Regnete es länger als zwei Tage hintereinander, sahen die Kasernen noch grauer aus. Die Fassaden sogen sich voll und glänzten wie die Schuhe im Schaufenster von Herrn Küstrin. Auf dem Spielplatz schlugen die Tropfen so große Löcher in den Sand, dass man sie sogar vom Fenster ausmachen konnte. Am Sandkastenrand ließ die Nässe die Reste der Kuchen zerlaufen, und die Schaukeln schwangen langsam hin und her, wenn der Regen sie in einem bestimmten Winkel traf. Nur auf der Wiese rollte der Ball, und die Jungs schlitterten klatschnass von einem Tor zum anderen. In der Drei lehnte Frau Wenzel mit verschränkten Armen am Fenster auf ihrem Stickkissen und trug über ihrem Kopftuch eine Regenhaube. Sie feuerte die Spieler mit der Faust an, und weil sie zwischendrin immer wieder vergaß, für welche Mannschaft sie war, jubelte sie bei jedem Tor mit. Frau Karauschek zog ihren wasserscheuen Hund unter einem Regenschirm neben sich her. Das Wetter hatte ihn in einen Wischmopp verwandelt, der in langen Schlieren den Dreck auf dem Gehweg hinter sich herzog.
»Bläst hier jemand Trübsal?«, trompetete mein Vater und knipste den Fernseher aus.
Ich zuckte mit den Schultern und guckte weiter runter zu den Röhren, die genauso grau waren wie die Kasernen.
»Komm, Pilly, du kannst den Zwinger anmalen.« Er quälte sich aus der Sitzkuhle seines Sessels.
Ich hatte keine Lust darauf, eines seiner daumengroßen Eisenbahngebäude mit Lack zu bepinseln, und dachte viel lieber an Katja im Teich. Beim Unter-Wasser-Worte-Raten hatten ihre Luftblasen an meinem Hals gekitzelt und ihre Stimme dunkler geklungen. Immer wieder dachte ich an unsere Körper, wie sie sich aneinanderkrallten, um nicht an die Oberfläche zu treiben. Wie mir das Wasser in den Augen gebrannt hatte und ich Katjas Gesicht nur über die Feuerzeugteilchen ausmachen konnte, die als silberner Halbkreis über ihrem Kopf schwebten. Luftschloss. Pferdekuss. Schnapsdrossel. Nur zwei ihrer Wörter hatte ich nicht erraten, weil sie auf Russisch waren.
Mein Vater taperte durch den Flur und hangelte sich an den Wänden entlang, um nicht zu stürzen. Das passierte immer, wenn er zu lange in den Welten hinter dem Fernsehbildschirm verbracht hatte und ihn die Realität aus dem Gleichgewicht brachte. Im Tausch gegen meine Mutter hatte ich mehrere Väter bekommen. Einer zündete Laternen an und erzählte die besten Geschichten. Früher hatte ich an den Mottengeist geglaubt, der immer dann in meinem Zimmer spukte, wenn ich nicht ordentlich staubwischte. Er ließ Glühbirnen flackern, konnte Zimmerpflanzen verrücken oder sogar Bücher im Raum schweben lassen. Ich hatte nie herausgefunden, wie mein Papa diese Kunststücke hinbekam. Ich war fasziniert vom allwissenden Kochtopf, der immer dann pfiff, wenn ein Ei nicht mehr zu weich und noch nicht zu hart war, und bis zur zweiten Klasse glaubte ich, dass der Perserteppich im Flur tatsächlich fliegen konnte, wenn man nur die richtige Zauberformel kannte. Aber natürlich hatte mein Vater sie mir nie verraten. Er erzählte mir auch, dass es sich bei dem Kuckuck in unserer Uhr um einen echten Vogel handelte. Jeden Abend riss ich ihm ein Stückchen Brot von meinem Teller, legte es ihm vor seine Luke und freute mich am Morgen, dass kein Krümel übriggeblieben war. Wenn der Kuckuck aus seiner Luke sprang, beförderte er eine Staubwolke aus seinem hölzernen Nest, die wie glitzernder Schnee durch den Raum fegte. Früher hatten meine Mutter und ich uns immer erschrocken, wenn sich das Uhrwerk mit einem Krachen in Gang setzte und der pfeifende Vogel aus dem Gehäuse geschossen kam. Die schweren Gewichte hatten die Form von Tannenzapfen und rasselten zu jeder vollen Stunde an ihren Ketten weiter Richtung Fußboden. Ungerechterweise traf die Strafe am Ende den Kuckuck und nicht meinen Vater, der trotz aller Proteste jeden Morgen den Vogel neu aufzog und anschließend den Schlüssel versteckte. Meine Mutter kaufte bei Schrauben-Hiller eine Packung Gänsehaut und umwickelte damit die Klappe, gegen die der Kuckuck von innen zu jeder vollen Stunde stieß. Das Krachen der Zahnräder wurde dadurch noch lauter, und sein Schnabel hinterließ hinter der Luke unzählbare Dellen. Mir tat der eingesperrte Vogel leid, doch erst nachdem meine Mutter zum letzten Mal ihre Reisetasche gepackt hatte, traute ich mich, das Klebeband abzuziehen und das Tier wieder freizulassen.
