich wohl. Verflucht, also gut! Ich gehe mit Bestar zusammen und schicke ihn wieder zurück, wenn im Raum dahinter alles geklärt ist.«
Nun wurde Bestar am Seil gesichert, Hellas und Rodraeg hielten das Ende. Der Klippenwälder und der Magier verschwanden im plätschernden Schacht.
Für zwei nebeneinander war es zu eng, also schwamm Bestar voraus und zog den Magier einfach an der Hand mit sich. Diesmal gab es keine zerstörten Augen, keine schreienden Kinder, und auch das Stadtschiff ließ sich nicht blicken. Dafür bekam Eljazokad Einblick in Bestar Meckins größte Furcht.
Es begann mit der Holzhütte in dem rußigen Dorf, die Eljazokad schon im dritten der vier Räume gesehen hatte, in denen die Auszüge aus ihren Kindheiten enthalten gewesen waren. Bestar war jetzt größer, fast schon erwachsen. Er schlief auf seinem Lager, denn er hatte zuviel getrunken.
Die Tür wurde aufgerissen. Der schwere Umriß seines Vaters dampfte im winterlichen Sonnenlicht. Mit einem einzigen, geradezu unmenschlichen Schritt war der Vater an Bestars Lager. »STEEEEEAUUUUF, du nichtsnutziger …« Die weiteren Worte des Gebrülls waren zu laut, um verstanden zu werden. »Glaubst doch wohl nicht … ich werde den Schaden noch bezahlen … mir aus den Augen … verfluchter Taugenichts mit deinem verfluchten taunegichtsen Tautenichtsen tautegicht tau taunetich!« Bestar wurde am Hemdkragen hochgerissen und brutal mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen. Das Gesicht des Vaters war zum Affenmenschengesicht verzerrt. Die Stimme überschlug sich in unerbittlichem Lärm. Die Alkoholausdünstungen des größeren und älteren Mannes erfüllten den ganzen Raum. Er schlug und schlug und schlug. »DichbringichUM, du frißt mir sowiesonurdiehaarevomkopf und nichts als Ärger hat man mitdemscheißbengel, ich mach dich tot, ichmachdichtot DICH-machichTOT!« Bestar wehrte sich, aber zu schwach, zu zaghaft, zu verängstigt, Eljazokad wollte ihn anfeuern, den riesigen Vater wenigstens von sich zu stoßen, doch er konnte nichts machen. Der Vater war volltrunken oder wahnsinnig geworden, er versuchte tatsächlich, seinen heranwachsenden Sohn mit haarigen Schraubstockhänden zu erwürgen. Bestars Hose begann zu nässen. Dann, plötzlich, mit einem berstenden Ruck, war alles vorbei. Der Vater lag auf dem Boden, schnappte mit dem Mund nach Luft wie ein Buntkarpfen und starb. Blut breitete sich um ihn her aus wie eine sich öffnende Mohnblüte. Der ihn getötet hatte, mit einer Lanze, die des Vaters ganzer Stolz gewesen war, zog den hemmungslos schluchzenden Bestar in die Höhe und ermahnte ihn, sich zusammenzureißen wie ein Mann. Der Mörder war selbst noch ein Junge.
Bestar hatte den Ausgang erreicht und zerrte Eljazokad mit sich. Beide hingen prustend am Rand eines Brunnenbeckens, das dem Eingang ganz ähnlich war, nur daß hier die Wände kristallin das Licht Dutzender Kerzen vervielfältigten. Das Merkwürdige, das Eljazokad an dem Licht wahrgenommen hatte, war sein Gebrochen- und Gespiegeltsein gewesen. Es drohte keine Gefahr. Der Raum hatte einen Ausgang wie der Raum, in dem Rodraeg und Hellas noch warteten.
Stöhnend stemmte Bestar sich aus dem Wasser und wiederholte immer nur: »So eine Scheiße, so eine verdammte Scheiße, so eine ausweglose Scheiße.«
»Ich habe es auch gesehen«, teilte Eljazokad ihm zögerlich mit. »Das tut mir sehr leid, denn natürlich geht es mich nichts an.«
Bestar nickte, den Blick weiter gesenkt. Dann half er dem Magier aus dem Wasser. »Von dir habe ich nichts gesehen.«
»Tja, das ist wahrscheinlich das einzig Gute daran. Der Tunnel zeigt einem die Furcht nur einmal. Wenn du jetzt zu den anderen zurücktauchst, bist du sicher.«
Bestar nickte wieder. »Migal«, sagte er. »Der mir das Leben gerettet hat, war Migal Tyg Parn.«
»Das habe ich mir schon fast gedacht. Ich bin ihm nie begegnet, aber ihr sprecht oft von ihm. Danach … mußtet ihr euer Dorf verlassen?«
»Taggaran, ja. Wir sind abgehauen und nie zurückgekehrt.«
»Es war Notwehr, Bestar.«
»Wen kümmert das? Er war mein Vater. Er hatte das Recht, mich zu erwürgen, das Recht, meine Mutter totzuschlagen, das Recht, uns allen mit seiner Lanze das Leben zur Hölle zu machen. Aber das ist Vergangenheit. Ich kann es nie loswerden, und auch der Alte König weiß es jetzt, aber es ist dennoch Vergangenheit. Ich hole die anderen.«
Nachdem Bestar davongetaucht war, dachte Eljazokad noch lange nach über die Vielschichtigkeit von Bestars Furcht. Die Furcht vor dem Vater. Vor dem Tod durch den Vater. Vor der Entscheidung, sich zur Wehr setzen zu müssen. Die Furcht davor, versagt zu haben und zu weichlich, zu knabenhaft gewesen zu sein zum Überleben. Und die Furcht vor Migal, der die Waffe in die Hand genommen hatte, die ein Symbol der Unüberwindlichkeit gewesen war.
Inzwischen erläuterte der Klippenwälder den anderen, womit sie zu rechnen hatten. »Wer mit im Tunnel ist, sieht die Ängste des anderen. Aber die Sache ist schaffbar. Die Höhle zeigt einem nichts, was man nicht ohnehin schon weiß.«
»Was soll denn bloß diese sinnlose Schinderei?« beklagte sich Hellas erneut. »Sind wir nun hier, weil die Riesen es so wollen, oder nicht? Warum müssen wir durch die Hölle gehen, um an dieses … beschissene Zepter heranzukommen?«
»Ich glaube, es geht hier um mehr als nur um die Riesen«, röchelte Rodraeg matt. »Es sind nicht die Riesen von heute, die uns auf Herz und Nieren testen wollen, sondern es sind die Riesen von damals. Der alte König Rulkineskar. Die Höhle selbst, die das Zepter umschließt. Vielleicht haben auch die Fleischfliegen einen eigenen Willen. Sie mußten prüfen, ob wir überhaupt würdig sind, von ihnen getragen zu werden. Und dann ist da noch das Zepter. Das mächtige, magische Zepter. Vielleicht will es nicht weg von hier. Zumindest nicht in den Händen von Unwürdigen.«
»Ich werde jedenfalls nicht da durchtauchen«, stellte Hellas aufgebracht fest. »Für mich ist es schon entsetzlich genug, unter Millionen Festlitern von Stein in einer Höhle herumzukrauchen – ich werde mich nicht auch noch durch einen engen, wassergefüllten Tunnel zwängen.«
»Hellas«, mühte sich Rodraeg zu erläutern, »es hat gar keinen Sinn, dich dagegen zu stemmen. Was willst du denn sonst machen? Den ganzen Weg zurückklettern? Meistens gab es doch gar keinen anderen Ausgang mehr als den, der uns weiter hineinführte. Ich und die anderen, wir werden nicht umkehren. Wahrscheinlich sind wir ohnehin dem Zepter schon viel näher als dem Eingangstor. Ich kann dich zu nichts zwingen, aber gemeinsam haben wir es auf jeden Fall leichter als alleine.«
»Niemand soll meine Ängste sehen«, sagte Hellas, und er zitterte bei diesen Worten.
»Die Höhle weiß längst alles, was wir in unseren Köpfen mit uns herumtragen. Und von uns dreien braucht keiner bei dir zu sein, wenn du tauchst. Bestar bringt dir das Seil, schwimmt zurück, und dann ziehen wir dich zu dritt so schnell wie möglich durch das Wasser. Abgemacht?«
Der Bogenschütze ließ sich Zeit mit einer Antwort. Dann rang er sich zu einem »Ich werde es versuchen« durch.
Rodraeg legte Bestar die Hände auf die Schulter. »Hilf mir«, sagte er mit einem müden Lächeln.
Bestar half ihm, indem er ihn beim Tauchen mit sich zog. Bestars eigene innere Wunde war beim Schwimmen nicht so zu spüren wie beim Klettern, und tatsächlich ließ ihn der Tunnel bei allen weiteren Tauchgängen mit Erinnerungen an seinen Vater und Migal in Ruhe. Dafür sah er diesmal Szenen aus Rodraegs Leben – und selbst mit fest zusammengekniffenen Augen sah er sie noch, er konnte gar nichts dagegen tun. Rodraegs Erinnerungen tränkten ihn wie das Wasser, durch das er schwamm.
