»Martin sah heute in der Kaufhalle schlecht aus. Hat eine Kiste Bier gekauft und zwei Pfeffi für den Weg, sonst nichts.«
Katharina Fuchs mochte es nicht, wenn Eli schlecht über ihre Familie sprach, und dabei machte es keinen Unterschied, dass Martin nur angeheiratet war. Vor allem ärgerte es sie, wenn ihre Freundin recht behielt, was bei Schwager Martin in den vergangenen Jahren leider meistens der Fall war.
Sie griff im Bottich nach einer der Barben und warf sie auf das Brett vor sich. Der erdfarbene Fischleib passte gerade so zwischen die gespreizten Finger, und seine Schuppen bedeckten schon nach Sekunden die Arbeitsplatte der Imbissküche wie Kunstschnee. Mit jeder Handbewegung versuchte Katharina, das Bild ihres Schwagers vor dem Schnapsregal aus ihrem Kopf zu kratzen. Der Hobel glitt leicht über die Barbenhaut. Sie mochte den Moment besonders, wenn das von seinen Schuppen befreite Tier in ihrer Hand schimmerte wie feuchter Flussstein. Wenn sein Körper noch intakt war, bevor sie mit der Schere die Flossen kappte und mit dem Messer den fahlen Bauch von hinten nach vorne bis zu den Kiemen öffnete. Hatte sie das Gekröse entfernt, ließ der Fisch los und fiel in sich zusammen. Katharina hatte sich oft gefragt, wie es Martin gelungen war, sich einen Platz in ihrer Sippe zu ergattern, mit diesem Vorarbeiterrücken und den Blähwangen. Dass ihre Schwester bei Männern noch nie ein gutes Händchen gehabt hatte, war ein ausgetretener Pfad, doch mit einem wie Martin hätte Katharina nie im Leben gerechnet. Nachts lag sie häufig neben ihren Sorgen und dachte an ihre Nichte, die mit einem betrunkenen Vater und einer fehlenden Mutter zurechtkommen musste. Früher hatten die Männer vom Stammtisch sie davon abgehalten, bei der Jugendhilfe vorzusprechen, und ihr auf den Treffen im Bandauer gut zugeredet. Doch die Phasen, in denen Martin nicht trank, hatten gezeigt, welche Art von Vater er ohne ihre Schwester hätte werden können. Sie versenkte die Hobelklinge in der nächsten Barbe.
Eine Handvoll dieser Fische verirrte sich im Sommer auf der Suche nach einer Laichgrube immer in Elis Fangreusen, aber dieses Jahr waren es besonders viele. Die drei Räucheröfen mit ihren Schornsteinen im Imbiss »Zum Hexengarten« qualmten sogar bei Nacht, obwohl Eli die ungenießbaren Tiere voller Rogen aussortierte und genug Männchen wieder freiließ.
»Dem Martin bekommt das alles nicht, der hat keinen Boden mehr. Machst du dir denn gar keine Sorgen um unsere Pilly?«, fragte Eli und richtete den Gartenschlauch auf die Fensterscheibe über der Filetierplatte. Von außen hatten Spinnen die Sicht in Weben gehüllt, innen hafteten die Schuppen wie Raureif am Glas.
Katharina hatte sich angewöhnt, unbequeme Fragen mit mindestens zwei Gegenfragen zu beantworten, und erwiderte: »Wenn unser Wasser so schmutzig wäre, wie die behaupten, dann würden sich diese riesigen Barben hier doch gar nicht erst breitmachen, oder? Passen die überhaupt in die Öfen?«
Sie wusste, dass Eli auf ihre Gegenfragen grundsätzlich nicht antwortete und ihr die Unart nur durchgehen ließ, weil sie insgeheim genau wusste, dass kein Tag verging, an dem sie nicht darüber nachdachte, wie sie den Abgang von Waltraut ausgleichen konnte. Für Martin, dem die Schnäpse zu Kopf stiegen, seit der Westen Frau und Arbeit geschluckt hatte, und für Pilly, die sich bei ihren Besuchen ausschließlich für die alten Fotoalben begeisterte, anstatt im Garten zu spielen wie jedes normale Kind in ihrem Alter. Katharina hatte sogar ein Trampolin aufgebaut, doch ihre Nichte hatte nur Augen für die alten Aufnahmen ihrer Mutter im Ruderboot, im Hemd vor dem Pionierfeuer, zwischen Möwen auf der Seebrücke bei den Großeltern und im beigen Hochzeitszweiteiler vor den Stufen des Rathauses. Die Fragen nach ihrer Mutter, die Pilly Katharina immer wieder aufs Neue stellte, trafen ebenfalls auf doppelt so viele Gegenfragen. Das Kind hätte, gleich nachdem Waltraut ihre Familie verlassen hatte, zu ihnen in den Hexengarten ziehen sollen, doch Martin wollte selbst an den schlechtesten Tagen davon nichts hören.
