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Katharina saß im Zug Richtung Westen und fühlte sich nicht richtig. Am Fenster zogen Felder und Lichtungen vorbei, kleine Auen und Kirchturmspitzen. Alles wirkte wie zu Hause, aber die Befürchtung, durch ein anderes Land zu fahren, wurde sie nicht los. Die anderen Passagiere schienen ihr anzusehen, dass sie das Gefühl hatte, etwas Verbotenes zu tun. Als würde die Teilung nach wie vor bestehen. Sie lächelten ihr zu und nickten. Freundlich. Aber immer mit dieser den Wessis eigenen Überlegenheit. Drüben sind sie arrogant, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, als sie Waltraut einmal dabei erwischt hatte, wie sie heimlich unter dem Reetdach Mittelwelle hörte, und vielleicht lag sie gar nicht so falsch damit. Die Leute trugen andere Frisuren, und fast jeder Fahrgast studierte neugierig den Haarschnitt, den Eli ihr seit Jahren alle drei Monate zurechtstutzte. Katharina konnte den Gedanken nicht abstreifen, dass die Menschen im Abteil ihr mit diesem Lächeln und Nicken ununterbrochen die Bereitschaft signalisierten, die Errungenschaften der letzten vierzig Jahre auch mit ihr zu teilen. Aber Katharina fand das vermessen. Wegen ihr hätte man die Grenze nicht abschaffen müssen, und einen Friseurladen mit riesigen Trockenhauben, in dem es nach Chemie und Föhnluft roch, brauchte sie in ihrem Ort auch nicht. Sie ärgerte sich über das Westliche, das sogar der Bezug der Sitzpolster im Zug in sich trug, aber vor allem über ihre Schwester, wegen der sie überhaupt in diesem Massenabteil saß. Waltraut mit ihren Sommersandalen und diesem französischen Flechtkranz aus dem Frisurenmagazin hätte schon immer gut hierher gepasst. Katharina machte nicht der Umstand wütend, dass Waltraut ihrem Land und ihrer Identität den Rücken gekehrt hatte. Jeder, wie er will, hatte sie zu Eli gesagt, aber die Fragen, die sie als Tante aushalten und sich selbst stellen musste – die konnte sie nicht so einfach schlucken. Welche Mutter lässt ihr Kind zurück? Und warum hatte Waltraut den Transporter der Kirche am Elbufer abgestellt und ihre Koffer darin zurückgelassen?

Katharina erinnerte sich, dass ihr einige Tage nach dem Verschwinden ihrer Schwester ein Volkspolizist geraten hatte, die Dinge langsam auf sich zukommen zu lassen. Der Mann aß nach dem Frühdienst häufig bei ihr im Imbiss, immer Aalbrötchen mit Meerrettich auf der Seite. Er war es auch gewesen, der ihr kurz nach der Aufnahme der Vermisstenanzeige die Nachricht übermitteln musste, dass man am Elbufer zwar den Wagen, aber keine Spur von Waltraut gefunden hatte.