Er sah Rodraeg als Knaben, hübsch und wohlfrisiert, wie er auf einem Ast in einem sehr hohen Baum saß und sich nicht mehr herunterzuklettern getraute, nachdem er so hoch hinaufgestiegen war und immer noch einen Ast höher und noch einen. Er sah Rodraeg mit Anfang dreißig, wie er vor einem der Stadttore Aldavas verhielt und schließlich kehrtmachte. Er sah das Greisenkind, Riban Leribin, böse lachend und Marionettenspielerfäden in den Händen, wie er das Mammut lenkte und manipulierte, damit Terrek und die ganze Umgegend durch das Einleiten von Wasser in die brodelnde Schwarzwachsquelle verheert und verseucht wurden, damit das Sturmhaus des Wandryer Kapitänsrates in die Luft gesprengt werden konnte und damit den Riesen eine altertümliche Waffe überbracht wurde, die sie in die Lage versetzte, einen Krieg gegen die Menschheit zu beginnen, gegen die Tsekoh, zu denen die Menschen schon lange geworden waren. Und Bestar sah Rodraeg selbst, ein aufgedunsenes, Säure schwitzendes und Gift aushauchendes Ungeheuer, in dessen Inneren Schatten loderten wie Flammen in einem Großofen, das sie alle bespuckte und versengte mit ätzenden Worten und das ganz am Ende Naenns neugeborenes Kind tötete mit einem einzigen strahlenden Kuß.
Dann waren sie hindurch, und Bestar war erschütterter als Rodraeg, denn für Rodraeg waren all diese Bilder nichts Neues gewesen. Er rührte sie jeden Tag in seinem Herzen um und um wie ein Reisgericht, das am Topfboden nicht anbrennen durfte.
»Starker Tobak«, sagte Bestar. »Ich hatte geglaubt, meine größte Angst sei schon ziemlich herbe. Es ging darum, wie Migal meinen Vater getötet hat, um mir das Leben zu retten. Aber bei euch beiden« – er bezog Eljazokad ins Gespräch mit ein – »sind die schlimmsten Ängste noch gar nicht ausgestanden. Ich beneide euch nicht.«
»Migal hat deinen Vater getötet?« erkundigte sich Rodraeg vorsichtig.
»Ja«, bestätigte Bestar leichthin. »Das alte Dreckschwein hatte es tausendfach verdient. Migal war mehr Mann als ich, das macht mir daran wohl am meisten zu schaffen. Was hatte das bei dir mit dem Stadttor zu bedeuten?«
»Das war womöglich der Wendepunkt meines Lebens. Als ich mich gegen ein geregeltes Leben entschied, gegen eine Ehefrau und einen gutbezahlten Hauptstadtberuf. Aber Bestar – wir sollten Hellas nicht so lange alleine lassen. Der Ärmste hat es in Höhlen wirklich schwer genug.«
»Stimmt. Ich bringe ihm das Seilende.«
Drei Sandstriche später tauchte Bestar wieder auf. Er hatte die ganze Ausrüstung im Schlepptau, die sie abgelegt hatten, um beim Schwimmen nicht behindert zu werden. »Er sagt, er wird dreimal rucken, wenn er bereit ist, von uns gezogen zu werden.«
»Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Oh, er schimpft die ganze Zeit wie eine Schwarzdrossel, die eine Elster von ihrem Gelege fernhalten möchte. Wenigstens unter Wasser kann er nicht schimpfen.«
Sie warteten auf das dreimalige Rucken. Es dauerte so lange, daß Rodraeg besorgt Bestar schon wieder losschicken wollte, aber dann zuckte das Seil. Einmal, zweimal, dreimal.
Bestar, Eljazokad und auch Rodraeg gaben sich alle Mühe, Hellas so schnell wie möglich durch den Tunnel zu ziehen. Doch noch nie konnte ein Mensch seinen Erinnerungen mittels Geschwindigkeit entkommen.
Hellas sah genau das, was er am meisten befürchtet hatte.
Seine Frau, Saciel. Nackt, geschunden, zur Unkenntlichkeit entstellt.
Auf dem Tisch, dem Tisch der lüsternen Schlächter.
Wie sie ihn anflehte mit ihrem Mund, aus dem die Zähne gebrochen waren.
Wie er in seinen Fesseln das Brotmesser zu packen bekam und es warf.
Wie sie das überlebte, weil er nicht gut genug war als Messerwerfer, und wie das Messer sie langsam und qualvoll verröcheln und verbluten ließ, und wie sie ihn dabei ansah, vorwurfsvoll, »Was hast du getan?« – sie hatte genug Zeit, den eigenen Todeswunsch zurückzunehmen und wieder leben zu wollen, als es dazu bereits zu spät war.
Wie er dann Rache nahm an den drei Schändern, ihnen bis in ihre Särge folgte und sie dort marterte, und dabei so über sich selbst und seine Grausamkeit erschrak, daß seine Haare weiß wie Schnee wurden.
Wie ihm der Mut fehlte, sich selbst zu töten und ihr nachzufolgen, und sie dadurch immer weiter davontrieb in die Unendlichkeit, allein und ohne Halt, bis alle Hoffnung auf ein Wiederfinden ihm gestorben war.
Als ihn seine drei Gefährten aus dem Wasser zogen, weinte er und brüllte und spie, er schlug auf den Fels ein und auf sein verzerrtes, weißhaariges Spiegelbild im Kristall der Wände. Er wollte Riesen zerfetzen mit bloßen Händen, den Kreis in Brand setzen und alle Selbstgerechten gleich dazu, und er wollte Rodraeg das sinnlos lange Schwert entreißen und sich damit selbst in schreiende Stücke schneiden. Es dauerte den dritten Teil einer Stunde, bis er sich so weit beruhigt hatte, daß die anderen ihn loslassen konnten, ohne ihn fesseln zu müssen.
Rodraeg kam das Ganze unangenehm bekannt vor. Auch Migal hatte so getobt, als Bestar ihm den Fuß zerschmettert hatte, um ihn an einem Fluchtversuch aus der Schwarzwachshöhle zu hindern. Dadurch hatten sie Migal zwar das Leben gerettet, ihn aber als Freund und Mitstreiter verloren. Auch Hellas war jetzt ein Stück weit verlorengegangen. Rodraeg konnte von seinen Männern nicht erwarten, übermenschliche Opfer zu bringen für eine Sache, an die er in seinen düstersten Momenten selbst nicht mehr glaubte.
die trennenden rätsel
Nach einigen Stunden dringend benötigter Ruhe hatten sie sich soweit gesammelt, daß sie ihre Ausrüstung wieder anlegen und weitergehen konnten. Hellas bildete hinkend, zähneknirschend und sich an den Wänden abstützend, aber jegliche Hilfestellung von sich weisend die Nachhut. Rodraeg ging, von Bestar gestützt, vorneweg.
Der nächste Raum, den sie erreichten, bot ihnen vier identische Türen aus Stein. Es waren keine Türen für Riesen, eher für Menschen.
»Ihr habt bewiesen, daß ihr als Gruppe zusammenhaltet«, meldete sich die Stimme in ihren Köpfen wieder. »Nun aber schreite jeder durch eine andere Tür und löse dieselben Rätsel wie die anderen.«
Der Tonfall dieser Stimme war anders als zuvor, höflicher, weniger von oben herab. Rodraeg fragte sich, ob es überhaupt dieselbe Stimme war oder ob es unterschiedliche Stimmen gab, die den jeweiligen Räumen und Aufgaben zugeordnet waren. Lebten hier drinnen Riesen, die diesen Dienst versahen? Oder waren es gar keine Riesen, die für das Entzünden von Kerzen und das Bereithalten von Stimmen zuständig waren, sondern Untergrundmenschen, die seit dem Pakt zwischen beiden Völkern die Höhle des Alten Königs betreuten? Warteten sie seit eintausend Jahren auf würdige Bewerber, gaben sie die Riten des Prüfens von Generation zu Generation weiter? Oder stimmte es möglicherweise gar nicht, daß das Mammut in diesem Jahrtausend der erste und einzige Eindringling war? Vielleicht hatte es doch immer wieder Öffnungen des Tores gegeben, vielleicht auch von den Riesen selbst befürwortet und mit dem Schlüssel versehen – aber man hatte nie wieder von den Auserwählten gehört, weil sie hier drinnen gescheitert und gestorben waren.
»Tretet ein.« Die vier Türen senkten sich gleichzeitig knirschend in den Boden. Ein verborgener Mechanismus? Verborgene Bedienstete? Magie?
Rodraeg seufzte. »Tun wir’s. Wir sehen uns dahinter.«
Hellas sah aus, als wollte er Sätze äußern wie: »Was ist, wenn ich mich weigere?« oder »Ich werde mich nicht von euch trennen, nur weil die verdammte Höhle mir das so vorschreibt«. Aber er ließ es bleiben, weil ohnehin jedem klar war, wie es in ihm aussah, und er sich die Worte sparen konnte, da es keinen Weg zurück gab.
