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Das feindliche Grünflächenkommando brauchte nur drei Tage, um den Hexengarten vollständig einzukesseln, und weitere sieben, um alle Bäume und Büsche von der Uferlinie bis an die Grundstücksgrenze zu fällen oder samt ihrer Wurzeln aus dem Boden zu reißen. Katharina wachte mit Magenschmerzen zwischen den Bohnenspalieren und hielt ihr Fernglas auf Eli. Sie saß in ihrem Boot vor einer Landzunge des Stichkanals und flickte mit der Netznadel die Reusen, die der Überlebenswille der Barben zerfetzt hatte. Die trägen Grundfische konnten sie in sich behalten, aber jedes Tier mit Kampfgeist, das nicht schnell genug im Rauch landete, biss sich mit Leichtigkeit seinen Weg zurück in den Fluss. Vor dem amtsverordneten Kahlschlag hatte der volle Blattstand der Nachbarbäume den Blick auf diese Angelstelle verborgen und nur am Ende des Jahres zwischen den Winterkronen freigegeben. Jetzt erschien hinter den Linsen des Feldstechers sogar der Wasserlauf, den man sonst nur direkt vom Ufer sehen konnte.

Katharina hatte sich an einem lautlosen Schrei verschluckt, als die beiden Trauerweiden rechts und links neben dem Bootssteg gekappt wurden. Sie war im Haus und drehte die gekochten Barben durch den Fleischwolf. Überall flatterten Absperrbänder und markierten die Zonen, die nicht mehr zum Hexengarten gehörten. Auch die Fischbude stand plötzlich auf fremdem Land, und weder Eli noch Katharina konnten in Erfahrung bringen, wem es neuerdings gehörte. Die Bude dürfe bleiben, aber nur wegen Bestandsschutz, hatte ein Baubeauftragter kurz vor dem Eingriff erklärt und währenddessen mit schiefem Hals in eines dieser Tragetelefone gebrüllt, um zeitgleich mit jemand anderem aus dem Ort zu streiten. Pachtvertrag, Konzession, Schanklizenz, in genau dieser Reihenfolge, aber erstmal müsse man schauen, ob der Fisch gewisse Grenzwerte nicht übersteige, und das wiederum fiele nicht in seinen Bereich. Katharina verstand nur Bruchstücke des Gesprächs, fand es aber unanständig, dass Eli den Bootssteg um einen Meter zurückbauen und mit einem Schließtor versehen sollte. Plötzlich brauchte der Hexengarten überall dort einen Zaun, wo der Verlauf des Ufers den Besitz nicht regeln konnte.

»Sie sollten auf diejenigen sauer sein, die den Fluss versaut haben!«, polterte der Beauftragte und verscheuchte Eli wie eine Pferdebremse von seiner Wagentür. »Die Zeiten sind jetzt andere. Gewöhnen Sie sich daran.«

Der Motor röhrte, als er im Rückwärtsgang das Rhabarberbeet neben der Auffahrt zerfuhr und eine Furche hinterließ. Katharina rannte dem Wagen noch hinterher, stolperte aber über den Schiefstand ihres rechten Fußes, der ein Vermächtnis ihres Vaters und seiner Vorväter war und der sich früher ausschließlich mit orthopädischer Bückware hatte beheben lassen. Die als Kümmerfuß in den Wortschatz der Familie eingegangene Fehlstellung übersprang für gewöhnlich die weiblichen Nachkommen, hatte aber bei Katharina eine Ausnahme gemacht. Sie kniete hustend in der von den Reifen aufgewirbelten Sandwolke und konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihren schiefen Fuß oder den Schiefhals von der Bauleitung mehr verfluchte. Er hatte sie an etwas Verschnittenes erinnert. An Obstgehölz, das krumm zu einer Seite wächst, weil es das einseitige Gewicht seiner Früchte nicht aushält. Menschen sind wie Gewächse und nur so gut wie die Hände, die sie leiten. Das hatte ihr Vater immer gesagt, wenn sich jemand in seine Angelegenheiten eingemischt und dabei nichts Freundliches im Sinn gehabt hatte.