An guten Tagen war unsere Küche eine Kombüse und mein Vater trug eine Schürze, auf der Smutje stand. Er setzte sich seine Kochmütze auf und brauchte nur acht Sekunden, um eine ganze Zwiebel in Würfel zu schneiden. Die Klinge verschwamm vor meinen Augen und berührte das Brett so schnell hintereinander, dass ich nie mitzählen konnte, wie oft sie aufkam. Wäschestücke in gleich große Quadrate zu falten und Kartoffeln zu schälen, ohne absetzen zu müssen, seien die wichtigsten Dinge gewesen, die er bei der Volksmarine gelernt habe. Er konnte zwei Eierkuchen gleichzeitig wenden, fast immer berührten sie knapp die Zimmerdecke, und er zeigte mir, wie man einen Apfel mit beiden Händen in zwei Hälften drehen konnte. Er ließ Brotteig auf seinen Fingerspitzen tanzen und röstete Toastscheiben über der Flamme des Gasherds. In der Kombüse schmeckten sogar Senfeier und Soljanka, anders als in der alten Werkskantine.
An schlechten Tagen oder spätestens, wenn der Kuckuck zum siebzehnten Mal aus seiner Uhr herausgeflogen war, hatte ich einen Vater, an dessen Gesicht ich mich gewöhnen musste. Es verflüssigte sich wie heißes Wachs und wurde länger als die Schatten der Kasernen auf den Lochsteinen. Um diese Tageszeit ließ der graue Bart meinen Vater besonders verloren und ausgeblichen aussehen. Unter seinen Augen bildeten sich faltige Kissen und ich dachte, dass sich in ihnen die Worte sammelten, die er für den Rest des Tages nicht mit mir sprechen würde. Wenn ich aus den Röhren nach Hause kam, fielen ihm keine lustigen Geschichten ein, und die Kombüse war wieder die Küche, in die er sich einschloss. Ich sah meinen Vater nur selten trinken, aber die Tassen rochen noch nach Schnaps, wenn von ihnen der Schaum auf die Geschirrablage tropfte.
Im halben Zimmer neben meinem fuhr noch immer die Reichsbahn. Stendal, Magdeburg, Halle und weiter südöstlich nach Görlitz, wo die Schienen vor der berühmten Waggonfabrik aufhörten. Dort wurden die Doppelstockzüge hergestellt, mit denen wir zu dritt in den Urlaub gefahren waren, sagte mein Vater, aber ich konnte mich an keine dieser Zugreisen erinnern. Bis zur Türschwelle zogen sich die Bahnhöfe Erfurt, Leipzig, Dresden. Dom, Völkerschlachtdenkmal und der einen neuen Anstrich benötigende Zwinger. Im Norden lief das Streckennetz der Schmalspurbahn bis unter den Heizkörper, und ich verfolgte die Bahnen, die der Rasende Roland durch Rügen zog. Ich kannte jede Station auf dem Brett auswendig. Elektrische Lokomotiven kamen aus Hennigsdorf und Dieselloks aus dem Babelsberger Karl-Marx-Werk. Früher musste man die Gauschkessel der Züge mit Braunkohle befüllen, weil Steinkohle knapp war, und eine Fahrt in der 2. Klasse kostete acht Pfennige pro Kilometer.
Mein Vater stellte die Weichen um und ließ die Taigatrommel von Schwerin nach Stendal ausfahren.
»M62, hergestellt in Woroschilowgrad«, sagte ich.
»Korrekt! Und fährt wie schnell?« Mein Vater erhöhte die Spannung am Trafo.