Sie traten alle vier durch eine andere Tür, Bestar nahm die linke, Rodraeg die zweite von links, Eljazokad die dritte von links, und Hellas humpelte durch die rechte. Hinter ihnen hoben sich die Türen wieder und schlossen oben ab. Jeder von ihnen war nun alleine in einer winzigen quadratischen Kammer gefangen.
»Die erste Frage lautet: Ist das Meer
tiefer
als einen Steinwurf?«
»Auf jeden Fall«, wollte Eljazokad zuerst antworten, weil er sich noch lebhaft an Wandry, die Flutwelle und das Stadtschiff erinnern konnte, aber dann fiel ihm ein, daß ein Stein, den man ins Meer wirft, sinkt und sinkt und sinkt, bis er den Grund erreicht hat. »Nein«, antwortete er deshalb, genau wie Rodraeg, der den Trick in der Frage durchschaute, und Hellas, der diese Art von Rätseln kannte, weil seine Schwester Nauske ihnen früher dergleichen vorgelesen hatte. Bestar war der einzige, der durch pures Glück auf die richtige Antwort kam. »So weit, wie ich einen Stein werfen kann, ist das Meer bestimmt nicht tief. Außerdem: Ein Riesenkönig kann einen ganzen Berg ins Meer werfen, und der guckt dann oben raus. Also: nein!«
Vor ihnen allen senkte sich die Wand, und sie konnten in eine zweite, dahinterliegende Kammer treten, die der ersten genau glich, weil hinter ihnen die Wand wieder hochfuhr und die Kammer eng machte.
»Die zweite Frage lautet: Vier Brüder
reisen
den ganzen Tag miteinander,
und keiner
kann den anderen
einholen.«
»Das sind wir!« fuhr es Rodraeg spontan durch den Kopf. »Wir vier. Vier Türen. Die Höhle baut sich für uns, mit jedem Schritt, den wir tun.«
Bestar wartete geduldig darauf, daß eine Frage kam, bis er endlich begriff, daß dies bereits die Frage war. »Leicht!« rief er lachend aus. »Das sind die Brüder Denneck, die waren so unglaublich dämlich, daß ganz Taggaran immer über sie gelacht hat. Nein, natürlich nicht. Oh, Entschuldigung – ist es möglich, mehrmals zu antworten? Das war natürlich nicht ernst gemeint.« Die Stimme antwortete nicht, aber der Boden unter seinen Füßen öffnete sich auch nicht zu einer speergespickten Fallgrube, also durfte er wohl noch weiterraten.
Hellas hatte die Antwort als erster. Diese Art der Fragestellung und die Denkweise, die damit verbunden war, erschienen ihm äußerst vertraut. Auch wollte er so schnell wie möglich aus diesen engen Kammern hinaus. »Was für ein unglaublich kindischer Schwachsinn«, dachte er, während er in die dritte Kammer schritt. »Erst wird man gefoltert, bis einem das Bein zerbricht, dann wird man mit seinen schlimmsten Alpträumen gepeitscht – und jetzt muß man Kinderrätsel lösen. Kein Wunder, daß die Riesen in einem winzigen Gebiet zusammengepfercht wurden und dort jetzt aussterben dürfen.«
Eljazokad dachte wieder an Schiffe, an vier Boote, die nebeneinanderher fahren, und hatte große Mühe, das Meer aus seinem Kopf zu bekommen. Nein, Boote konnten sich einholen. Auch die vier Hufe eines Pferdes können sich theoretisch berühren. Es muß etwas Unbeweglicheres sein, eine starre Konstruktion. Dann hatte er es: die vier Räder eines Wagens oder einer Kutsche.
Rodraeg kam ebenfalls auf die Lösung, als er beim Stichwort »Reisen« an Alins Haldemuel und seine Kutsche dachte. Alle waren nun in der dritten und letzten Kammer, nur Bestar saß immer noch in der zweiten fest.
Der Klippenwälder zermarterte sich den Kopf. »Vier Brüder. Vier Brüder. Das können natürlich auch Tiere sein. Vier Vögel. Vier Hirsche. Vier Fleischfliegen! Vier Fleischfliegen? Nicht, oder? Hmm. Vier Riesen! Wir vier, als wir Riesen waren, weil wir alle nacheinander gestorben sind! Hmm, meine Söhne vielleicht? Werde ich vier Söhne haben? Die können sich nie einholen, weil der älteste Bruder immer älter bleibt als die anderen, das ganze Leben lang. He, ist das immer noch nicht die Antwort? Vier Brüder. Vier Brüder. Mönche! Die Brüder sind Mönche! Reisemönche. Wandermönche. Dieser Wanderprediger, wie hieß er doch noch gleich? Ich konnte mir seinen Namen von Anfang an nicht merken. Nein? Nein, ich hab’s: die Geblendeten! Das waren doch auch vier! Und der Blauhaarige und seine Jungs, die hinter den Walen her waren und hinter dem Werwolf. Das waren vier, vielleicht waren sie Brüder! Och Mann, so langsam könnt ihr mich aber mal durchlassen. Wo gibt’s denn noch vier? Ja, natürlich! Wie kann man nur so blöd sein: die vier Elemente! Feuer, ähhh, Wasser, ähhh, Erde und … Wasser hatte ich schon … Luft. Die können sich auch nie einholen. Oder doch? Feuer und Wasser stoßen zusammen und werden zu … Dampf? Ich versteh’s nicht. Was wollt ihr denn bloß hören?« Ihm brach der Schweiß aus, und unwillkürlich erprobte er bereits die Stabilität der nach vorne führenden Wand, indem er sich dagegenstemmte. »Hallo? Rodraeg? Eljaz? Könnt ihr mich hören? Ich glaube, ich komme hier nicht mehr weiter! Wie ist die Antwort, könnt ihr mir mal aushelfen?« Nichts. Ihm war, als verpuffe seine Stimme in dieser winzigen Kammer wie eine Kerze, die nicht mehr atmen kann.
Er hockte sich hin und zwang sich zum Nachdenken. Die winzige Zelle schien mit ihm hangabwärts zu rollen, als wäre er in das Innere eines Würfels eingesperrt. »Vier«, murmelte er wieder und wieder. »Vier. Vier. Vier. Vier Jahreszeiten? Vier Meere, die den Kontinent umgeben? Vier Himmelsrichtungen? Die vom Kreis – sind das nicht auch vier? Ihre Namen bekomme ich nicht mehr zusammen, aber eine alte Frau ist dabei, ein Schmetterlingsmann, ein Untergrundmann, Gerimmir, und dann noch Riban, der Magier im Kinderleib. Vier. Viervier. Vier mal vier. Macht sechzehn, oder? Vier Brüder. Vier Schwestern. Ein vierblätteriges Kleeblatt. Soll Glück bringen. Vier Pfoten hat ein Hund. Vier Hufeisen braucht ein Pferdchen. Vier Finger habe ich und einen Daumen. Vier Finger! Ist ›Vier Finger‹ denn immer noch nicht die richtige Lösung? Was wollt ihr denn noch von mir? Ich halte das nicht mehr aus. Laßt mich doch bitte weiterkommen! Rodraeg kann ohne mich kaum laufen. Was ist, wenn er noch einen Anfall hat? Ich muß bei ihm sein! Ihr könnt mich doch nicht einfach hier einsperren!« Er sprang auf und warf sich gegen die Wand. Er brüllte und flehte. Er zog sein Schwert und schlug damit gegen den Fels, bis das Schwert sich in seiner Hand ganz stumpf und mürbe anfühlte. Seine Freunde hörten nichts von diesem Lärm, obwohl er selbst ganz taub davon wurde. »Vier Tatzen hat ein Bär!« schrie er. »Vier Gliedmaßen hat ein Mensch. Vier … Jahre regiert die Königin. Vier … Großeltern hat man, wenn alle noch am Leben sind. Vier … Götter sind die oberen Götter, und Afr ist meiner. Vier … Silben hat mein Name. Vier … Silben haben alle Namen bei den Riesen. Vier … Tage sind wir jetzt schon wahrscheinlich in dieser Höhle. Vier Brüder können sich immer einholen, weil Brüder nun einmal Brüder sind, und wenn sie sich nicht einholen könnten, dann sind es keine Brüder, sondern nur Lügner, verdammt noch mal!«
Die Wand vor ihm öffnete sich nicht, aber er hörte jetzt dieselbe Frage, die seine drei Gefährten auch hörten:
»Die dritte Frage lautet: Habe ich Wasser,
so trinke ich Wein,
habe ich kein Wasser,
so trinke ich Wasser.«
»Was?« schrie Bestar. »Was? Könnt ihr das noch mal wiederholen, bitte? Habe ich kein Wasser, trinke ich Wasser? Was soll das? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn mehr. Wie soll man Wasser trinken, wenn man keins hat? Ich verstehe das nicht. Warum stellt ihr mir Fragen, die keinen Sinn ergeben? Ich bin doch auf eurer Seite! Ich bin doch auf eurer Seite!«
Rodraeg und Eljazokad machten ebenfalls ratlose Gesichter. Hellas brauchte einen Sandstrich, um sich das Rätsel durch den Kopf gehen zu lassen, dann nannte er die Antwort und trat jenseits der dritten Wand in den größeren Raum dahinter. Es gab einen Ausgang, und das ferne Brausen von wildem Wasser ließ die Luft erzittern. Die drei Türen seiner Gefährten waren noch geschlossen. Hellas trat zu der, die ihm am nächsten war, hinter der Eljazokad feststecken mußte. »Eljaz?« rief er. »Kommst du klar? Soll ich dir die Antwort sagen?« Doch vom Magier war nichts zu vernehmen, denn der konnte ihn nicht hören.