»Lassen Sie es langsam angehen, schnelle Gedanken bringen Sie nur aus dem Rhythmus«, hatte er gesagt und die Spitze seines Brötchens so gleichmäßig wie möglich in die Meerrettichsahne getaucht. Doch bei Katharina war es eher andersherum: Je langsamer sie nachdachte, desto mehr geriet ihr Kopf aus dem Takt. Sie hörte lieber den Männern am Stammtisch zu, die zu Waltrauts Verbleib viel lebhaftere Theorien hatten als sie selbst, und ließ sich von ihren Gefühlen leiten. An Tagen, an denen sie mit der Sache keinen Frieden schließen wollte, glaubte sie Martins Erklärung, der zufolge ihre Schwester irgendwo im Westen an der Seite des ehemaligen Gemeindepfarrers versuchte, ihr altes Leben zu vergessen. In weichen Momenten schob sie Waltrauts Verschwinden auf die Familie ihrer Mutter, die generationsübergreifend Probleme mit Wasser hatte. Ins Wasser zu gehen, lag in der pommerschen Linie der Familie wie die Neigung zu Kümmerfüßen auf der havelländischen Seite des Vaters. Eine Urgroßtante mütterlicherseits war von einer Kurwoche in der Lübecker Bucht nicht zurückgekommen. Ihr Körper wurde von Anglern in der Nähe von Scharbeutz aus dem Wasser gefischt, was in die Sippenfolklore der geborenen Struwes als tragische Fügung einging, die den bei Ostwind aufkommenden Unterströmungen zu verdanken war. Wenn Katharinas Mutter auf den Tod ihrer Großtante zu sprechen kam, erzählte sie im selben Atemzug die Geschichte von deren Bruder, der im Ersten Weltkrieg die Skagerrakschlacht überlebt hatte, aber auf dem Rückweg nach Wilhelmshaven bei bestem Fahrwetter über Bord gegangen war. Er sei ein hervorragender Schwimmer gewesen, doch das Meer gab ihn nicht wieder her. In den Folgejahrzehnten hatte es in der Familie immer wieder glimpflich verlaufende Unfälle gegeben, bei denen Wasser eine gewisse Rolle spielte. Erst als Katharinas Mutter nicht mehr Struwe hieß und längst im Westen Brandenburgs sesshaft geworden war, rissen die Schlittschuhe einer Großcousine die Eisfläche des Schmollensees auf. Die Stelle, an der der See unter ihren Kufen nachgegeben hatte, war zu flach, um darin zu ertrinken, doch sie bekam nach ihrer Rettung eine so schwere Lungenentzündung, dass sie wenige Tage später starb. Nach diesem Unglück rammte ein Freiwilligentrupp der in Pudagla stationierten Luftverteidigungsdivision im gesamten Kreis Wolgast Warnschilder in den Uferboden, und die geborenen Struwes nahmen sich vor, vor allem junge Mitglieder der Familie von Gewässern fernzuhalten, was sich im Achterland jedoch schwer umsetzen ließ.

Katharina sah in solch tragischen Fügungen immer auch die grässliche Seele der Ostsee. Die stürzte sich nämlich mit grausamer Vorliebe auf jene Verwandten, die der Mühsal des Küstenlebens nichts entgegenzusetzen hatten. Die See stülpte sich über ihre Gemüter und versalzte sie von innen. Sie wurden unbeständig und aufgewühlt, aufbrausend oder haltlos. Die Urgroßtante war immer eine Frau mit Abgründen gewesen und hatte sich regelmäßig die Trübseligkeit vom Hals gebadet, der Fähnrich zur See erlag seiner Kriegsmüdigkeit. Katharina vermutete hinter dem Ableben der Großcousine eine ungünstige Mischung aus schlechten Witterungsbedingungen und der im Achterland weitverbreiteten Langeweile. Waltraut schlug der besagten Urgroßtante nach, ihr Temperament war etwas windig. Katharina wäre nicht überrascht gewesen, wenn ihre Schwester an den Rand der Elbe gefahren wäre, um darin abzutauchen.

Aus den Lautsprechern neben Katharinas Kopf stolperte der Dialekt des Schaffners. Seine Stimme konnte nicht verbergen, dass der Zug über fremden Boden gelenkt wurde. Er schien jeden Ortsnamen dreimal von einem Blatt abzulesen, bevor er selbst verstand, wohin die Waggons steuerten. Im Abteil tauschten die Passagiere Blicke und kicherten in ihre Handflächen.

Am Tag nach dem Mauerfall waren aus dem Lautsprecher des Pucks Sondersendungen und Musik gekrochen, die Katharinas Mutter damals so gewagt gefunden hatte. Sie traute sich nicht, den Fernseher anzustellen, und machte die Fischbude früher auf. Sie freute sich über die Anwohner, die wie üblich ihre Bestellungen aufgaben, ohne die Geschehnisse vom Vortag zu kommentieren. Im Ort tanzte niemand in eine vermeintlich bessere Zeit, und keiner stieg ins Auto, um sich an der Grenze Mitleidsgeld in die Tasche stecken zu lassen. Nur Eli saß im Wohnzimmer aufrecht im Sessel und hielt sich an der Fernbedienung fest. Als Katharina den Raum betrat, knisterten im Fernseher die Röhren.

»Das wird noch was«, sagte Eli und versuchte, zerknirscht zu klingen.

An jenem Freitag kam man im Bandauer zu einer Notsitzung zusammen. Die sonst so gesprächigen Männer saßen kleinlaut vor ihren Gläsern und tranken zu jedem Bier zwei Schnäpse. Über dem Ort hing eine Ruhe, wie sie Katharina vorher noch nie wahrgenommen hatte. Im Betonwerk wurden die Maschinen abgestellt, und Martin bezweifelte, dass sie ihren alten Schwung jemals wiederfinden würden. Schuster Küstrin diskutierte mit Schrauben-Hiller über Honeckers Gesundheitszustand, und Genosse Bergmann verkündete, dass er seinen Dienst quittieren werde, sollte die Transportpolizei vom Westen unterjocht werden.