Eine Stunde später konnte Katharina durch das Fernglas sehen, wie Eli noch immer reglos auf der Bootsbank schaukelte. Die Netze waren gesetzt, aber etwas hielt sie davon ab, den Hexengarten anzusteuern.

»Du brütest!«, hatte Katharina gesagt, bevor Eli aufgebrochen war, doch die hatte nur mit den Schultern gezuckt und den Außenborder kommen lassen. Seit Wochen stand die Frage im Raum, ob man es so handhaben würde wie die Nachbarn: den Mief der Vergangenheit wegrenovieren und dann auf und davon. Die Mertens von nebenan konnten sich vor Kaufinteressenten kaum retten und hatten das Grundstück professionell schätzen lassen, als sich kein guter Preis verhandeln ließ. Katharina befürchtete, dass Eli sich die Frage an dem Abend beantwortet hatte, als im Fernsehen eine Reportage über drei Familien gezeigt wurde, die dem vereinigten Deutschland den Rücken gekehrt hatten. Sie winkten in die Kamera und zeigten, wie einfach es war, seine Träume im Ausland zu verwirklichen. Eli war am nächsten Tag in die Bibliothek des Gemeindehauses gefahren und mit einem Stapel Europareiseführer zurückgekommen. Katharina dachte nicht ans Ausland, sondern an den schlechten Zustand des Hexengartens, und hoffte, dass die Baumsägen vor Pillys Geburtstag nicht noch weiteren Schaden anrichten würden. Die Betonlandschaft, in der ihre Nichte groß werden musste, billigte Katharina nur, weil es hier im Grünen einen festen Platz für sie gab. Auch taten ihr die Stare leid, die seit Tagen zwischen den gerodeten Feldulmen auf der Suche nach ihren Nestern waren und nicht fündig wurden, aber sie hatte im Liegeholz weder die Splitter der Nistkästen noch irgendeinen verirrten Jungvogel aufspüren können.

Unten am Steg fächerten sich die Strähnen der abgesägten Weiden wie Seegras auf der Oberfläche des Flusses, und das Zetern unsichtbarer Möwen zog seine Kreise über den Reusenstangen. Katharina strich mit den Fingern über die Jahresringe eines der Stümpfe und zählte. Ihr Vater hatte ihr erklärt, wie man an den Ringen das ganze Leben eines Baums ablesen konnte. Je schmaler ein Ring ausfiel, desto schwieriger war ein Jahr gewesen. Dieser Baum schien eine sorglose Kindheit gehabt zu haben, aber eine durchwachsene Zeit im Alter. Hatten die inneren Kreise noch den Durchmesser eines Daumens, sahen die äußeren eher wie Bindfäden aus. Das Holz erinnerte Katharina an die Sommer, in denen Pilly auf der verdorrten Wiese des Hexengartens gespielt hatte und die Imbissgäste sich noch bei Einbruch der Dunkelheit feuchte Handtücher in den Nacken legen mussten. Sie konnte an dem Baumstumpf den Wasserstand der Elbe ablesen und die zunehmenden Stürme, die die gleichmäßige Form der Ringe durcheinandergebracht hatten. Je älter die Weide wurde, desto glatter gingen sie ineinander über, so als hätte der windgepeitschte Baum irgendwann aufgehört, zwischen den Jahren einen Unterschied zu machen. So sieht der Kummer eines Baumes aus, dachte Katharina und winkte Eli zu, die ihr Boot endlich Richtung Steg ausrichtete. Auf einem der Querstämme saß ein Kormoran mit ausgebreiteten Flügeln und trocknete, schon seit Eli aufgebrochen war, sein Gefieder in der Sonne. Katharina bewunderte seine Ausdauer und diese Fähigkeit, sich die Vorteile eines solchen Kahlschlags zu Nutze zu machen. Die Sägeblätter hatten den Ort so ungefragt überfallen wie ihre neunjährige Nichte damals den Ameisenhügel im Dickicht des Gartens. Das Kind hatte sich einen Ast gesucht, der lang genug war, den Bau längs zu durchstoßen. Es stach immer wieder auf seine empfindliche Mitte ein, bis die Schichten aus Erde und Tannennadeln unter seinen Hieben nachgaben. Am Mittagstisch hatte Pilly sofort berichtet, wie die Tiere in alle Richtungen gestürmt waren. Kopflos seien sie zwischen den Hügelbatzen verschwunden oder in den Schutz des umliegenden Laubes desertiert. Sie hätte noch nie so viele Ameisen auf einmal gesehen, es mussten über tausend gewesen sein. Eli und Katharina lauschten den Schilderungen mit hochgezogenen Augenbrauen und suchten mit der Taschenlampe den Hexengarten nach dem zerstörten Hügel ab, als Pilly vor dem Fernseher eingeschlafen war. Ein paar wenige Tiere hatten mit dem Wiederaufbau begonnen, doch die meisten bildeten noch immer Fluchtwege und versuchten, Samen, Puppen und Eier in Sicherheit zu bringen.

