4

Frau Klinge war eine Wetteruhr. Wenn sie vor dem Tor ihres Gartens geputzte Nistkästen und Vogelhäuser zum Trocknen aufreihte, wusste jeder, der daran vorbeikam, dass der Frühling jeden Augenblick hereinbrechen würde. Sie konnte Schneefälle, Stürme und Hitzewellen so genau voraussagen, dass die Leute im Ort lieber sie fragten, als sich die Vorhersage im Fernsehen anzuschauen. Einmal hatte sie in den wolkenlosen Himmel gestarrt und gesagt: »Da kommt noch was.« Keine drei Stunden später setzte ein Platzregen ein, der den Kanal über sein Ufer treten ließ und die Elbpromenade bis zur Hauptstraße überschwemmte. Es gebe viele Wege, das Wetter zu bestimmen, hatte mir Frau Klinge an einem unserer Kuchennachmittage vor ihrer senfgelben Laube verraten. Wenn man weiß, aus welcher Richtung eine Wetterfront kommt, zeigt die Farbe des Horizonts beim Auf- und Untergang der Sonne an, ob man seinen Badetag besser verschiebt. Änderte sich der Luftdruck, kitzelte es ihr in den Knochen, und ob sich Schnee ankündigte, konnte sie am Umfang ihres Winterzehs ablesen, doch am zuverlässigsten waren die Vögel, wenn es darum ging, ein Ereignis vorauszusagen. Die Flughöhe der Mehlschwalbe verriet ein Sommergewitter, lange bevor es zuschlug, oder man lauschte tief in die Baumkronen hinein, ob eine Amsel einen Regenruf von sich gab. Je öfter ein Vogel den Meisenknödel anfliegt, desto wahrscheinlicher wird eine Regenjacke, erklärte sie mir.

An diesem Tag waren die Stare und Finken zwischen den Ästen umhergesprungen und interessierten sich weder für die Knödel noch für den Prasselkuchen auf unseren Tellern. Frau Klinge schnippte eine Fruchtfliege vom Tisch und sagte: »Wenn die Käfer nicht kuscheln kommen, kann man die Dachfenster offen lassen.«

Sie schob mir ein Etikett zu und ließ mich das Wort Zucchini buchstabieren. Wie immer vergaß ich das zweite C, wie bei Borretsch das zweite R, und ich durfte meinen Schönschreibfüller erst ansetzen, als es mir einfiel. Neben dem Gartentor stand ein langer Tapeziertisch, auf dem die Bewohner der Kaserne gebundene Blumensträuße, selbstgekochte Marmelade, Gemüse, Obst und braune Eier aus dem Hühnergehege kaufen konnten, das am Ende von Frau Klinges Parzelle stand. Jeden Abend zählte sie die Münzen in der Einmachglaskasse, und wenn die Hennen nicht auf der Wiese, sondern im schattigen Hühnerhaus legten, spannte sie zwei Schirme über die nach Größe sortierten Stapel. Ich hatte ein eigenes Glas mit Münzen, das im Küchenregal der Laube stand. Pro beschriftetes Etikett oder Preisschild bekam ich zehn Pfennige. Für Unkrautjäten sogar eine Mark. In jedem Winkel von Frau Klinges Garten wuchsen Schnittblumen und Kräuter. Sobald die Eisheiligen vorbei waren, reckten sie sich aus alten Milchkannen, Kochtöpfen und Obstkisten. Bunte Stauden überwucherten angemalte Autoreifen, und über dem schrägen Vordach der Laube rankte wilder Hopfen wie ein bestickter Brautschleier. Jedes Jahr war ich überrascht, wie viele Früchte die knorrigen Bäume aushielten und dass die Kürbisse bis in die Baumkronen wuchsen. Im Herbst hingen sie wie Girlanden zwischen den Ästen und Frau Klinge musste sich für ihre Ernte die Schiebeleiter der freiwilligen Feuerwehr leihen.

