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»Mehlschwalben bauen ihre Nester nur an Häuser, unter deren Dächern gute Menschen leben«, sagte Frau Klinge und fütterte mit dem Gartenschlauch die Schlammkuhle neben der Laube.

Die Vögel stürzten sich an diesem Morgen abwechselnd auf die feuchte Erde und pickten kleine Kugeln aus dem Modder, mit denen sie die Risse und Bruchstellen in den Nistfladen aus den Vorjahren ausbesserten. Frau Klinge kannte alle Länder, an denen die Schwalben auf ihrem langen Weg von Afrika bis in die Laube vorbeiflogen. Ich versuchte jedes Jahr, mir das Federkleid einzelner Vögel einzuprägen, die verschiedenen Formen ihrer Schwanzgabeln, aber es gelang mir nie, die Tiere voneinander zu unterscheiden. Im Winter hatte ich sie vergessen, und es schien bei ihrer Rückkehr nicht so, als könnten sie sich an mich oder die Laube erinnern. Doch Frau Klinge war sich sicher, dass immer dieselben Vogelfamilien in den Garten zurückkehrten. Manchmal lag ich auf der Wiese und beobachtete die Schwalben bei der Jagd, kleine Haken schlagende Punkte, die sich kaum vom Blau des Himmels unterschieden. Sie flogen so hoch über der Kolonie, dass sie selbst wie Insekten aussahen. Im Gegenlicht verzerrte sich ihr Flug, und alles verschwamm vor meinem Blick, weil ich versuchte, nicht im falschen Augenblick zu blinzeln.

»Schwalben sind gute Mütter, davon können wir Menschen uns eine Scheibe abschneiden«, sagte Frau Klinge und wuchtete den Schlauch in Bahnen von ihrem Handteller über die Spitze ihres Ellenbogens zu einer gleichmäßigen Rolle. »Die würden eher selbst verhungern, bevor nicht jedes Küken satt ist.«

Kurz dachte ich an die verunglückte Elster und an Frau Klinges Sohn. Ich fragte mich, warum es ihr nicht in den Sinn gekommen war, ihn aufzuhalten, bevor er irgendwo heruntergesprungen war, und ob sie das zu einer schlechten Mutter machte. War eine Mutter schlecht, die unsichtbarer wirkte als die in Sturzflügen gejagte Schwalbenbeute, aber keinen Geburtstag vergaß? Vielleicht stehen hinter unsichtbaren Müttern einfach nur schlechte Väter. Welche, die auf den Schienen ihrer Eisenbahnen einschliefen und sich nicht gerade halten konnten, sobald die Sonne nicht mehr im Zenit stand. Oder solche wie das Schwalbenmännchen, das im letzten Jahr zu spät im Garten eintraf und seinem Weibchen immer wieder ins Köpfchen hackte, weil sie in der Zwischenzeit die Eier eines anderen ausgebrütet hatte. Die Schwalbenmutter hatte die nackten Küken kurz darauf einfach auf die Gehwegplatten geworfen und ihr Nest zerstört, während das Männchen aus Grubenschlamm direkt daneben ein neues baute. Frau Klinge hatte die zwei blinden Jungvögel eingesammelt und sie in Drosselbarts Napf gelegt. Den ganzen Tag war ich mit dem Spindelmäher über die Wiese gelaufen und hatte mir gewünscht, die Vogelkinder würden nicht als Katermahlzeit enden, sondern dürften in der Vertiefung von Frau Klinges Haarnest wohnen, bis sie fliegen konnten. Obwohl das Piepen noch viel zu lange durch den Garten stach, kicherte ich über die Vorstellung der weißen Frisur, aus der zwei winzige Schnäbel ragten.

In Australien gab es Spinnenmütter, die sich absichtlich von ihrem Nachwuchs auffressen ließen, und eine Krötenart, die ihren Laich in ihrem Magen ausbrütete. Frau Klinge war eine Enzyklopädie. Sie wusste mehr über die Natur als die Lexikonreihe in unserem Wohnzimmerregal, und ich liebte ihre langen Vorträge beim Mittagessen. Sie konnte mir erklären, warum Kirschen aufplatzten und sich Farnblätter so herzlich einrollten, wieso Trauerweiden am Wasser und Pfifferlinge unter Nadelbäumen wuchsen und aus welchem Grund Kater Drosselbart zweimal im Jahr sein Fell verlor.

»Ein frischgelegtes Ei muss drei Tage liegen, bevor man es essen kann«, sagte Frau Klinge und stellte mir ein Vogelnest vor die Nase.

Ich wusste nie, ob das Gericht wirklich so hieß oder ob sie sich den Namen nur ausgedacht hatte. Eine Kelle Kartoffelbrei auf einer Lage Dosenpilze mit knusprigem Setzei obendrauf. Als ich mit der Gabel den halbgaren Dotter zerstieß, empörte sich eins der Hühner im Verschlag, und ich hoffte, Frau Klinge servierte mir nicht das Ei, auf das die Henne unter dem Regenschirm neulich so gut aufgepasst hatte.