»Martin hat ihr erzählt, dass jeder Bau von Königinnen angeführt wird. Das musste sie natürlich gleich überprüfen«, flüsterte Katharina, und Eli seufzte: »Zu wenig Fantasie ist jedenfalls nicht ihr Problem. Hat sie in dem Haufen nach kleinen Metallkronen gesucht?«

Noch eine Woche später geisterten einzelne Ameisen um die Ruine des Baus. Sie schienen nicht mehr zu wissen, wohin sie gehörten, und Katharina konnte diese Ziellosigkeit nachempfinden.

Als sie Elis Anlegetau um die Klampe wickelte, versuchte sie, das Ziehen in ihrem Magen zu verdrängen – und damit den Gedanken daran, dass sich in ihrer Familie schlechte Nachrichten immer über den Bauch ankündigten. Die Schmerzen wurden schlimmer, als Eli noch am selben Abend zum ersten Mal seit Jahren die Räucheröfen ausgehen ließ. Das Unheimlichste war ihre gute Laune wegen des direkten Wasserblicks, den man jetzt vom Balkon des Fischerhauses hatte. Er würde den Wert des Grundstücks in die Höhe treiben.

In dieser Nacht lag Katharina lange wach und dachte an die Gespenster, die sie in letzter Zeit überall sah. Es gab die blassen, die mit jedem Monat mehr ausblichen. Sie saßen im Bandauer, um sich abends nicht mehr erinnern zu müssen, welche Umstände sie in den Ort getrieben hatten. Manche waren mit der Ausreise vor Augen gekommen, aber mit dem Fall des Landes waren auch die Gründe ihrer Flucht gefallen. Sie blieben an den westlichsten Ausläufern der Elbe genauso hängen wie die, die schon immer hier lebten. Andere wurden von den grellen Lichtern des Betonwerks angelockt, doch ohne den Puls der Mischanlagen, Rüttler und Fließbänder hatte sich ihr Herzschlag verlangsamt. Es sei schwierig geworden, sich dem neuen Takt anzupassen, so hatte es Martin kurz nach der Schließung des Betonwerks am Stammtisch ausgedrückt und war mit einer Gesichtsfarbe wie Rührteig aus dem Bandauer geschwankt. Zwischen der Gaststätte und den Kasernen gab es einen schlecht beleuchteten Bahnübergang, der an einer gefährlichen Schienenkurve lag und dessen Schranken sich nur bis nachmittags automatisch schlossen. Danach musste man genau hinhören, ob aus dem toten Winkel etwas herangeschossen kam. Katharina war Martin sofort hinterhergeeilt und hatte die Straße nach ihm abgesucht, doch wie bei Gespenstern üblich, hatte sich seine Gestalt einfach in Luft aufgelöst. Das Gleis kitzelte unter ihrer Handfläche, aber surrte noch nicht.