Obwohl das Einmachglas immer voll war und Frau Klinge manchmal schon vormittags Gemüse nachlegen musste, hatten die Bewohner der Kaserne viele Namen für sie: Laubenschrulle, Krähe, Eierliesel oder Wetterkröte. Ich verstand nie, warum sich die Leute so gemeine Dinge ausdachten. Vielleicht lag es an der Größe von Frau Klinges Garten, der hinter der Fußballwiese am äußersten Rand der Kolonie lag. Er war mindestens doppelt so lang und viel breiter als die verwahrlosten Parzellen, die die Vertragsarbeiter der Betonfabrik besetzt hatten. Auf einer Seite reihten sich die Birken unseres Auenwäldchens, auf der anderen liefen die Schienen der ehemaligen Werksbahn. Im Frühsommer war das Gleisbett von Klatschmohn und hüfthohen Gräsern überwuchert, und wenn man leise genug war, konnte man das Brummen der Insekten bis ins Innere der Laube hören. Herr Bandau war der Meinung, dass Frau Klinge in ihren Wickelblusen vom Fidschimarkt völlig durchgedreht aussah: So was kann man im Urlaub tragen, aber nicht beim Einkaufen! Und unser Schuster Herr Küstrin, der jeden Sommer auf der Elbpromenade die Eichhörnchen am Haseleck fütterte, drückte mir im Vorbeigehen eine Fanta in die Hand und flüsterte: »Aber nicht der ollen Klinge sagen. Die kommt auf ihrem Besen und gibt mir die Sporen.«

»Aber du bist doch gar kein Pferd, Herr Küstrin«, sagte ich lachend und trank die Flasche fast in einem Zug aus.

»Die alte Hexe sorgt schon dafür, dass ich dann eins werde.«

»Glaubst du, sie ist eine Hexe?«, fragte ich.

»Ja! Das sieht man schon an ihren Schuhen.«

Ich hatte Frau Klinge noch nie in etwas anderem als Gummistiefeln gesehen. Außer meinem Vater und mir schien jeder im Ort sie seltsam zu finden. Sogar Katja. Wir hatten kurz nach Ferienbeginn in der Röhre am Küchentisch gesessen, als sie Bine und mir erzählte, wie sie Frau Klinge einmal mitten in der Nacht in den Auenwald habe schleichen sehen. Sie schleppte einen riesigen Sack hinter sich her, der so schwer war, dass sie ihn mit beiden Händen greifen und rückwärtslaufen musste. Der Vollmond schien in dieser Nacht so hell, dass Katja erkennen konnte, wie sich etwas in dem Stoff bewegte, und danach habe sie Frau Klinge zwei Tage lang nicht gesehen.

»Da war bestimmt ein Kind drin!«

Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht war das nur ihr Wäschesack?«

Katja biss sich auf die Unterlippe und Bine tippte mit ihrem Zeigefinger gegen meine Stirn.

»Mensch, Pilly, ey! Selbst der Pudel meiner Oma stellt bessere Fragen.«

Bine glaubte sowieso alles, was Katja sagte. Dabei wusste sogar ich, dass Katja Lügen so schnell erfinden konnte, wie sie Limonade trank.

»Wollen wir Kassetten hören?«, lenkte ich ab.

»Richtige Frage!«, sagte Bine und sprang auf die Matratze neben dem Rekorder.

Katja zog mich an meiner Leine zu sich und strich mir über den Kopf. Sie hielt meine Wangen zwischen ihren Handflächen und flüsterte mir ins Ohr: »Da war kein Kind im Sack, sondern irgendwas, das flattert. Vielleicht ein paar ihrer alten Hühner, die keine Eier legen wollten.«