Als Katharina die letzte Barbe ausgenommen und zum Ziehen in den Lakeneimer geworfen hatte, ging es an den Fang vom Vortag. Er war perfekt durchgezogen und bereit für den Ofen. Eli reichte Katharina die Fische einzeln. Sie durchstieß die Unterkiefer mit Haken und öffnete die Luke. Das Geheimnis von Elis berüchtigtem Räucherfisch lag in der Marinade und dem richtigen Holz. Das ausgenommene Tier kam für einen halben Tag in Sole und nach dem Entschuppen für eine ganze Nacht in einen Sud aus Zwiebel, Lorbeer und Rosmarin aus dem Garten. Erst ohne Rauch bei sechzig Grad, dann zwei Stunden bei mehr Hitze über Buche und etwas Obstbaummehl. Hinterher kamen die Filets zum Abhängen auf Rundhaken und das verkaufsfertige Räuchergut der Reihe nach in die Dielenkammer an dünne Waschseile. Kein Fisch war besser in der Gegend. Früher standen die Leute im »Hexengarten« Schlange und drängten sich mit ihren Kühltaschen bis an den Steg. An Feiertagen kreuzten die ersten Kunden bereits auf, wenn Eli früh am Morgen von der ersten Tour zurückkam. Gemeinsam trug man die Fangeimer in die Räucherei, und wer besonders fleißig mithalf, bekam von Katharina ein Fischbrötchen umsonst. Neuerdings legte niemand mehr mit Hand an. Nachdem Gutachter aus dem Westen die Wasserqualität in Elis Angelbucht als »ausreichend bedenklich« eingestuft hatten und mit dem Verbraucherschutz drohten, blieb die Verkaufslade auch zur Hauptsaison geschlossen. Im Auftrag des Umweltbundesamtes gab es regelmäßige Stichproben am Steg, und das verhängte Verkaufsverbot hatte sich schneller herumgesprochen, als die Öfen sich befüllten. Alle Vierteljahre betrat jemand mit Klemmbrett unbefugt das Grundstück. Eli war sich sicher, dass den Eindringlingen das Elbwasser schnurzegal war und es nur darum ging, kleine Betriebe wie ihren kaputtzumachen. Fisch für alle gab es jetzt im neuen Supermarkt, aus Ländern, die in Katharinas Schulatlas aus guten Gründen gar nicht erst erwähnt wurden. Gefälligst kaufen sollten die Leute, das füllte die Staatskasse schneller als Rotbarsch und Neujahrskarpfen aus irgendeiner Kanalbude.
Frischen Elbfisch gab es noch immer, auch das Brötchen zum Mitnehmen, allerdings nur unter der Ladentheke. Diejenigen, die trotz Verkaufsverbot kamen, waren die festen Leute. Sie brauchten keine neuen Kaufhallen und schon gar nicht eine neue Zeit. Bei Sonnenaufgang die Reusen abrudern, den Fang einholen, ausnehmen, einlegen. Hölzer spalten, Haken setzen und am Abend im Garten mit einem Hasseröder auf volle Mägen anstoßen. Der frische Wind, den sich die meisten gewünscht hatten, konnte zwar die Laufkundschaft vertreiben, aber gegen die wirklich festen Menschen im Ort konnte er nichts ausrichten.
»Schlimmer wie die Stasi«, flüsterte Katharina mit Blick aus dem Fenster und hängte den letzten Fisch in den Rauch. Seit Tagen liefen Männer in dunkelgrünen Overalls mit Tachymetern das Gelände um den Hexengarten ab und markierten verschiedene Bäume mit hellroter Sprühfarbe.
»Tja. Jetzt ist das Grünflächenkommando auch bei uns angekommen. Drüben beim Holz-Giesecke haben sie gerade mal drei Bäume stehenlassen«, sagte Eli.
Es klopfte an der Tür. Zweimal lang, dreimal kurz, einmal lang. Genosse Bergmann kannte das Klopfzeichen, das die Hintertür der Fischbude öffnete, ob eingeladen oder nicht. Wer sich verklopfte oder die Reihenfolge nicht einhielt, blieb draußen.
»Dir schlackert ja schon die Uniform! Das müssen wir ändern! Komm schnell rein!« Eli ließ Bergmann eintreten und winkte einem Mann zu, der die Trauerweide neben dem Anlegesteg besprühte.