Nur Pilly bekam von den Sorgen der Erwachsenen nichts mit und spielte am Tresen Goldene Sechs mit Herrn Bandau und Herrn Brunig. Für eine Zehnjährige etwas zu gewieft, bemerkte Bandau, und wenn er seine Groschen vor jedem Wurf wieder auf die falschen Würfelzahlen gesetzt hatte, kicherte sie: »Pech gehabt!«

Die Erwachsenen hofften derweil, dass noch nicht alle Würfel gefallen waren und man im Politbüro eine Lösung fand.

»Ick hab lieber ’nen Affen als ’ne Birne zum Oberhaupt«, sagte Brunig, und Bandau ärgerte sich, dass man von einem zweifelhaften Bündnis ins nächste getrieben wurde. Schon im Sommer hatte er am Stammtisch vom »Warschauer Vertragsfrust« geredet und gemeint, dass der Staat sich nicht über sowjetische Bestandsgarantie definieren solle.

»Der Russe kackt sich selbst vor die Haustür«, murmelte er und setzte ausnahmsweise richtig.

Katharina machte sich so klein wie möglich, als sich ihr an der unaussprechlichen Haltestelle in Schandelah eine Frau gegenübersetzte. Die durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen prallten an der blonden Kurzhaarfrisur ab, die Katharina im Fernsehen bei der englischen Kronprinzessin und im Zug an jeder zweiten Frau von drüben gesehen hatte. Ihre pinken Lippen legten sich über die grelle Haut einer Apfelsorte, die auch in der neuen Kaufhalle auslag, aber niemand im Ort kaufen wollte. Manchmal vermisste Katharina den mostigen Geruch, der über der Apfelplantage ihrer Kindheit gelegen hatte. Wenn es nachts kühler wurde, war er vom Fallobst am Boden aufgestiegen und zwischen den Ästen gewabert, an denen die wurmstichigen Früchte in der ersten Herbstbrise zitterten. Nach dem Blütenfall im Frühsommer federten Katharinas Schritte immer wie durch Schneewehen, und wenn sich nach ihrem Geburtstag im August die gesamte Ernte in den Kronen zeigte, konnte sie mühelos den Apfel bestimmen, der am ehesten reifen würde. Die Wetten gegen Waltraut gewann sie fast immer.

Als Katharina in den Hexengarten zu Eli gezogen war, wurde im Ort viel über die welken Jungfern geredet, die keinen abbekommen hatten und deswegen gut zusammenpassten. Fast wäre sie wieder abgereist, aber der Duft der Obstbäume neben der Imbissbude hielt sie. Er brachte ihr all die Erinnerungen zurück, die schon im Heimatboden ihrer Mutter versunken waren. Katharinas Wurzeln fanden im Schlick keinen Griff. Anders als ihre Schwester konnte Katharina von Anfang an nichts mit der See anfangen, und es verging kein Jahr nach dem Umzug ins Achterland, in dem sie das Havelland nicht vermisste. Die Sonne konnte noch so dramatisch hinter der Steilküste untergehen und die Brandung in flüssigen Bernstein verwandeln, das Meer der Apfelplantagen trieb sie Katharina nicht aus.

»Uns gehört nicht mal die Kloschüssel, auf der wir sitzen«, hatte Katharinas Vater gesagt, als Obstflächen, Hof und Laden, sogar die hundertfach geflickten Wechselreifen an der Wand der Garage an die Genossenschaft gingen, und war danach immer stiller geworden.

»Das ist nicht richtig«, murmelte er, während er nach dem Fehler suchte oder seine Bedenken sachlich zu Papier und in Umschlägen zur Post brachte. Es war nicht richtig, dass auf seine Briefe keine Antworten kamen und dass das in Zeitungspapier gewickelte Porzellan seiner Eltern in Apfelkisten nach Trassenheide in den Bungalow der Schwiegereltern umgesiedelt werden musste. Katharinas Mutter weinte an diesem Tag viel.

»Wer gegen Berge schreit, muss sich über das Echo nicht wundern«, flüsterte sie Katharina zu und beschriftete mit dem Bleistift die Kisten. Sie tat das mit Schwung, als würde sie es schnell hinter sich bringen wollen.