Mir war egal, was Katja über Frau Klinge dachte, ich trat doppelt so schnell in die Pedale, sobald in der Ferne die ersten Hecken der Gartenkolonie auftauchten. Oft lag ich reglos auf ihrem muffigen Laubensofa und streifte die Kasernen von mir ab. Ich hörte den Grillen im Gleisbett zu, lauschte den Runden der Stubenfliegen, und wenn sich Frau Klinge an ihre Staffelei setzte, verfolgte ich mit geschlossenen Augen das Kratzen der Pinselborsten auf der Leinwand und versuchte, mir die Bilder vorzustellen. Ich war mir sicher, an der Art der Kratzgeräusche die Motive erkennen zu können, und obwohl ich sie immer genau vor Augen hatte, sahen sie in echt jedes Mal ganz anders aus. Meistens malte sie Dinge, die sich im Garten anfanden. Die honigfarbenen Köpfe des Sonnenhuts oder die roten Blüten des Klatschmohns, die beim Pflücken sofort zerfielen. Sie malte die an ihren Garten grenzende Birkenreihe des Auenwalds oder Stillleben ihres Gemüses auf dem Tapeziertisch. Ganz selten pinselte sie unheimliche Landschaften auf die Leinwand, die schattig wirkten. Sie waren nicht bunt, sondern trugen die Farben des Federkleids der Elstern, die den Pflaumenbaum neben der Laube bewohnten.

Frau Klinge holte das Einmachglas vom Tapeziertisch und fing an, die Münzen vor sich in Türmchen zu stapeln. Zwei davon schob sie mir zu, obwohl ich weder gejätet noch annähernd genügend Schilder beschriftet hatte.

»Du kannst ein drittes in dein Glas tun, wenn du mir sagst, wie man Chrysantheme richtig schreibt.« Sie wies auf vier violette Sträuße, die neben mir auf dem Boden in den gleichen Metalldosen standen, in denen sie ihre Malpinsel in Terpentin einweichte.

»Das ist unfair. Das Wort habe ich noch nie geschrieben.«

Frau Klinge lachte und sagte, dass das Leben noch öfter unfair sein würde, und am liebsten hätte ich meine Mutter gefragt, die mit Sicherheit wusste, wie man jede Blume richtig buchstabierte. Natürlich erriet ich das C am Anfang nicht und schon gar nicht das H nach dem T, doch seit ich die Etiketten für ihren Verkaufstisch schrieb, war ich in Diktaten besser als vorher. Frau Klinge hatte meinem Vater das Angebot gemacht, mir nach der Schule mit den Hausaufgaben zu helfen, als ich ihn im ersten Frühling ohne meine Mutter auf dem Gleisbett neben der Kolonie nicht wach bekam. Er hatte sich noch vor dem Stammtisch im Bandauer vor den Prellbock gelegt und war eingeschlafen. Über seinem Kopf baumelte eine lose Mastleitung, und ich hatte Angst vor einem Stromschlag, als sie mich bei dem Versuch, ihn von den Schienen zu ziehen, mit jeder Windböe knapp berührte. In der Familie meines Vaters war Elektrizität ein Sargmacher. Seinem Opa war beim Baden das Radio in die Wanne gerutscht, und sein Vater hatte meine Großmutter zur Witwe gemacht, als er im Bergwerk an ein Starkstromkabel kam. Auf einem der alten Fotos stand sie mit Trauerhut vor seinem Grabstein und trug meinen Vater auf dem Arm. Sie selbst erzählte mir immer wieder die Geschichte vom Kugelblitz, der im Haus ihrer Kindheit eingeschlagen hatte. Wie er plötzlich durch das Fenster gekommen war, über ihren Kopf hinwegsauste und in der gegenüberliegenden Wand ein glühendes Loch hinterlassen hatte. Das war knapp gewesen, hatte sie gesagt, doch mein Vater meinte, dass es in Wirklichkeit keine Kugelblitze gibt. Meine Gewitter-Oma musste eine Vorahnung gehabt haben, denn sie verweigerte beinahe alle Geräte im Haushalt, die mit Strom betrieben wurden. Sie kochte auf einer Küchenhexe und schlug Sahne mit dem Schneebesen steif. Ihre Wäsche brachte sie zu Brunig in die Wäscherei und jeden Sonnabend klopfte sie ihre Läufer an der Teppichstange im Hinterhof aus. Sobald ein Unwetter aufkam, zog sie den Stecker des Fernsehers, und in ihrer Blusentasche trug sie immer ein Stück Buche, damit sie am Lichtschalter keine gewischt bekam. Bei Unwetter Buchen suchen, vor Eichen weichen, Eiben und Weiden meiden. Sie ließ mich den Spruch für den Ernstfall ständig aufsagen. Als sie mit Kammerflimmern in die Klinik eingeliefert wurde, hätte man den Ärzten sagen sollen, dass die Stromstöße, die ihr durch die Brust gejagt wurden, keine gute Maßnahme waren. Sie brachten ihr Herz sofort zum Stehen. Auf den Beerdigungsfotos standen mein Vater und ich vor einer Reihe Birken neben den Kränzen, die meine Mutter gebunden hatte. Birken wirken.