»Der Duft von besseren Zeiten«, sagte Bergmann und begutachtete die Öfen am hinteren Ende der Bude. »Was habt ihr denn Schönes für mich?«
Katharina schwärmte von den Barben. Viele Gräten, aber im Geschmack mal etwas anderes. In der Essnische war alles für den hohen Besuch vorbereitet, die Trapo hat man schließlich selten im Haus. Mischbrotecken mit Rauchpastete, Russische Eier und eingelegte Vorgebirgstrauben aus den eigenen Beeten vor dem Haus.
»Das nenne ich eine Gurke!« Bergmann kaute. »Den Mist aus Holland kann man ja nicht essen. Ich verstehe nicht, warum sie den Dreck von drüben jetzt hierher karren.«
Bergmann glaubte noch immer an die Souveränität seines Landes und wurde nie müde, Katharina im Hexengarten oder beim Stammtisch im Bandauer zu erklären, dass nicht die Bürger eingeknickt waren, sondern der Pleiterusse mit seinem Übermut. Nicht der deutschdemokratische Sozialismus hätte versagt, sondern seine Beschützer, die ihn hätten verteidigen müssen. Allen voran Eberlein und Böhme. Keiner der Konsorten hätte in seinen Augen einen Orden verdient.
»Gute Politik verrät sich nicht und gibt nicht nach, das war doch immer so!«, fügte Bergmann hinzu und stellte in den Raum, dass das letzte Wort längst nicht gesprochen war.
Obwohl Eli nach seinen Besuchen über Bergmanns Stiefelhosen herzog, fand Katharina es bewundernswert, dass es noch Leute wie ihn gab, die ihre Uniform mit der Kleiderbürste polierten und auf neue Einsätze vorbereiteten. Die an einen Tag glaubten, an dem ihre Abzeichen wieder etwas zählen würden. Selbst ihr war aufgefallen, dass im Ort die Euphorie vom Anfang längst verflogen war. Sie konnte spüren, wie es in den Leuten brodelte und sich etwas unter jedem Stein zusammenbraute, das bald an die Oberfläche treten und sich mit äußerster Kraft entladen würde.
Bergmann sammelte mit dem Zeigefinger die Brotkrümel vom Teller und holte weiter aus: »Die Demos vor drei Jahren haben doch gezeigt, dass dieses Land viel mehr als nur Rückgrat hatte. Der Westen kann Wettbewerb und Wohlstand auf Kosten anderer, aber Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn – den kann er nicht!«
Bergmann zählte die Monate, bis auch der letzte Bürger einsehen musste, dass freier Wille, Verfügbarkeit und Überfluss kein guter Tausch gewesen waren. Kein Wagen und kein Hotel in Italien könne länger darüber hinwegtäuschen, dass dieses neue Leben in keinem Verhältnis zu den ideellen Errungenschaften einer gesunden sozialistischen Ordnung stehe. Sei der Urlaub vorbei, stünde man trotzdem vor dem Scherbenhaufen einer gescheiterten und fremdbestimmten Existenz. Für unser Land!, lautete die Devise und nicht: Für deren Land! Das wussten schon Silly, der Heym und die Wolf, als man noch echten Spielraum gehabt hatte.
»Niemand weiß mehr, was einem tatsächlich noch gehört«, murmelte Bergmann mit Blick auf das Grünflächenkommando am Ufer vor der Bude. »Die ziehen euer Grundstück neu, säbeln die Bäume ab, und keiner weiß, wozu.«
Katharina nickte nach jeder Parole, die Bergmann über seinem Teller einfiel, und beobachtete Eli, die besonders bei den Worten »Italien« und »Rückgrat« zusammengezuckt war. Deren Land war längst zu Elis geworden, und es hatte deswegen nicht nur einmal Streit zwischen ihnen gegeben. Jeder gefällte Baum erhöhte das Verkaufspotenzial. Ein Wort, das vor allem von den Nachbarn in den Mund genommen wurde, die keinen Fisch mehr bei ihnen kauften.
»Dass einen die Wende um den eigenen Garten bringt, hätte man nicht gedacht, oder Eli?«, sagte Katharina.
»Jetzt hört aber auf zu meckern! Möchte jemand einen Fischergeist?« Auch Eli hatte sich angewöhnt, Katharinas Fragen mit Gegenfragen zu beantworten. »Gegen alles ist ein Korn gewachsen, nicht wahr?«
»Westplörre«, grunzte Bergmann.
»Schmeckt aber«, erwiderte Eli und wanderte mit einem Streichholz die winzigen Tonkrüge ab. Die Flammen züngelten bläulich über die Becherränder. Jeder hielt seine Löschpfanne bereit und las den auf ihrem Boden aufgedruckten Spruch laut genug vor, um die einsetzende Kettensäge zu übertönen:
Krug um Krug gut aufgefüllt,
Vom Flammenspiel umhüllt,
Lasst uns nun die Becher heben,
Fischergeist,
Lang soll er leben!