»Einhundert Stundenkilometer?«
»Sehr gut! Besonderheiten?«
»Die ersten Modelle kamen ohne Schalldämpfer.«
»Genau, da wollte man nicht neben dem Bahnhof wohnen. Mensch, Pilly, du bist ja richtig gut!«
Die kreisenden Waggons machten mich schwindelig, während der Regen gegen das Fensterglas hämmerte. Mein Vater leerte seine Tasse in einem Zug, und ich zählte die Flugversuche des Kuckucks im Nebenzimmer. Doch am meisten Sorgen bereiteten mir die rissigen Trafo-Kabel in den Händen des Lokführers, schließlich war Elektrizität in dieser Familie ein Sargmacher.
Der Hauptweg der Gartenkolonie war zu einem Riff geworden und so aufgeweicht, dass die Räder meines Fahrrads ständig durchdrehten. Ich stieg vom Sattel und schob mich mühsam von einer Insel zur nächsten, der durchnässte Stoff meiner Kleidung rieb mir auf der Haut, und ich fühlte mich so nackt wie am Teichufer vor Katja. Die Vertragsarbeiter grillten hinter Rauchschwaden, und die bunten Planen über ihren Köpfen wölbten sich unter dem Gewicht des Regens. Immer wieder stand jemand vom Tisch auf und drückte von unten einen Stock gegen das Plastik, damit das Wasser seitlich abfließen konnte. Die Luft roch nach dem Aufatmen trockener Erde und nach gerösteten Sesamkörnern, ganz anders als die Mittagsdünste im Hof der Kaserne, die meistens nach brauner Fleischsoße und Mehlschwitze stanken.
»Mit Reisfressern spricht man nicht«, hatte mir Bine eingebläut, als sich am Anfang der großen Ferien ein Zigarettenverkäufer von der vietnamesischen Spielplatzhälfte in die Röhre verirrt hatte und unter unserer Matratze seine Zigarettenstangen verstecken wollte. Die würden alle kein Deutsch verstehen und in unserem Land leben dürften die auch nicht.
Ich kannte keine der Familien, die barfuß auf ihren Grillbänken hockten und laut durcheinanderredeten. Hinter den Zäunen verstummten die Stimmen, sobald ich in Sichtweite kam, und ich fühlte die Blicke hinter dem Qualm an mir haften. Mein Vater meinte, dass die Vertragsarbeiter die Bewohner der Kaserne nicht leiden konnten, aber Frau Klinge war sich sicher, dass es genau andersherum war. In ihrer Parzelle fühlte sich die Erde hart unter den Füßen an. Sie lag auf einer kleinen Anhöhe, an der sich das Unwetter nicht festhalten konnte. An dem verriegelten Tor lehnte der zusammengeklappte Verkaufsstand, und ich schaffte es gerade so über die rutschige Schräge in ihren Garten. Die Blumen duckten sich und nickten, wenn der Regen von ihren Kelchen in die Beete abglitt, am Hopfenschleier schlängelten sich die Tropfen von Dolde zu Dolde, und Drosselbart zuckte im Halbschlaf mit den Ohren, wenn einer zwischen den Rissen des Vordachs auf ihn herabfiel. Unter dem Wellblech ihres Verschlags staksten die Hühner in Zeitlupe, nur eine der jungen Hennen schien kein Talent zu besitzen, das Wetter vorauszusagen. Sie saß aufgeplustert im Gras unter einem Regenschirm und bewachte mit geschlossenen Augen ihr Ei unter den Brutfedern. Frau Klinge musste den Schirm vor dem Unwetter über der Henne aufgespannt haben. Immer wenn sich ein Huhn einfallen ließ, eins ihrer Eier auszubrüten, sagte Frau Klinge mit einem Schmunzeln: »Die lernt auch noch, dass es hier keinen Hahn gibt.«
Die Schwalbenmütter flogen angetrieben vom Hunger ihrer Küken wie Fledermäuse dicht an den Holzwänden der Laube entlang. Ich traute mich nicht, in den riesigen Jutesack neben der verschlossenen Tür zu schauen, über dem die Vögel steile Haken schlugen, doch es war beruhigend, dass in ihm, anders als Katja behauptet hatte, nichts flatterte. Ich wollte nicht zurück nach Hause und den Zwinger lackieren oder meinen Vater im Eisenbahnzimmer neben den Gleisen finden. Ein Stück Kuchen und ein Glas von Frau Klinges selbstgemachtem Holundersaft wären mir lieber gewesen. Ich klopfte an die Tür der Laube und hielt mein Ohr gegen das Holz, als niemand öffnete. Auch im Garten fehlte jede Spur von ihr. Es kam häufiger vor, dass Frau Klinge für ein paar Tage verschwand, doch jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprach, gab es plötzlich sehr viel im Garten zu tun oder es regnete Haarnadeln.