Eljazokad fand die Lösung durch das Wasser. Er ließ das Meer in seinem Kopf wieder zu, trieb unter Wellen und Stadtschiffkielen hindurch, schließlich wie ein Lachs einen Fluß hinauf, und dort begegnete er nach etlichen Furten, Wasserfällen und Stromschnellen den Gebilden, die die Antwort waren. Rodraeg hatte es schwerer, weil er sich nicht einem Element anvertrauen konnte, über das er ohnehin andauernd nachdachte. Er kam nach etlichen Sandstrichen des Nachdenkens auf die Lösung, weil er sich alles, was die Höhle ihnen bislang gezeigt, vermittelt und auch angetan hatte, nochmals durch den Kopf gehen ließ. Die Lösung zu diesem Rätsel mußte innerhalb des Erfahrungsbereiches eines Riesen liegen, also sollte das Riesenleben, das sie als Vision von der Geburt bis zum Tod durchschritten hatten, den Schlüssel enthalten. Mehrmals waren sie dort zu sehen gewesen, die großräderigen Wassermühlen, mit denen die Riesen ihr Getreide zu Mehl gemahlen hatten, als sie noch über das Land verfügten, um Ackerbau zu betreiben. Die Antwort auf die dritte Frage lautete »ein Müller«. Und als Rodraeg dann noch einmal kurz über alle drei Fragen nachdachte, fiel ihm ihr Zusammenhang auf. Erst das Meer, die Tiefe des Wassers. Dann vier Räder. Dann die Räder im Wasser, die Mühle, das Symbol für die glückliche Vergangenheit eines von den Menschen ins Unglück gedrängten Volkes.
die wütenden wasser
Hellas, Eljazokad und Rodraeg trafen sich jenseits der Rätseltüren wieder. Doch Bestar fehlte.
»Sorgt euch nicht um euren Freund«, sagte die Stimme, und erneut hatte Rodraeg den Eindruck, daß es sich um eine freundlichere Stimme handelte als zuvor. »Das Zepter hat sich seiner angenommen. Im Wildbart könnt ihr ihn wiederfinden.«
»Im Wildbart?« fragte Rodraeg nach. »Bestar ist im Wildbart?« Doch die Stimme antwortete nicht mehr. Nur das Brausen ungestümen Wassers war noch zu vernehmen. »Sind wir die ganze Zeit im Wildbart?« fragte Rodraeg seine beiden noch übrig gebliebenen Gefährten. »Das kann doch wohl nicht sein, oder?«
»Wann immer wir angefangen haben zu träumen«, bemerkte Eljazokad nachdenklich, »es war gewiß nicht vor dem Betreten dieser Höhle. Hier drinnen jedoch ist alles seltsam und möglich. Die vielen Treppenstufen, die vielleicht nur ganz wenige waren. Die Räume, die uns unsere Vergangenheiten zeigten und ein Leben als Riesen. Alles hier ist Schall und Trug. Bestar steckt wahrscheinlich einfach nur in den Rätseln fest, und eigentlich ist das nicht besonders überraschend.«
»Wir gehen weiter – ohne ihn?« Hellas blickte argwöhnisch zu dem Ausgang, aus dem das Brausen drang.
»Wir müssen wohl«, entschied Rodraeg matt.
»Aber – was, wenn das wieder nur eine Prüfung ist? Wenn die Stimme uns einfach anlügt? Sie sagt ›Sorgt euch nicht um ihn‹, und in Wirklichkeit wird er langsam zu Tode gequetscht, und hinterher sagt uns die Stimme ›Tjaaa, ihr dummen kleinen Menschlein, ihr hättet mir eben nicht trauen dürfen, selber Schuld, es war halt eure Aufgabe, das alles zu durchschauen!‹«
»Hellas« – Rodraeg lächelte ein wenig –, »wenn du klingst, als ob du kurz vorm Überschnappen wärst, machst du mir Angst, und Angst kann ich in meinem Zustand nicht auch noch verkraften.«
Verwirrt brabbelte Hellas etwas in seinen mehrtägigen Stoppelbart, aber keiner der beiden anderen konnte verstehen, was.
Sie ließen die drei geöffneten und die eine noch geschlossene Rätseltür hinter sich und gingen durch einen schmalen, aber immerhin riesenhohen Gang weiter, bis sie nach dreihundert Schritten an einen reißenden Strom gelangten, der in einem scharf umrissenen und deshalb an einen Kanal erinnernden Steinbett an ihnen vorüberraste. Der Lärm war ohrenbetäubend und füllte das gesamte Innere eines offensichtlich gewaltigen Felsendomes. Nachdem ihre Augen sich einigermaßen an das Licht gewöhnt hatten, das von verstreut im gesamten Areal stehenden Kerzen kleckerte, begriffen sie die ganze phantastische Konstruktion. Das tobende Wasser floß im Kreis.
Direkt vor ihnen strömte es von links nach rechts vorüber, beschrieb dann in seinem Bett eine Kurve nach hinten, floß dort in etwa hundert Schritt Entfernung von rechts nach links wieder zurück und schließlich nach einer nach vorne führenden Kurve wieder direkt an ihnen vorbei. Das Ganze erinnerte Rodraeg an die Rennbahn, die es in der Hauptstadt gab, nur daß hier eben keine Wagengespanne durch den Sand rasten, sondern Wasser mit einer durchaus an einen Wagen gemahnenden entfesselten Geschwindigkeit. Wie das funktionierte, weil kein Gefälle im Spiel war, das das Wasser zum Stürzen hätte veranlassen können, und es auch mit einem Gefälle niemals einen in sich selbst mündenden Kreislauf hätte ergeben können, blieb ein Rätsel, wie so vieles in dieser immer wieder aufs neue ausufernden Höhle.
Tatsache war, daß der Strom an allen Stellen zehn Schritte breit war, ähnlich dem Abgrund, den sie nur mit Hilfe der Fleischfliegen hatten überqueren können, und genauso unmöglich zu überspringen. Außerdem war das Ufer der vom Wasser umrundeten Mittelinsel glatt wie poliert, wieder einmal konnte man den Wurfhaken nirgends festmachen. Und dann fiel ihnen allen ein, daß der Wurfhaken und das lange Kletterseil bei Bestar waren. Sie hatten jetzt nur noch die zehn Schritte Seil, die Rodraeg schon immer mit sich herumschleppte, und die reichten kaum aus, den Strom zu überspannen, geschweige denn, dann noch jemanden daran festzuhalten.
»Wir binden uns aneinander und überantworten uns der Strömung«, sagte Eljazokad. Der umherspritzende Gischtnebel netzte sein Gesicht. »Das ist es, was die Stimme uns sagte, nachdem wir das Riesenleben durchschritten hatten. ›Fügt euch den Kräften, um aus ihnen hervorzugehen.‹ Wir sollen in den Wasserkreislauf eingehen, um dann irgendwo aus diesem herausgeschleudert zu werden. Es gibt nur ein Problem.«
»Das Wasser ist eiskalt, die Strömung wird uns zerschmettern, Rodraeg kann ohnehin nicht mehr atmen, mein Bein ist so gut wie gebrochen, und du halbes Hemd kannst uns beide niemals tragen«, nickte Hellas.
»Das meinte ich gar nicht. Also gut: sechs Probleme. Das, was ich meinte, ist: Ich kann da nicht reingehen. Das Stadtschiff wird mich holen.«
»Ach, hör doch endlich auf mit deinem beschissenen Stadtschiff!« regte Hellas sich auf. »Ich kann es nicht mehr hören! Was tut dieser Kahn dir denn an? Als du ihm in Wandry begegnet bist, ist dir nichts passiert. Hier im Unterwassertunnel ist dir auch nichts passiert außer einer lächerlichen Beule am Kopf. Die Kruhnskrieger waren gefährlicher. Dascos Wölfe waren gefährlicher. Der Blauhaarige und seine Mammutfellkameraden waren gefährlicher. Sogar diese wimmelige Spinnenbrut neulich war gefährlicher. Du gehst jetzt mit uns ins Wasser, und wenn dein Hosenscheißerschiff auftaucht, puste ich es mit einem ›Buh!‹ über den Horizont ins Nichts. Los jetzt, her mit dem Seil, ich knote uns aneinander, damit keiner sich unterwegs davonmachen kann wie Bestar.«
Eingeschüchtert vom Ausbruch des Bogenschützen, ließen Eljazokad und Rodraeg die Prozedur über sich ergehen.
»So«, sagte Hellas, nachdem er fertig war. »Meine Bogensehne wird jetzt zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden naß, das ist überhaupt nicht gut für sie. Aber das ist ja egal, weil wir jetzt sowieso alle drei absaufen. Hast du keine schönen letzten Worte mehr auf Lager, Rodraeg?«
Rodraeg schüttelte den Kopf. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, ein Schemenreiter ohne Pferd, ausgehöhlt von Schwäche, Erschöpfung, Krankheit und echter, in allen Eingeweiden wühlender Todesangst.