Katharina wälzte sich unter ihrer Decke und dachte an den Nebel, der an manchen Tagen von der Elbe aufstieg und die Fabrik wie eine verklärte Erinnerung umhüllte. Sie fand, dass die Hallenwände jenseits des Kanals immer mehr einem von Motten zerfressenen Gewebe ähnelten. Zwischen seinen Löchern und Scharten blitzten die metallischen Eingeweide auf, vielleicht hielt das die Leute fest. Die eingefrorenen Maschinen waren noch da, und irgendjemand würde die Hebel umlegen, vielleicht schon morgen die Totenstarre des Gebäudes lösen. Das Betonwerk lag als Geisterschiff vor Anker, und wenn in der Ferne ein Güterzug vorbeiratterte, zuckte sie zusammen. Das rhythmische Klackern der Räder klang wie das Getöse, das sonst über den Werkhof bis in die Tiefen des Hexengartens dröhnte. Die Hoffnung, dass der Betrieb noch nicht ganz verloren war, hielt sich hartnäckig und schlug in Enttäuschung um, sobald die Transportzüge die Kasernen hinter sich ließen. Eines Tages würden die hellen Tage zurückkommen, hoffte Katharina, und die Gespenster keinen Halt mehr finden.

Manche Geister zeigten sich nur in Nächten wie dieser, wenn Katharina nicht in den Schlaf fand oder sich nicht sicher war, ob sie nicht doch längst eingeschlafen war. Sie flog über die Moore des Urstromtals, über die Wipfel der endlosen Apfelplantagen ihrer Familie, auf deren sandigen Böden sie laufen gelernt hatte. Sie blickte in das volle Gesicht ihres Vaters, sah seine Fäuste die Kurbeln der Saftpresse bearbeiten, die ihr früher so monströs vorgekommen war. Die Walzen quietschten und ächzten, gingen ins Stampfen der Werkmaschinen über und lösten sich im schrillen Föhn der Brennöfen auf. Die Hitze der Öfen schmolz die Rundungen des Vaters ein, bis nur noch ein Umriss aus Schädelbeinen und Wangenknochen hinter Katharinas Lidern spukte. Seit dem Kahlschlag brach der Mond durch das Fenster, und in seinem fahlen Licht lag plötzlich nicht mehr Eli neben ihr, sondern der ausgemergelte Körper ihres Vaters, beschwert von dem Gewicht all der Dinge, die ihn zu Lebzeiten krank gemacht hatten. Sie fuhr aus dem Kissen und spürte, wie sich ihr Kümmerfuß auf dem verschwitzten Laken verkrampfte. Er tat das ohne Vorwarnung und am liebsten in rastlosen Nächten, der Fußrücken stellte sich krumm und zog sich minutenlang Richtung Fußsohle. Ein schmerzhafter Erinnerungsmechanismus, der Katharina jedes Mal Waltrauts schmale Füße ins Gedächtnis rief. Sie liefen an den Zehen spitz zu und passten in jeden Schuh. Besonders gut sahen sie in Sandalen aus, wenn die gebräunte Haut durch die Riemchen schimmerte und sich ihre Knöchel weich abzeichneten. Auf Absätzen schmiegte sich ihr Spann elegant ans Vorderblatt, und bei jedem Schritt zog ihre linke Hand einen rhythmischen Bogen in der Luft. Oft hatte Katharina das Schuhwerk ihrer Schwester im Regal bewundert. Es wirkte neben ihren beigefarbenen Klötzen aus Leder wie die Garderobe einer Gutsherrin, und wenn Waltraut ihre ältere Schwester dabei erwischte, lachte sie. »Immerhin hast du die Westschuhe!«

Katharina war schon immer die unhandlichere der beiden Schwestern gewesen. Der Kümmerfuß führte dazu, dass sie später als jedes andere Kind ohne fremde Hilfe lief und es erst als Erwachsene schaffte, auf einem Fahrrad längere Strecken zurückzulegen. Sie konnte auch nicht wie Waltraut bei der Ernte mithelfen. Egal wie schwer die Kiepe auf dem Rücken der Schwester lag, sie kletterte flink im Fruchtholz zwischen den Ästen umher und sammelte in Rekordzeit die Stellen der Bäume leer, die mit den Obstpflückern nicht zu erreichen waren. Auf Geburtstagskarten und in Briefen sprach die Mutter sie immer als süßes oder fleißiges Eichhörnchen an, Katharina aber blieb das liebste Griebschchen, ein abgenagter Rest der Träume ihres Vaters. Noch lange nach der Kollektivierung des Apfelhofs lag im Blick ihrer Mutter etwas Anklagendes, so als hätten die medizinischen Schuhe und ihre unlauteren Beschaffungsmaßnahmen etwas mit dem Verlust der Plantage zu tun gehabt. Wenn das Lächeln der Mutter sie überging, konnte Katharina Waltraut die Selbstverständlichkeit nie übelnehmen, mit der sie es hinnahm, die Bevorzugte zu sein. Auch die Verehrer aus Wolgast und Zinnowitz nicht, die später im gemeinsamen Zimmer unterschlüpften und beim ersten Geräusch im Schlafraum der Eltern die Flucht ergriffen. Die Bestimmtheit jedoch, mit der Waltraut ihre Familie und den Ort an der Elbe hinter sich gelassen hatte, konnte sie ihr nicht verzeihen.