Auf dem Rückweg zur Kaserne nahm ich die stillgelegten Schienen hinter der Laube. Sie verliefen von dort bergab an der Gartenkolonie und den Kasernen vorbei, erst auf der Zugbrücke des Kanals gabelte sich die Strecke. Nach rechts schloss sie sich nach einigen Weichen dem Güterverkehr Richtung Magdeburg an, der linke Abzweig führte über kniehohe Gräser auf das verlassene Werksgelände. Folgte man der falschen Weiche, konnte es gefährlich werden, wenn ein Zug ohne Vorwarnung an einem vorbeibretterte oder auf dem Weg zum Bahnhof nicht rechtzeitig abbremste. Vito und seine Jungs verteilten deshalb entlang der Brücke Pfennigstücke auf den Schienen und markierten so die sicheren Laufwege. Immer wieder erwischte es Igel und Marder, die sich auf die Gleise verirrten und nicht schnell genug auswichen. Katja behauptete, dass die alten und kranken Tiere bewusst den Wald verließen, um ihrem Leben auf der Zugbrücke ein Ende zu setzen, aber natürlich war das wieder nur eine ihrer Geschichten. Trat man jedoch auf einen Knochen oder begegnete einer plattgefahrenen Münze, drehte man besser um. Der unbefahrene Schienenabschnitt zwischen der Gartenkolonie und den Kasernen war sicher. Man bekam höchstens Mückenstiche oder begegnete lästigen Erdwespen, die einen bis zur Elbpromenade verfolgten, trat man aus Versehen auf eins ihrer Nester. Ich schob das Rad am Gleis vorsichtig neben mir her und hielt so gut es ging nach den tiefen Löchern im Boden Ausschau.
Normalerweise steckte die Sonne um diese Zeit die Kasernenwände in Brand, doch die Wolkenfront tauchte den Hof in diesiges Licht. In der Ferne schlugen die Glocken der St.-Nikolaus-Kirche und verrieten, dass der Kuckuck im Wohnzimmer an diesem Tag zum neunzehnten Flug aufgebrochen war. Auf den Balkonen versteckten sich die Bewohner der Kaserne unter ihren Sonnenschirmen vor dem Regen, und auf dem Parkplatz stieg Rauch aus dem Ofenschlot des rostigen Westfalias, der Marcik Gornicz, einem Jungen aus der Abschlussklasse, gehörte. Er lag jeden Tag zwischen den Vorderreifen auf einem Rollbrett und schraubte an der Schrottkarre herum. Katja erzählte ständig, dass er es innerhalb weniger Monate geschafft hatte, den Bus bewohnbar zu machen. Der Wagen besitze neben dem Holzofen ein Klappbett, das man tagsüber in eine Essecke umbauen könne, eine Küchennische mit fließend Wasser, Kühlschrank und Herd, und sogar eine Außendusche. Ich fragte mich, woher sie so genau wusste, wie es in dem Bus aussah. Angeblich würde Marcik damit im Herbst nach Portugal aufbrechen, um den Winter an der Algarve zu verbringen. Dort gebe es nicht nur nettere Menschen, sondern auch die höchsten Wellen Europas. Jedes Mal, wenn wir am Parkplatz vorbeikamen, ließ Katja ihre Feuerzeugteilchen funkeln und steckte sich ihre Zigarette wie die Schauspielerinnen in einem von Bines Magazinen zwischen die Finger.
Ich wollte wissen, warum Katja so gerne über Marcik redete. Wenn die Welt untergehen würde, dann wüsste jemand wie er, was zu tun sei, sagte sie. Sie schwärmte von seinen ölverschmierten Händen und dass er immer die richtigen Werkzeuge zur Hand hatte. Er würde seinen Bus im Sommer niemals unter eine klebrige Linde stellen und im Herbst nicht unter die Geschosse eines Kastanienbaums. Marcik konnte Bierflaschen mit den Zähnen öffnen, und wenn ein Ball vom Spielfeld ins Aus flog, schoss er ihn vom Parkplatz aus direkt zurück ins Tor.