»Dann wollen wir doch mal sehen, wie gut ein Mammut schwimmen kann«, sagte Hellas, sprang über die Kante und riß die beiden Zögerlichen mit. Niemand schrie. Das Wasser war ohnehin zu laut.
Der Kälteschock drosch auf sie ein wie eine Riesenfaust aus Eis. Rodraeg verlor sofort das Bewußtsein, Eljazokad und Hellas prusteten und paddelten um die Wette. Im Nu hatten sie die Kurve erreicht, wurden nach außen gedrückt, scheuerten am glattbehauenen Fels entlang, gingen unter, tauchten fingernd wieder auf, zerrten aneinander und an Rodraeg. Hellas brachte Rodraegs Kopf über Wasser, indem er Rodraegs Hals in seiner Armbeuge festklemmte. Die Gegengerade. Sie lösten sich wieder ein Stück weit vom Außenufer. Nirgends ein Halt. Die Kerzenlichter wurden zu waagerechten Streifen. Eljazokad brüllte etwas, aber Hellas konnte es nicht verstehen. Die zweite Kurve, die wieder zum Anfang zurückführte. Hellas versuchte sich jetzt aufwärts zu bäumen, er spürte eine Verzweiflung in sich, wie er sie seit dem Tag von Saciels qualvollem Sterben nicht mehr gespürt hatte, ertaubt von zuviel Grauen, doch er begriff jetzt auch die strukturelle Verbindung zwischen dem Tauchtunnel und diesem Wasserkreislauf, und er haßte die Riesen für die Eitelkeit ihrer Folterkonstruktionen. Sie rasten jetzt wieder die Gerade entlang, an der sie gestartet waren. Hellas geriet unter Wasser. Es war süß, nicht nur nicht salzig, sondern regelrecht süß, wie mit gelöstem Zucker versetzt. Die Fleischfliegen tranken so etwas wahrscheinlich gerne. Erneut die erste Kurve. Eljazokad war schon eine ganze Weile nicht mehr aufgetaucht. War er bereits ersoffen?
Nein, Eljazokad wandte einen eigentümlichen Trick an. Das Stadtschiff war nicht aufgetaucht, dennoch hatte er sich inzwischen so unglücklich im Seil verheddert, daß Hellas’ Anstrengungen, Rodraegs Kopf über Wasser zu halten, gleichzeitig Eljazokad unter Wasser drückten. »Ich kann nicht einfach so ertrinken«, dachte sich der Magier. »Nicht ohne irgendeine Art von finaler Konfrontation.« Was hatte die Höhle gesagt? Von nun an gibt es keine Gegner mehr außer euch selbst. Es gab hier nichts zu bekämpfen. Außer dem eigenen Unvermögen.
Eljazokad sehnte sich das Stadtschiff von Tengan herbei und benutzte dessen Decksplanken als Floß. War es Magie? War es Wahnsinn? Jedenfalls konnte er sich mit den Beinen von etwas abstützen, das ihm unter Wasser Halt verlieh. Er tauchte auf und atmete. Soeben schlingerten sie wieder – sich wie in einer höfischen Tanzformation umeinander drehend – eine lange Gerade entlang, ob es die ursprüngliche oder die gegenüberliegende war, vermochte schon keiner von ihnen mehr zu unterscheiden. »Nach innen!« brüllte Eljazokad wieder dem Bogenschützen ins leichenbleiche Gesicht. »Wir müssen nach innen!«
»Aber wir werden doch immer nach außen gedrückt!« gurgelte Hellas verzweifelt zurück.
»Wir müssen uns von der Außenwand abstoßen.«
Sie versuchten es. Die nächste Kurve war schon wieder vorüber. Sie nutzten die folgende Gerade, um ihre Positionen zueinander etwas zu stabilisieren, dann, eingangs der nächsten Kurve, stießen sie sich von der Außenwand ab, Eljazokad mit beiden Beinen, Hellas mit den Armen. Verblüffend leicht trudelten sie nach innen. Die Fließgeschwindigkeit nahm hier noch zu, so daß sie mit den Köpfen eher aus dem Wasser gehoben als unter Wasser gedrückt wurden. Der kreisförmige Strom schien zu kreischen wie ein ganzes Heer. Sie schabten an der Innenseite einer Geraden entlang – und wurden plötzlich ein paar Treppenstufen hinaufgespült. Ein stufenförmiger Vorsprung in der Mitte der zweiten Geraden, welcher aufgrund der trügerischen Beleuchtung nicht zu sehen gewesen war.
Sie beeilten sich, Rodraeg die Stufen hoch und auf die Sicherheit der Mittelinsel zu zerren.
»Woher wußtest du das?« schnaufte Hellas.
»Ich habe das Licht der Kerzen für meine Augen ein kleines bißchen heller gemacht.« Eljazokad bibberte mit vor Unterkühlung bläulichen Lippen. »Mir war so, als hätte ich diesen Vorsprung beim Vorübertrudeln gesehen, aber wirklich sicher konnte ich nicht sein.«
»Und was nützt uns das? Jetzt sitzen wir auf der Mittelinsel fest, vom wahnsinnigen Wasser umzingelt.«
»Egal. Wir wären beinahe ertrunken. Daß wir jetzt hier sitzen und schimpfen können, ist auf jeden Fall eine Verbesserung, findest du nicht auch?«
»Das stimmt.«
Sie kümmerten sich um Rodraeg. Ihr Anführer war inzwischen häufiger bewußtlos als bei Sinnen. Es war eine absurde Idee gewesen, ihn überhaupt auf diese Mission mitzunehmen.
»Er ist völlig ausgekühlt«, stellte Hellas fest. »Kannst du die Kerzenlichter größer machen, so daß wir eine Art Lagerfeuer hinbekommen?«
»Ich kann sie heller machen, aber mit Wärme hat das leider nichts zu tun.«
»Ich dachte, du bist ein Lichtmagier.«
»Ja, aber kein Feuermagier.«
Hellas knurrte etwas. Ihre gesamte Kleidung war klatschnaß, sie hatten nichts Trockenes, in das sie Rodraeg hätten hüllen können. »Wenn wir gewußt hätten, daß wir auf der Mittelinsel landen, hätten wir unsere Kleidung bündeln und auf die Insel werfen können. Es ist zum Kotzen, wie man hier in die Irre geführt wird.«
»Ich bin mir noch nicht sicher, ob wir hier richtig sind. Die Stimme sagte: Fügt euch den Kräften, um aus ihnen hervorzugehen. Wir haben uns aber nicht gefügt, sondern haben die Richtung mitbestimmt. Andererseits: Wozu sonst dienen diese Stufen auf der Insel?«
»Vielleicht wären unsere Leichname nach zehn Umdrehungen auf jeden Fall hier hinaufgespült worden. Was hat die Stimme eigentlich noch gesagt? Was kommt jetzt noch?«
»Geht weiter und begegnet euch selbst. Als letztes begegnet dem Zepter.«
»Dann haben wir es ja bald geschafft. Die Begegnung mit uns selbst wird natürlich die Hölle, aber danach haben wir den willkürlichen Mist hinter uns. Komm, laß uns einen Ausgang suchen.«
Tatsächlich fanden sie einen. In der Mitte der Insel war eine rechteckige Fuge im Boden, und als Hellas an allen die Fuge umgebenden Reliefornamenten herumtastete, öffnete sich das Rechteck zu einer abwärts führenden Stiege.
Eljazokad staunte. »Wir sind richtig. Seltsam eigentlich.«
»Ich wundere mich über gar nichts mehr.« Der Bogenschütze humpelte zu Rodraeg zurück. Da keiner von ihnen kräftig genug war, sich Rodraeg auf die Schulter zu laden, mußten sie abwarten, bis dieser wieder zu Bewußtsein kam. Sie hielten ihm das Salzfäßchen unter die Nase, massierten und tätschelten ihn. Dennoch dauerte es zwei Stunden, bis Rodraeg wieder die Augen aufschlug.
Es sah aus, als wäre es das letzte Mal. Von Raum zu Raum in dieser Höhle war Rodraeg eingefallener, älter und schwächer geworden. Seine Augen hatten bereits jenen eigentümlichen Glanz, den man bei Sterbenden beobachten kann. Sein Gesichtsausdruck sagte »Wer seid ihr?«, und er fragte: »Wo sind wir?«
Sie erklärten es ihm.
»Wo ist Bestar?« begehrte er zu wissen, und als sie ihm auch dies zu erklären versuchten, gab er sich nicht zufrieden. »Wir … müssen … auf ihn warten. Wir … können nicht einfach ohne ihn weiter. Wenn er … jetzt nachkommt, können wir ihn zu dritt am Seil über den Fluß ziehen.« Auf allen vieren kroch Rodraeg zu der Stelle, die dem in diese Kuppel führenden Eingang gegenüberlag. Dort setzte er sich hin und spähte ins Dunkel, den Klippenwälder erwartend.