»Das Kabel tut dir nichts! Siehst du?« Frau Klinge war über den Jägerzaun ihres Gartens geklettert und hatte die Leitung mit bloßer Hand vom Mast gerissen. Mein Vater wurde erst richtig wach, als wir in ihrer Laube vor einer Tasse Brühe saßen.

»Ich kriege die Nachtschichten nicht aus mir raus. Und zack, weg bin ich!« Seine Stimme klang rau und roch nach Bier. Er machte sich auf dem Laubensofa so klein wie möglich, was vermutlich daran lag, dass er Frau Klinge noch immer als seine Lehrerin sah.

»Morgen mache ich uns Frühstück. Dann kannst du mal richtig ausschlafen«, sagte ich und umklammerte seinen Oberarm. Mein Vater gab mir einen Kuss auf den Scheitel, und ich war glücklich, dass ihn der Strom verschont hatte. Der Plattenteller drehte sich und Frau Klinge summte einen Schlager mit. Es ging um Geheimnisse, die man nicht verraten sollte, weil sie den Abschied bringen.

»Hast du eigentlich keine Kinder?« Ich legte den Füller beiseite und bewunderte den Bauch einer 5, der mir auf dem Preisschild für die Chrysanthemen besonders gut gelungen war. Außer einem dreibeinigen Schienenkater mit versengten Schnurrhaaren, den ich Drosselbart getauft hatte, gab es niemanden, der Frau Klinge im Garten besuchte. Frau Klinge überlegte und steckte sich ihre Haarnadeln um. Das tat sie immer, wenn es um die Leute im Ort ging oder ihr eine Sache unangenehm war. Einmal, als ich ihr erzählte, wie mein Vater nach einem Streit mit meiner Ostsee-Oma unser Telefon aus dem Fenster geworfen hatte, zog sie mit einem Griff vier Nadeln auf einmal aus ihrem Haarnest.

»Ja und nein«, zischte sie, den Mund voller Nadeln.

»Das verstehe ich nicht. Entweder man hat ein Kind oder man hat keins!«

»Ein Sohn«, Frau Klinge schnaufte und harkte mit den Nadeln durch ihre Strähnen wie in einem ihrer Beete. »Hat die gleichen Haare wie du. Ganz rostig.«

»Und warum kommt er dich nie besuchen?«

Sie zeigte in Richtung eines der Pflaumenbäume. Im letzten Frühjahr hätte dort wie immer eine Elster gebrütet. Zwei Küken flogen von selbst weg, das dritte hatte die Mutter aus dem Nest geworfen. Es stolperte tagelang um den Baum herum, bis Drosselbart es aufspürte und vor der Laube zerkaute. Nur den Kopf ließ er übrig und legte ihn Frau Klinge als Geschenk auf den Fußabtreter. Viele Singvögel würden so aussortieren, erklärte sie mir, und wir Menschen machten das genauso.

»Also hast du deinen Sohn aus dem Nest geworfen?«

Frau Klinge lachte. »Nein, der ist von selbst gesprungen.«

Ich dachte an die Brücke, die neben dem Ort über die Schnellstraße führte, aber traute mich nicht zu fragen, ob ihr Sohn wirklich von irgendwo heruntergesprungen war. Ihre Frisur war wieder ordentlich vernadelt, und weil sich die Schwalben schräg vom Dachüberstand Richtung Tischplatte stürzten, war es wichtig, so schnell wie möglich den Tapeziertisch wetterfest zu machen.