»Marcik trägt Kajal wie Robert Smith, das ist so schick, und ist euch die riesige Beule in seiner Hose aufgefallen?«
Wenn Katja so sprach, setzte Bine sich Kopfhörer auf, und ich spürte ein Reißen im Bauch, alles faltete sich in mir zusammen. Es gab nur wenige Momente, in denen Bine und ich einer Meinung waren, aber wir hofften beide, dass Marcik seine Beule bald nach Portugal lenkte. Katja hatte behauptet, er habe ihr angeboten, sie auf die Reise mitzunehmen, aber sie hatte sich dabei ihre Unterlippe so dunkelrot gebissen, dass weder Bine noch ich es glaubten.
Ich lehnte mein Rad gegen die Kastanie, unter deren Dach Marcik seinen Bus abgestellt hatte. Die Regentropfen prallten scharf gegen das Blech und klangen wie das Holz in den Räucheröfen meiner Tanten, wenn es zu feucht verbrannte. Auf den grünen Gardinen blühten Gänseblümchen. Sie bildeten ein wild verstreutes Muster wie auf der Wiese im Hof, und manche verloren ihre Blütenblätter. Sie segelten als kleine weiße Sicheln quer über den Stoff. Meine Mutter wusste alles über Blumen. Jede hatte eine besondere Bedeutung und einen eigenen Charakter. Lilien waren eitel, Azaleen verzagt. War die Liebe frisch, schenkte man Stielrosen, war sie alt, dann Tulpen. Galt es einen Dank auszusprechen, paarte man am besten Nelken mit Dahlien, und nach Katarina Witts Olympiasieg wären Gladiolen die passende Wahl im Strauß gewesen. Ich wusste nicht, wofür das Gänseblümchen stand, aber ich hatte es in diesem Sommer mehrmals nach Katja befragt.
So leise wie möglich schlich ich um den Bus herum. Obwohl der Regenguss wie lauwarmes Badewasser aus den Wolken gefallen war, fühlte sich die Haut unter meiner durchnässten Kleidung eisig an. Mein ganzer Körper zitterte, als ich mich gegen den nassen Fensterrahmen lehnte und versuchte, so unauffällig wie möglich einen Blick ins Innere des Busses zu werfen. Auf der Tischplatte spiegelten sich die Ofenflammen. Ich hielt den Atem an, als ich Marciks Schritte hörte. Er trug Katja auf beiden Händen vor sich, ihre Beine schlangen sich um seinen Körper. Ihre Zunge steckte in seinem Mund, und mir wurde schlagartig übel, als er sich auf die Sitzbank warf und sie auf seinen Schoß rutschen ließ. Katja stützte sich mit den Knien auf dem Polster ab. Ihr Körper wirkte im Vergleich zu Marcik winzig. Ich starrte auf ihre Brüste, die sich im Griff seiner Hände verloren, und presste meine Fingerspitzen gegen den feuchten Stoff meiner Unterhose. Die Stelle war plötzlich ganz warm geworden, und die sich in meinem Unterleib ausbreitenden Wellen zogen mich fast zu Boden. Ich verfolgte Katjas Bewegungen aus den Augenwinkeln und lauschte, ob im Bus dieselben Geräusche zu hören waren wie bei den Wasserwanderern beim Hexengarten. Katja war nicht laut. Ich war beruhigt, dass sich in Marciks Bus nichts nach Liebe anhörte und sie sich auf die Unterlippe biss, als sie ihren Kopf zurückwarf. Ich löste mich erst von der Scheibe, als Katja plötzlich ihre Augen öffnete und durch die Regenschlieren nach draußen starrte. Auf Zehenspitzen hüpfte ich zurück auf den Fahrradsattel und war mir nicht sicher, ob sie mir kurz zugezwinkert hatte.
Zu Hause tastete ich mich durch den Flur und knipste das Licht erst in meinem Zimmer an. Wie immer um diese Uhrzeit hatte sich mein Vater in Luft aufgelöst. Alles um mich herum war ganz still, nur in der Brache vor meinem Fenster sang eine Amsel ihr einsames Abendlied. Ihre Stimme überschlug sich und ging unbeantwortet in der Leere auf. Auf dem Fensterbrett schälte sich die Grünlilie aus ihrem Topf, die mir meine Mutter vor Ewigkeiten aus der Gärtnerei mitgebracht hatte. Sie ließ nie ihre Blätter hängen, egal wie oft ich vergaß, sie zu gießen.