»Warum holen wir nicht erst das Zepter und anschließend Bestar?« versuchte Hellas Rodraeg zum Weitergehen zu bewegen, doch der hörte gar nicht richtig zu. Der Lärm des Wassers übertönte vieles.
In Rodraegs Kopf war alles leicht und sonderbar. Wenn er die Augen schloß, kaum blinzelte, und sie wieder öffnete, waren inzwischen Sandstriche oder sogar Sechstelstunden vergangen. Seine Lunge schmerzte beim Ein- und Ausatmen, aber er hatte auch Schmerzen im Kopf, wie bei einer Erkältung. Kalt war ihm nicht, obwohl er in einem nassen Büßergewand auf einem Stein am Rande eines eisigen Stromes saß und es keine Sonne gab, weil sich nicht nur Wolken, sondern ein ganzer Berg zwischen sie und ihn geschoben hatte.
Wie immer seit Beginn dieses Jahres versuchte er, sich selbst und die vielen Schatten, die ihn umgaben, dadurch zu ordnen, daß er an das Schmetterlingsmädchen dachte, deren Name so ähnlich klang wie ein »Nein«.
Diesmal jedoch wollte es ihm nicht gelingen. Naenn war ihm so nahe, daß sie ganz unscharf und durchscheinend aussah. Statt dessen traten andere Erinnerungen deutlich hervor. Baladesar und Kiara, wie sie gewesen waren, als der Wettkampf um Kiara noch nicht vollständig entschieden gewesen war. Baladesar, leicht dicklich und mit Augengläsern, wie er zuletzt ausgesehen hatte, bei ihrem ersten Treffen seit vielen Jahren, in Aldava. Kiara, wie sie zuletzt ausgesehen hatte, mütterlich und reif. Die beiden Töchter. Dann Benter Smoi seltsamerweise, der angenehme Händler, der Rodraeg den Kopf von Oobo verkauft hatte. Über die dunkle, fremdländische Würde des hölzernen Kopfes kam Rodraeg auf Timbare, den Gast der Gründungssitzung, der prophezeit hatte, daß es das Mammut nach nur einem Jahr schon nicht mehr geben würde. Über Timbare zu dem zwergwüchsigen Magier, der in Wandry zu gleißendem Licht geworden war. Über das Licht zu Eljazokad. Über Eljazokad zu Zarvuer, dem Rodraeg nie begegnet war und der nun das Gesicht eines alten Mannes annahm, das Rodraeg an das Gesicht seines Vaters erinnerte, Esair Delbane. Über Zarvuer und seinen Vater zu Riban Leribin, den großen Seher und Verheimlicher. Und dann, eher unerwartet, zum Gesicht von jemandem, dessen Namen Rodraeg schon längst wieder vergessen hatte, obwohl er ihn zwei- oder dreimal gehört hatte. Ein blonder, tumb aussehender Bursche. Auf dem großen Ritterturnier von Endailon war Rodraeg ihm zweimal gegenübergestanden. Beim Ringkampf hatte er ihn noch überwältigen können, weil Rodraeg in der Schule die Techniken der Sonnenfelder gelernt hatte und die überlegene Kraft des Blonden durch Erfahrung hatte aushebeln können. Doch dann, beim Faustkampf, hatte der Blonde Rodraeg dermaßen hart die Faust ins Gesicht gedroschen, daß Rodraeg erst zwei Stunden später wieder aufwachte, um zu erfahren, daß das Turnier längst ohne ihn weitergegangen war. Ähnlich wie bei Ryot Melron, der ebenfalls eine Lücke in Rodraegs Leben gerissen hatte und in dieser Lücke sogar ein magisches Kind mit einer Jungfrau zeugte.
Aus Hessely hatte der Blonde gestammt, und er war dumm und ungebildet gewesen, mit nichts als Wut in seinen Fäusten. Vielleicht war Rodraeg deshalb nach dem Turnier in die Provinz Hessely gereist, um anderen blonden Kindern ein Lehrer zu sein. Eine Art Abbitte für den verlorenen Kampf, oder eine Art Rache, weil Rodraeg so anderen blonden, ungebildeten Kindern hatte zeigen können, wie wenig von der Welt sie wußten. Dann die Jahre bei dem ausgesprochen unsympathischen Schulzen von Kuellen. Auch dies eine heimliche Rache, das Vergelten von Eigennutz mit Tüchtigkeit, um die Fundamente dieses Mannes in den Augen seiner Bürger langsam zu unterspülen? Die Kuellener waren ausgesprochen nett zu ihm gewesen, besonders die älteren Damen, aber er hatte dort nie ein Häuschen bezogen. Eine Art Rache, weil sie keine Hauptstadtgebildeten waren wie er? Das Mitgehen mit Naenn eine Art Rache an Kuellen und Aldava zugleich, die ihm beide nie die Möglichkeit geboten hatten, sich über alle anderen zu erheben? Rodraegs anerzogene Höflichkeit und Freundlichkeit nur die Fassade eines Menschen, der tief in seinem Inneren Groll hegte gegen vieles, gegen Baladesar und Kiara vielleicht, gegen seine Eltern womöglich, die mit ihrem engstirnigen Geschäft wie Felsklötze an ihm hingen, gegen den Blonden aus Hessely mit seiner dümmlichen Geradlinigkeit wahrscheinlich und gegen sich selbst mit Sicherheit? Die zum Tode führende Krankheit, das schwarze Wüten in seinem Atmen, nur eine lange überfällige Eruption dieses sechsunddreißig Jahre lang herumgetragenen, unehrlichen Grolles?
Es wurde Zeit, sich von diesem abgenutzten Körper zu verabschieden.
In den Sonnenfeldern glaubte man, daß die Toten in das Land des Geisterfürsten kamen, um dort bestraft zu werden für jede unlautere Tat und jeden durch Eigennutz getrübten Gedanken. Rodraeg würde schon bald herausfinden können, ob dieser Glaube der Wahrheit entsprach.
»Glaubetrech«, sagte er leise. »So hieß der Blonde aus Hessely. Irds Glaubetrech.«
Neben ihm saßen Hellas und Eljazokad und starrten erschöpft auf das tosende Wasser.
Rodraeg blinzelte und ließ dadurch wieder Zeit verstreichen, Lücken entstehen. »Wie lange haben wir jetzt auf Bestar gewartet?« fragte er.
»Ein paar Stunden«, murrte Hellas.
»Dann wird er nicht mehr kommen. Gehen wir weiter, wir sind hier noch nicht fertig.«
»Endlich!« Der Bogenschütze mühte sich auf die Füße. »Wir sind halb erfroren. Nicht jeden wärmt ein Fieber, Rodraeg.«
»Aber haben wir denn nicht Sommer?«
»Draußen vielleicht. Wo immer das sein mag.«
der innenraum
Schließlich begegneten sie sich selbst.
Nach einer ins Dunkel führenden Treppe, durch Eljazokads Magie zu einem sanften Braunton erhellt.
Nach einem Gang, der breiter und schmaler wurde wie etwas, das lebendig gewachsen war.
Nach einem ebenen Pfad, der ein linker Hand und rechter Hand unbeleuchtet bleibendes Tropfsteinfeld durchmaß.
Nach einer niedrigen Pforte aus gefrorenem Basalt.
Begegneten sie sich selbst.
Sie standen sich gegenüber. Die anderen drei sahen höhnisch aus und ausgeruht, aber sie trugen dieselben Büßergewänder und hatten dieselben Waffen und Ausrüstungsteile bei sich wie ihre Ebenbilder.
Rodraeg, Hellas und Eljazokad trauten ihren Augen nicht, glaubten an einen Spiegeltrick oder an eine magische Vorgaukelung, doch dann legte der andere Hellas einen Pfeil auf und schoß dem echten Hellas in den Leib. Jeglicher Zauber und Zweifel verflog. Röchelnd brach der echte Hellas zusammen.
Seine Hände versuchten ganz instinktiv, noch im Liegen nach seinem Bogen zu fassen, doch da war nichts außer Blut. Der zweite Hellas legte einen Pfeil nach.
»Halt!« schrie Eljazokad panisch und stellte sich zwischen den Bogenschützentäter und das Bogenschützenopfer. »Keine Gewalt! Wir werden euch nicht bekämpfen! Darum geht es doch hier, oder? Daß wir uns nicht bekämpfen. Daß wir einsehen, daß wir eins sind, auch wenn wir nicht immer mit uns selbst im reinen sein mögen?«
Der falsche Hellas schoß, geschickt und beherrscht wie der echte, zwischen Eljazokads Ellenbogen und Körper hindurch, ohne den Magier zu streifen. Der Pfeil bohrte sich in Hellas’ Körper, der bäumte sich noch einmal auf, stieß gedehnt den Namen »Nauske« hervor und erschlaffte dann im Tod.
Höhnisch starrte der falsche Hellas Eljazokad an, der immer noch beide Hände zum nutzlosen Zeichen der Friedfertigkeit erhoben hatte.
Dann sprang der falsche Eljazokad von der Seite her den echten an, riß ihn zu Boden und begann, ihn zu erwürgen. Eljazokad wehrte sich verzweifelt, aber sein Spiegelbild hatte nicht die Erschöpfung der Höhlendurchquerung in den Knochen. Die Hände schlossen sich wie Eisenklammern um seinen Hals.