Was auch immer den Vater dazu zwang, das Havelland zu verlassen – es schlug ihm genauso auf den Magen wie die Samen der Süßlupinen, um die er sich fortan kümmern sollte. Niemand fragte laut, ob er für seine Beschwerdebriefe bestraft wurde. Hatten früher andere dem Vater zugearbeitet, war er nun derjenige, der fester anpacken musste. Statt Äpfeln kamen die gelben Bohnen auf den Tisch, die geröstet nach Nüssen und roh nach unreifen Erbsen schmeckten. Erst verlor er den Appetit auf Deftiges, dann auf Süßes, was allen Sorgen bereitete, und später wurden die Bauchschmerzen so schlimm, dass er sich schon krümmte, wenn er sich nur nach seinen Arbeitsstiefeln bückte. Katharina meinte, dieses Sich-Krümmen komme von der viel härteren Arbeit auf dem Feld, aber vor allem vom Ort Krummin. Es steckte schon im Namen, dass man sich hier winden musste. Sie hasste die sumpfigen Salzwiesen mit ihren aggressiven Seevögeln, die in ihnen brüteten. Das unbeständige Wetter. Die Kreuzwinde. Das Murmeln des Meeres, das alle in der Familie so beruhigend fanden, machte sie nervös und rastlos.

»Dann geh doch einfach im Wald spazieren!«, meckerte Waltraut immer, wenn sich Katharina mal wieder über das Fehlen von Apfelbäumen beklagte und über das Leben an der Wieck sowieso. Aber so ein Bruchwald war doch nicht mal ein echter Wald.

Während Waltraut im Kinosaal des Zinnowitzer Kulturhauses ihre Jugend an männlichen Verabredungen ausprobierte, verfestigte sich die Krümmung in der Körpermitte des Vaters unaufhaltsam. Er lag wie zusammengefaltet auf seiner Seite im Ehebett und verließ sie nur, wenn jemand Geburtstag hatte oder die Schwiegereltern zu Besuch kamen. Katharinas Mutter arbeitete im Ferienheim Roter Oktober als Putz- und Empfangskraft und traute sich nach der Arbeit nicht zu ihm ins Zimmer.

Als Waltraut zum ersten Mal ihren festen Freund Karl zum Essen mit nach Hause brachte, entlud sich die Spannung im Körper des Vaters in einem Schwall Blut auf der Tischdecke. Die Spritzer erfassten den Gardinenschal, die Glasglocke des Deckenleuchters und die Blätter des Gummibaums. Sie mischten sich unter die Bratensoße, verteilten sich über den Samt der Thüringer Klöße und Karls Jackett. Danach ging es schnell. Der Vater reiste in einer Kiste zurück ins Havelland und kam endlich wieder in den Boden, der ihm gehörte. Noch Jahre später erinnerte die Tapete neben dem Esstisch alle an den Vorfall, von dem Waltraut Liebeskummer und Katharina Albträume bekommen hatte. Karl war danach nie wieder zum Essen gekommen, und weder tischte Katharinas Mutter seitdem Klöße mit Soße auf, noch brachte sie es fertig, im Wohnzimmer zu renovieren. Stattdessen schlug sie einen Nagel über den Blutfleck auf der Tapete, und immer, wenn jemand zum Kaffee kam, hängte sie ein Ölbild darüber. Eine brandenburgische Landschaftsidylle mit Kiefern vor einem See, die nicht zu dem Möwengeschrei vor dem Haus passte.