Die sich am Tag zu erkennen gebenden Phantome quälten Katharina schlimmer als die nächtlichen. Als ihre ehemalige Kollegin aus der Werkskantine, Benita Altendorf, zum ersten Mal im Golf an ihr vorbeigerauscht war, hätte es Katharina fast hingelegt. Beim zweiten und dritten Mal trat Benita sogar aufs Gas. Nur Eli fand es witzig, dass die Altendorf ihren Hintern ausgerechnet in einem Golf von West nach Ost bewegte, schließlich hatte sie den Ort genau an jenem Tag in Richtung Rheinland verlassen, an dem der Volkswagen-Konzern Zwickau überrannte.

Der Kümmerfuß schlug besonders stark aus, als der totgesagte Riesel-Sohn plötzlich am Nachrichtenaufsteller des Papierlädchens vor Katharina Gestalt annahm. Fast wäre sie vornübergekippt und auf dem Gesicht von Detlev Rohwedder gelandet, das an diesem Apriltag die Titelseiten bestimmte. Das Ehepaar Riesel hatte immer behauptet, ihr Junge sei beim Versuch, über den zugefrorenen Aland Richtung Schnackenburg zu setzen, nicht weit gekommen, und war mit dieser Sache gefasster umgegangen als die Gäste ihres Cafés, die den Familienbetrieb seitdem nur noch Klatschcafé nannten. Sie saßen befangen vor ihren Mokkatassen und hofften auf Neuigkeiten. Direkt nach dem Vorfall brachte Katharina durch Waltraut in Erfahrung, dass der Familienname Riesel beim Metz auf keinem der Grabsteine eingeplant gewesen war und auch sonst keine Scheinbeisetzung stattgefunden hatte, die es immer mal wieder gab, wenn jemand aus dem Ort verschwand. Meistens hieß es dann hinter vorgehaltener Hand, die Person sei umgezogen, aber niemand wusste, wohin.

»Einer muss die Zeche zahlen«, sagte der Riesel-Sohn mit Blick auf den umgekippten Aufsteller und konnte Katharina gerade so auffangen.

»Mensch, Markus, trägst du jetzt einen Schnauzer?«, fragte sie und versuchte, die Grenzerkugeln nicht anzusprechen, die ihn vor sieben Jahren angeblich zur Strecke gebracht hatten. »Und … wer zahlt die Zeche?«

»Na, der Idiot von der Treuhand!«

Katharina versuchte sich an die Fernsehnachrichten vom Vortag zu erinnern, konnte aber das Männergesicht unter der Schlagzeile nicht zuordnen. Eli wüsste sicher, was es mit der Treuhand auf sich hatte und wer der von ihr zu Fall gebrachte Herr war, dessen Stirn unter ihrem Kümmerfuß nachgab.

Es waren die lebendigen Toten und die Totgeglaubten, die Katharina auch in dieser Nacht nicht losließen oder die sie nicht loslassen konnte. Häufig sah sie Waltraut im Ort. Im Sommer trug sie Riemensandalen, im Winter die Stiefel aus Freiberger Leder. Sie ging am Bandauer vorbei, betrat am Eichenplatz die neue Kaufhalle oder saß auf dem Spielplatz auf einer Schaukel. Manchmal kam sie ihr auf der Straße entgegen und ihr Blick, geradewegs in die Augen, brachte sie ins Schleudern, doch sobald Katharina ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war der Spuk auch schon vorbei.