»Warum finden dich alle eigentlich so komisch?«

Ich hatte sie noch nie gefragt, warum keiner sie in der Laube besuchen kam und weshalb sogar die Leute, die das Gemüse vor dem Tor kauften, sich so benahmen, als wimmelte es im Garten vor bissigen Hunden. Sie warfen die Münzen mit spitzen Fingern ins Einmachglas und flüsterten, sobald Frau Klinge in Sichtweite auftauchte.

»Na ja, nun …«, Frau Klinge zog zwei Nadeln aus ihrem Haar und sortierte die Strähnen an der Stelle, wo ich mir die Schnäbel der Schwalbenküken vorgestellt hatte. »Wie fändest du es, wenn jemand alles über dich wüsste? Jedes noch so kleine Geheimnis? Die Person wäre dir doch sicher unheimlich.«

Ich überlegte und schüttelte den Kopf, obwohl ich sofort an Frau Leopold denken musste, die mir unheimlich war, weil sie schon am Anfang einer Schulstunde wusste, wenn man seine Hausaufgaben abgeschrieben hatte.

»Und warum weißt du alles über die Leute?«

Frau Klinges Haar fiel zur Hälfte in langen weißen Strähnen über die Schulter, die Nadeln lagen in einer Reihe vor ihr auf der Tischplatte. Immer wieder rückte sie sie am Schaft mit dem Zeigefinger gerade und verschob ihre Abstände.

»Weil ich die Augen offen halte und meine Ohren überall habe.«

Ich hatte keine Geheimnisse. Jedes Mal, wenn ich versuchte eines zu hüten, kam ein Erwachsener dazwischen und lüftete es. Als ich im Papierlädchen einen Schokoriegel stahl, wusste mein Vater schon davon, bevor ich ihn heimlich unter der Bettdecke essen konnte. Auch Katjas Zigaretten fand er in meiner Nachttischschublade, einfach so. Seit unserem Tag am Teich bewahrte ich sie auf, damit sie nicht noch mehr Hausarrest bekam, doch sie schien in letzter Zeit sowieso lieber auf Marciks Schoß zu sitzen und seine Zigaretten zu rauchen. Ich war verwundert, dass mein Vater, anstatt mich zu bestrafen, nur sagte: »Wie praktisch. Ich wollte sowieso wieder anfangen.« Die Schachtel schloss er in den Küchenschrank, in dem er auch den Schnaps versteckte. Die Heimlichkeiten meiner Mutter zu durchschauen, hatte sich schwieriger gestaltet. Sie konnte die Dinge viel besser vor mir verbergen als mein Vater, weshalb ich Frau Klinge fragte: »Kennst du die Geheimnisse meiner Mutter?«

Ihr Blick wanderte über die Nadelreihe, die ihre Tischseite scharf von meiner trennte. Mit der flachen Hand wischte sie unsichtbare Krümel von der Kante und schüttelte ihr offenes Haar so energisch, dass ich nicht sagen konnte, ob sie nickte oder meine Frage verneinte. Ohne Haarnest wirkte Frau Klinge schlaff und um Jahre gealtert. Die Haut in ihrem Gesicht hatte jede Spannung verloren, die Schwerkraft ließ sie in ledrigen Lappen Richtung Kinn sinken, und mir waren vorher noch nie die vielen Flecken aufgefallen, die Wangen und Stirn wie schmutziges Tuschwasser überzogen. Ihr Wesen schien lediglich von Nadeln zusammengehalten zu werden. Es vergreiste, sobald die Klemmen und Kämme nicht mehr im Haarnest steckten. Etwas unter den gesprenkelten Hautbahnen schimmerte so grünstichig wie meine Oberschenkel im Wasser des Teichs. Frau Klinge saß plötzlich gekrümmt vor ihrem Vogelnest und machte einen so blutleeren Eindruck, dass ich jeden Augenblick damit rechnete, sie würde schräg von der Sitzfläche des Klappstuhls kippen.

»Ich habe heute einen fürchterlichen Sommerkopf«, stöhnte sie. »Ich muss mich hinlegen.«

Der Sommerkopf überkam sie immer dann, wenn die Temperaturen zu schnell anstiegen und schon mittags über dreißig Grad erreichten. Er kam aus dem Nichts und war ein wichtiger Vorhersagemechanismus der Wetteruhr. Er entschied darüber, wie viele Gießkannen jedes Beet brauchte: Ein fürchterlicher Sommerkopf bedeutete zwei Kannen mehr pro Anbaumeter, ein fieser eine bis zum Rand gefüllte Kanne, und bei einem Sommerkopf ohne alles reichte eine Füllung des Wassereimers, dessen Boden wie ein Sieb durchlöchert war.