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Schuhladen fühlte sich Katharina wie ein Süßwasserfisch, der versehentlich ins offene Meer geraten war. Sie fragte sich, was einen Menschen dazu brachte, sich freiwillig durch enge Fußgängerzonen wie diese zu quälen. Alle fuhren die Ellenbogen aus und eckten bei jedem Schritt irgendwo an. Aus den Geschäften dröhnte Musik, auch aus dem Laden, in dem Pillys Turnschuhe zum Glück direkt neben dem Eingang ausgestellt waren. Sie hatte vor ihrem Geburtstag tagelang den Katalog durchgeblättert und von nichts anderem reden können als von den leuchtenden Sohlen der Schuhe, die es wie so vieles im Ort nicht zu kaufen gab. Manchmal war es Katharina unheimlich, wie viele von Waltrauts Schwächen Pilly geerbt hatte und wie sehr sie doch ihr selbst ähnelte. Sie hatten beide die breiten havelländischen Züge, die knollige Nase und schiefen Zähne. Ihre Nichte interessierte sich genauso wenig für Jungs wie sie in dem Alter, hinzu kam diese Sanftmut, die außer ihnen niemand sonst in der Familie besaß und von der Katharina selbst nicht wusste, woher sie kam. Das Gleiche galt für Pillys rote Haare. Ein Rätsel, das nur Waltraut würde lösen können. Im Bandauer erzählte Martin ab dem dritten Bier regelmäßig, dass er seiner Vaterschaft nicht über den Weg traute. Waltrauts Kleider hätten kaum drei Wochen im Schrank neben seinen Hemden gehangen, schon sei ihr jedes davon zu eng gewesen. Katharina hatte den Zweifeln ihres Schwagers nichts entgegenzusetzen und empfand in solchen Momenten sogar etwas Mitleid. Martin war nicht der erste Mann in Waltrauts Chronik, dem sie sprachlos gegenübergesessen hatte. Ihre Schwester hatte zwar den weniger hübschen Namen, dafür aber die besseren Gene abbekommen mit ihrem dunkelbraunen Haar und den fahlen Augen. Nach dem traumatisierten Karl gab es einen enttäuschten Friedrich, dann einen betrogenen Janko und nach Janko noch viele andere, die Katharina nicht ernst genug nahm, um sich ihre Namen zu merken. Sie erinnerte sich lediglich an einen Ralf, der Waltraut nicht hinterherweinte. Er schenkte ihr zum Abschied ein blaues Auge und ein Zugticket Richtung Fischerhaus. Wie ausgewaschenes Strandgut stand Waltraut mit zwei Koffern plötzlich vor der Tür und weinte ihr so laut in die Schulter, dass Katharina die beiden Gepäckstücke unkommentiert ließ. Vor Martin war da noch Peter gewesen, der Waltraut die Stelle in der Friedhofsgärtnerei vermittelt hatte und rötliches Haar besaß. Katharina konnte Martin die Zweifel also nicht verübeln.

Die Regale waren zugestellt mit Schuhen für jeden Anlass. Schuhe, in denen man Sport treiben konnte, Schuhe für Wanderungen und Strandurlaube, schwarze Modelle für Beerdigungen, weiße für Hochzeiten und bequeme für das Wohnzimmer. Tanzschuhe, Stiefel aus Gummi oder Leder und Riemchensandalen, wie Waltraut sie trug. Katharina klemmte sich hastig den Schuhkarton unter den Arm und trieb auf dem Weg zur Post in Gedanken. Sie wollte nicht an ihre Schwester denken und auch nicht an den Blutstropfen an der Tapete hinter dem Bild im Krumminer Elternhaus. Nicht an die stinkenden Türme der Schaumalgen, die nach Stürmen das Meerufer säumten, und auch nicht an den Kummer ihres Schwagers. Stattdessen versuchte sie, sich die kratzigen Hände ihres Vaters vorzustellen, wie sie eine Apfelkiste nach der anderen hochhievten und die Früchte in die Presse kullern ließen. Den Geschmack der Sorten Spartan und Kalco. Die eine konnte man erst im November essen, die andere war schon kurz nach ihrem Geburtstag im September so weit. Spartan hing fast violett zwischen den Ästen, und sein Saft schmeckte so süß, dass einem die Zähne davon wehtaten. Der Kalco hatte mehr Säure und war ein richtiger Schneewittchenapfel. Seine Schale stach blutrot ins Auge, wo die Sonne sie traf, doch im Schatten blieb sie gelb. Sie wollte sich an die Reihe Obstpflücker unter den Ersatzreifen in der Garage erinnern. Wie eine Armee Zinnsoldaten standen sie beharrlich bis zu ihrem nächsten Einsatz Schulter an Schulter, von Spinnenweben überzogen sahen sie aus wie die Zuckerwatte auf Baumblütenfesten.

Am Schalter wickelte Katharina den Schuhkarton sorgfältig in Paketpapier ein und schrieb Pillys Anschrift auf die Deckelseite. Sie versuchte, Waltrauts runde Handschrift zu imitieren, was ihr mit jedem Jahr besser gelang. Ihre angeborene Sanftmut ließ nicht zu, dass jemand in schlechtem Licht dastand oder irgendetwas die Kindheit ihrer Nichte wegwusch, wie es damals die Ostsee mit ihrer eigenen getan hatte.