Der falsche Rodraeg zog seinen Anderthalbhänder in einer fließenden, selbstsicheren Bewegung, zu der der echte Rodraeg noch niemals fähig gewesen war. Rodraeg, der begriff, daß alle Ansätze des Nachdenkens hier verfehlt waren, daß man ganz urtümlich handeln mußte, aber es genaugenommen dazu schon zu spät war, weil Hellas bereits tot war und Eljazokad besiegt, versuchte zurückzuweichen und ebenfalls sein Schwert zu ziehen, aber er konnte es gar nicht mehr greifen. Seine Hand fuhr wie in Wasser durch den Griff. Gleichzeitig kollabierte seine Lunge, von Furcht und Verlassensein um ihren letzten fadenscheinigen Zusammenhalt gebracht. Blut breitete sich in seinem Inneren aus wie ein kriegerisches Volk. Seine Knie gaben nach, und er schlug auf den Stein, ein letztes Mal von fremder Gewalt übervorteilt. Der andere Rodraeg, der frisch aussah und gesund, stand über ihm und betrachtete sein Sterben, das Schwert nicht wie zum Schlag erhoben, sondern eher, als wolle er dem Sterbenden Schutz und Obdach gewähren.
Eljazokad zückte seine letzte Karte, blendete seinen mörderischen Zwilling mit einem Lichtblitz, der direkt aus seinen Augen schoß. Das blendete auch ihn, und blind tappten beide auf Knien und Händen über den kalten Boden, bis es dem echten Eljazokad gelang, den falschen umzureißen und vor ihm auf die Beine zu kommen. Langsam klärte sich sein Blick. Hellas war tot, von sich selbst erschossen. Rodraeg würgte im Liegen schwarzroten Gewebeschleim hervor.
Eljazokad wollte von hinten an den stehenden Rodraeg herankommen und ihm das Schwert entwinden, um an eine Waffe zu gelangen. Vielleicht lag in der Selbstüberwindung der Schlüssel. Wenn er, der notorisch Unbewaffnete, zur Waffe griff, um seine Freunde zu verteidigen, dann mußte die Höhle dies anerkennen. Doch Eljazokad kam nicht weit genug. Blick und Gesichtsausdruck des falschen Hellas stoppten ihn. Die drei Doppelgänger sprachen kein einziges Wort, ächzten nicht einmal oder atmeten schwer, aber es gelang dem falschen Hellas dennoch, Eljazokad mit einem wilden und unbezähmbaren Blick klarzumachen, daß es keine Zuordnung gab. Hellas war nicht nur für Hellas zuständig. Hier kämpfte ein Mammut gegen ein anderes.
Der erste Pfeil traf Eljazokad in die Seite, zerriß seine Eingeweide und riß ihn zu Boden wie ein mit Widerhaken versehener Anker. Der zweite Pfeil traf ihn durch den rechten Unterarm, den Eljazokad schützend erhoben hatte, weil er Zeit gewinnen wollte, um sich noch einmal auf das Stadtschiff konzentrieren zu können. Jene Prophezeiung seines Vaters-Unser Sohn ist für das Stadtschiff von Tengan markierterschien ihm seit dem Kreislauf des rasenden Wassers nicht mehr als eine Drohung, sondern eher als Chance. Er war jetzt nur zu bereit, nach Etridti Djuzul zu gehen, wo immer das auch liegen mochte, als Rudersklave oder Deckschrubbmatrose, ganz egal, nur fort von diesem Ort des Untergangs. Doch der dritte Pfeil des falschen Hellas durchbrach Eljazokads Schädel wie eine übergroße Nuß, und kein Wunschtraum konnte diesem Einschlag standhalten.
»Was machst du denn hier?« fragte das Echo einer wunderschönen Frau mit silbern spiegelnden Augen. »Du solltest doch längst tot sein.«
Rodraeg sah aus den Augenwinkeln Eljazokads schreckliches Ende. Seine letzte Hoffnung galt Bestar, der womöglich entkommen war, in den Wildbart, und von dort aus den Weg zurück nach Warchaim finden konnte. Das Mammut war nicht tot, solange Naenn, Cajin und Bestar noch lebten und es den Kreis noch gab. Ein neuer Anführer mußte gefunden werden, einer, der nicht ganz so ein lächerlicher Schwächling war wie Rodraeg Talavessa Delbane aus Abencan. Den Riesen konnte Bestar beweisen, daß das Mammut alles gegeben hatte und am Schluß nur an sich selbst gescheitert war.
Rodraeg wunderte sich darüber, daß an der Decke dieses Raumes eine siebenzackige Sonne funkelte, die ihm sehr vertraut vorkam.
Als sein Kopf ein Stück weit zur Seite kippte, konnte er sogar das doppelflügelige Tor erkennen.
Sie waren wieder am Anfang.
Am Ende.
Am Anfang.
Er schloß die Augen und starb zum ersten Mal.
das
er öffnete die Augen und blickte auf sich selbst hinab
vergessene
war tot war tot war tot tot tot
blut- und totverschmiert und elend
zepter
das siebenstrahlig sonnenbild: der ganze tanz in milchig licht
die einen: hingesunken
die anderen sind es nicht
Dies war der am schwersten zu begreifende Augenblick, den Rodraeg jemals erlebt hatte: einfach nur zu verarbeiten, was überhaupt geschehen war.
Er stand da, das unblutige Langschwert in der Hand, und vor ihm auf dem Boden lag ein toter Rodraeg, dem selbst jetzt noch schaumiges, mit schwarzen Brocken durchsetztes Blut aus dem Mundwinkel rann. Eljazokad lag ebenfalls tot da, ein Pfeil hatte ihm den Kopf zerschmettert, zwei andere steckten noch in ihm. Ein zweiter Eljazokad stand noch, faßte sich an den Kopf, schwankte und ließ sich dann in eine sitzende Haltung auf den Boden fallen. Schwer atmend gab er schluchzende Geräusche von sich.
Hellas gab es ebenfalls zweimal. Einmal von Pfeilen durchbohrt, einmal mit dem Mordbogen in der Hand, sich umblikkend, auch Rodraeg ansehend. »Ich habe das Gefühl, noch am Leben zu sein«, sagte Hellas langsam. »Aber ich kann mich auch ans Erschossenwerden erinnern. Wer sind wir jetzt?«
»Geheilt«, sagte die tonlose Stimme der Höhle, und zum ersten Mal hatten sie das Gefühl, die Stimme nicht nur im Inneren ihrer Köpfe zu hören. »Ihr seid geheilt. So, wie ihr wart, beladen und versehrt, konntet ihr das Zepter nicht empfangen. Doch nun ist der eine dem Schiff entkommen. Einer entwich dem berstenden Gift. Einer streifte ab den Schmerz. Der vierte ist wohlbehalten zu den Riesen gekommen, weil sie seiner bedurften in einer Stunde der Not. Empfangt nun das Zepter, den Stab der Fliegen, doch erweist euch seiner auch würdig auf dem Weg durch das Land. Die Fliegen dulden keinen Zweifel. Eher werden sie verzehren, was Rulkineskars Erbe ist, als daß die Schatten nährt der lichtspendende Stab.«
Einer der von der Decke hängenden Tropfsteine begann zu zittern, dann brach er ab und stürzte auf den Boden. Dort zerbarst er knallend in tausend Stücke. In seinen Trümmern kam ein golden funkelnder Stab zum Vorschein, annähernd zwei Schritte lang, unregelmäßig geformt, als sei er aus Holz gewachsen, und dennoch eher metallisch.
Nach einem Moment der Verblüffung brach Hellas in schallendes Gelächter aus. »Er war die ganze Zeit hier, im allerersten Raum. Wir hätten uns den ganzen Mist auch sparen können. Aber ich fühle mich großartig! Mein Bein ist wieder heil, seht ihr?« Zum Beweis hüpfte er ausgelassen herum.
»Such nach alten Narben«, sagte der am Boden sitzende Eljazokad.
»Was?«
»Such nach alten Narben. Irgend etwas von früheren Kämpfen oder aus der Kindheit.«
Hellas hob sein Höhlengewand, untersuchte sich hier und dort, tastete sich ratlos ab, besah sich zuletzt seine Finger. »Wie oft habe ich mich geschnitten«, sagte er. »An Wurfklingen und auch an der Bogensehne, als ich noch ungeübter war. Meine Finger sahen ziemlich verhornt und kaputt aus. Nun sind sie frisch und rosig wie die eines Säuglings. Wie neugeboren.«
»Wir wurden neugeboren«, bestätigte Eljazokad. »All die Prüfungen, die wir in der Höhle durchschreiten mußten, all das Durchforschen von Körper und Wissen und Erinnerung diente lediglich dazu, daß das Zepter uns diese neuen Körper erschaffen konnte. Die neuen Körper haben die alten mit den Waffen getötet, die es wiederum nur einmal gab. Unsere Seelen gingen in die neuen Körper über zum Zeitpunkt des Todes. Wir sind wir, aber neu. Das ist nicht ganz unproblematisch.«
Rodraeg hatte die ganze Zeit einfach nur zugehört und zugeschaut. Der Anblick seines eigenen Leichnams zog ihn in seinen Bann. Ein makaberes Spektakel, das einem die Doppelgründigkeit allen Seins vor Augen führte. Darüber hinaus hatte er das Gefühl, daß man das Zepter Rulkineskars nicht lange so achtlos auf dem splitterübersäten und blutverschmierten Boden herumliegen lassen sollte. Doch zuvorderst war Rodraeg einfach nur mit Leben beschäftigt.