Frau Klinge taumelte orientierungslos zur Laube und hielt sich am Türrahmen fest, um nicht vornüberzustürzen. In ihrem bunten Kleid wirkte sie auf einmal so unfreiwillig komisch wie Frau Wenzel, wenn sich bei ihr mal wieder die Jahre vermischten und sie im Morgenrock vor dem Supermarkt jeden nach der Zeit fragte. Ich spürte, wie sich meine Magenwände um das Vogelnest krampften, und fühlte mich so flau wie bei langen Autofahrten auf dem Rücksitz. In der Laube fiel die Tür des geheimnisvollen Marderzimmers zu, das nur Frau Klinge betreten durfte und das tagsüber verriegelt war. In ihm lagerte sie Gartengeräte, das wusste ich, weil sie häufig darin verschwand und mit einem Rechen, einer Sense oder dem Handmäher wiederkam, aber vermutlich gab es auch ein Bett, das sie sich mit den Mardern teilte. Die Tiere lebten unter dem Dach und versuchten jeden Sommer, die Räume der Laube einzunehmen. Ihnen ging es um die schmackhaften Schwalbenküken, doch ihre geduldig angelegten Gänge reichten bisher nur ins Marderzimmer. Sobald sich die Insekten bei Einbruch der Dunkelheit schlafen legten, fing es über der Decke an zu knirschen. Man konnte genau das Trippeln der Pfoten und den Widerstand hören, auf den ihre spitzen Zähne im Holz stießen.

So ein Sommerkopf ist mindestens so unpraktisch wie ein Geheimnis, dachte ich und machte die Blechgießkanne bei jedem Gang so voll, dass ich sie kaum zu den Beeten tragen konnte. Die Pflanzen schienen die Regentage längst vergessen zu haben und hörten erst nach der dritten Kanne auf, das Wasser gierig aufzusaugen. Auch die fast schon wieder trockene Schlammpfütze neben der Laube bekam eine Fuhre.

Ich fragte mich, warum der Sommerkopf ausgerechnet heute fürchterlich war, denn der Streifen im Thermometer des Wetterhäuschens am Terrassenbalken lag weit unter der Dreißig. Die kleine Figur mit Regenschirm versteckte sich in ihrem Eingang, während die Schönwetterfrau mit dem Obstkorb nur durch die Kraft einer Hopfendolde daran gehindert wurde, vom dünnen Sims des Häuschens zu springen. Schnellstraßenbrücke. Geheimnisse. Sommerkopf. Katja. Meine Gedanken rasten, als ich Frau Klinge in der Küche eins der umfunktionierten Senfgläser mit Holundersaft füllte und auf den kniehohen Zeitungstisch neben dem Marderzimmer stellte. Hinter der Tür ächzte das Bettgestell. »Lass die Teller einfach stehen.«

Ihre Stimme klang durchsichtig, als würde ihr Körper kurz davorstehen, sich aufzulösen, und der Gedanke trieb mich mit wackeligen Beinen auf mein Fahrrad. In der Zwischenzeit war eine Elster auf dem Gartentisch gelandet, pickte in den Resten meines Vogelnests und brachte die Haarnadeln durcheinander.

Ich fuhr ziellos durch den Ort und vermied sowohl die Hauptstraße am Bandauer als auch den Kasernenhof. Erst radelte ich die Elbpromenade bis zu ihrem Ende am Schuttkontor ab. Ich umzirkelte die Dünen der Sandgrube, wie es die Fliegen bei den Klebfallen taten, die in Frau Klinges Laube in gelben Spiralen von der Decke hingen. Dann fuhr ich neben den Schienen der ehemaligen Werksbahn wieder hoch zu den Gärten und bog am Auenwald auf den Weg, den Katja und ich zum Tümpel genommen hatten. Kurz blieb ich an der Stelle stehen, die zum Wasser hinunterführte, und wurde traurig, weil sich unser Badetag so weit weg anfühlte. Er war nicht mal eine Woche her, doch es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich Katjas Haut berührt hatte und sie meine. Immer wieder dachte ich an das, was ich im Bus gesehen hatte. Ihr auf und ab hüpfender Körper auf Marciks Schoß, ihre zerwühlten Haare, aus denen sich die Hälfte der Silberteile gelöst hatte, ihre schlanken Arme, die Marciks Gesicht gegen ihre Brust pressten. Am schlimmsten war das Gefühl der Hilflosigkeit, das sich seit dem Regentag in mir breitgemacht hatte. Ich wollte, dass die Sommerferien aufhörten, aber ich wollte auch auf keinen Fall zurück in die Schule, wo ich Katja noch viel eher über den Weg laufen würde. Ich hatte keine Lust, den ganzen Tag Modellbahnhäuschen anzustreichen und Züge im Kreis fahren zu lassen, neben meinem schlafenden Vater bescheuerte Sendungen im Fernsehen zu schauen oder mich vor Frau Klinges Sommerkopf zu fürchten. Ich hatte Katja nur ein einziges Mal gesehen, als ich wie so oft am Fenster auf meinem Beobachtungsposten stand. Sie bewachte unsere Wohnung vom Dach der Röhre aus und verscheuchte die Sandkastenkinder, die darin spielen wollten. Vielleicht wartete sie dort auf mich, aber immer wenn sie ihr Gesicht in Richtung meines Balkons wandte, duckte ich mich rechtzeitig weg.