Er atmete ein und atmete aus.
Er atmete ein und atmete aus.
Kein Schmerz. Kein Hustenreiz. Kein Schwarzwachsgeschmack auf der Zunge.
Er war geheilt. Vollkommen geheilt. Riban Leribin hatte ihn doch nicht preisgegeben, denn die Heilung war der Auftrag, auf den sie die ganze Zeit hingearbeitet hatten.
»Was meinst du mit: Das ist nicht ganz unproblematisch?« fragte er den Magier vorsichtig, wie um einen seltenen Traum nicht zu zerstören.
Eljazokad überlegte sich die Wahl seiner Worte gut. »Nun, ich fürchte, ich habe die Verbindung zum Stadtschiff verloren, die irgendwie mein Erbe war und mir womöglich im Kreislauf des Wassers das Leben gerettet hat. Unsere Körper haben ihre Geschichte eingebüßt. In deinem Fall ist das sicherlich großartig, denn dein Körper war schwer krank und womöglich nicht mehr zu retten. Aber auch du hast etwas verloren, etwas, das dir die Schwarzwachsquelle anvertraut hat. Vielleicht wäre es besser gewesen, man hätte das verwandelt und in etwas Erträgliches überführt, anstatt alles zu löschen und von vorne anzufangen.«
»Wir fangen nicht von vorne an«, widersprach ihm Hellas. »Wir sind ja nicht als Kleinkinder wiedergekommen. Ich bin immer noch dreißig Jahre alt. Alle meine Erinnerungen sind bei mir. Nauske. Saciel. Sogar der häßliche Bestar.«
»Ja«, nickte Eljazokad. »Aber ich habe meine Magie verloren.«
»Deine Magie?« hakte Rodraeg nach. »Wie kannst du dir da sicher sein?«
»Ich spüre sie nicht mehr. Sie war ja auch nicht immer in mir. Als Kind konnte ich nicht damit umgehen. Das habe ich erst mühsam erlernt.«
»Aber … meine Bogenschießfähigkeiten sind noch da«, setzte Hellas dagegen. »Das kann ich spüren, auch wenn meine Hände jetzt zarter sind. Und meine Haare sind immer noch weiß, oder? Obwohl ich braunhaarig geboren wurde.«
»Du hast recht, sie sind immer noch weiß. Vielleicht bin ich der einzige, der etwas verloren hat.«
»Das bildest du dir doch nur ein. Warum sollte deine Magie denn weg sein?«
»Ich verstehe es auch nicht ganz, aber es ist so. Die letzten Reste des Spinnengiftes, die ich am Rande meiner Magie auch immer spüren konnte wie eine leicht bläuliche Verunreinigung, ein Brechen des Lichtes durch eine mir fremde Membran, sind ebenfalls verschwunden. Meine Magie vertrug sich gut mit dieser siebenteiligen Sonne, wahrscheinlich also auch mit dem Zepter. Vielleicht liegt es nur am Zepter. Es bindet mein Licht an sich.« Eljazokads Tonfall klang schon etwas zuversichtlicher.
»So wird es sein«, bekräftigte Hellas. »Sobald wir diesen Stab zu den Riesen gebracht haben, wirst du wieder leuchten können, mein Freund. Also laßt uns keine Zeit mehr verlieren. Mein Unbehagen in Höhlen und anderen winzigen Räumen ist nämlich auch nicht weggegangen, nur weil ich jetzt keine schwieligen Handinnenflächen mehr habe.«
»Ich«, begann Rodraeg, »fühle mich, als würde ich ohne Halt herumschweben. Die Krankheit ist weg. Alles, was mich am Boden, am eigenen Grab festgehalten hat, wurde gekappt. Es ist … großartig und schwindelerregend zugleich.«
»Dann raus hier, bevor eine neue Höhlenkrankheit sich in dir einnisten kann«, drängte Hellas erneut. »Wer von uns trägt das Zepter? Ich denke, wenn es mit dieser aufgemalten Sonne und mit Licht zu tun hat, ist Eljazokad der Richtige dafür. Vielleicht mußt du es tragen, damit deine Magie dir zurückgegeben wird.«
Eljazokad raffte sich auf. »Ich nehme es. Aber wir werden vorsichtig sein müssen. Dieses Zepter läßt sich nicht verstekken, auch nicht, wenn wir es mit Tüchern umwickeln würden. Jedes magisch veranlagte Lebewesen in einer Tagesreise Entfernung wird von ihm angezogen werden wie eine Biene von einer leuchtenden Blume.«
»Der Leuchtturm, der Wandry fehlte«, murmelte Rodraeg, dem es immer noch schwerfiel, seine Gedanken im Zaum zu halten. Ein Teil von ihm wollte übermütig in der Höhle herumhüpfen und laute Jubelschreie über das wiedergeschenkte Weiterleben ausstoßen. Ein anderer Teil hämmerte ihm mit einer Stimme ein, die der der Höhle sehr ähnlich war, daß der schwierigste Teil der Mission jetzt erst begann und daß ein Verlieren des Zepters dazu führen würde, daß alle Krankheiten wiederkehrten und triumphierten.
Eljazokad näherte sich dem Zepter, wie man sich einer Schlange im Gras nähert. Dann nahm er es in beide Hände und hob es auf. Es war lang wie ein Stab, auf den sich ein alter Magier stützen konnte.
»Wie schwer ist es?« fragte Hellas neugierig.
»Erstaunlich leicht.«
»Woraus besteht es eigentlich? Es sieht golden aus, aber wenn man es näher betrachtet, schimmert es auch grünlich und braun.«
»Ich vermute, es besteht aus Erz«, sagte Eljazokad. »Reines, unbearbeitetes Erz, wie man es als Ader im Gestein findet. Vermutlich ist das Zepter so, wie es ist, im Fels gewachsen. Nicht in diesem Tropfstein, dort war es nur versteckt für tausend Jahre. Nein, es muß ursprünglich im Leib eines Berges gewachsen sein. Ein erzenes Felsenkind. Deshalb wurde es für die Riesen zum Heiligtum.«
»Und ist es von sich aus magisch, oder haben die Riesen es mit Magie angereichert, weil es so ein ungewöhnlicher Fund war?«
»Um das beantworten zu können, müßte ich noch Magier sein.« Erstaunlich wenig Fatalismus sprach aus Eljazokads Stimme. Das Zepter schlug ihn in seinen Bann.
»Wie kriegen wir das Tor auf?« Hellas konnte es nicht mehr erwarten, nach draußen zu kommen, frische Luft zu atmen, die weitläufige Ebene des Himmels über sich zu spüren.
»Indem wir es berühren?« riet Eljazokad. Behutsam berührte er mit dem einen Ende des Stabes die Fugen zwischen beiden Torflügeln.
Die siebenzackige Sonne strahlte auf und badete alles in einen Nebel aus Licht.
Das Tor schwang auf.
Rodraeg zögerte noch. »Wenn wir jetzt gehen, dann vertrauen wir blind darauf, daß Bestar nicht noch irgendwo hier drinnen ist.«
»Ich glaube, wir können dem vertrauen«, sagte Eljazokad. »Im nachhinein bin ich mir gar nicht sicher, ob es außer diesem einen Raum noch allzuviel hier drinnen gegeben hat, das wirklich echt war.«
»Wir tragen immer noch diese seltsamen Gewänder«, gab Rodraeg zu bedenken.
»Ja. Aber ihr habt auch immer noch die Waffen in Händen, die eigentlich eure Doppelgänger trugen. Die sieben Strahlen dieser Sonne haben uns durchleuchtet und verändert, uns irregeführt und uns geleitet. Nichts bleibt faßbar, außer die sich wandelnden Erinnerungen.«
»Und was machen wir«, schluckte Rodraeg, »mit unseren Leichnamen?«
»Taste nach ihnen. Ich wette, sie sind weg.«
Tatsächlich waren die drei toten Hüllen nirgendwo mehr zu entdecken oder zu erspüren. Erneut fühlte Rodraeg sich an Wandry erinnert, an die Art, wie sich der Körper des getöteten blauhaarigen Kriegers vor ihren Augen in nichts aufgelöst hatte.
Als letzte Tat in dieser Höhle überprüfte Rodraeg noch, ob sie die Ausrüstung und das Geld der getöteten Ichs bei sich hatten. Das war der Fall, obwohl Rodraeg sich nicht daran erinnern konnte, ihnen etwas abgenommen zu haben.
Er beschloß, sich nicht das Gehirn zu zermartern, wie das nur einem Sterbenskranken zustand, und trat mit den anderen beiden und dem von Eljazokad in den Armen getragenen Zepter des Alten Königs hinaus durch das gleißend erhellte Tor ins Freie.