Schrauben-Hitler. Zwei Hakenkreuze auf der Tür und drei weitere am Schaufenster. Zwei Tage nach dem Brand stand Alfred Hiller morgens vor seinem Geschäft und fragte sich, mit welchem Lösungsmittel er den weißen Lack vom Ladenschild und den Glasflächen entfernen sollte. Die Farbe war so unverwüstlich, wie er sie seinen Kunden anpries, doch bei einem Schrauben-Hitler würde so schnell niemand mehr einkaufen kommen. Den anderen vom Stammtisch ging es nicht anders. Keiner würde seine Gardinen in eine Wäscherei bringen, auf deren Frontseite Schmutzwäscher stand, oder seine Schuhe von einem Springerstiefel besohlen lassen. Am heftigsten hatte es die historische Fassade vom Bandauer getroffen. Man konnte die Kreuze schon vom alten Marktplatz aus sehen, sie reichten von der Traufe bis zu den Lichtgräben des Fasskellers.
Hiller schmunzelte über die spiegelverkehrt aufgesprühten Symbole an seinem Laden, denn schließlich verhielt es sich auch andersherum. Weder hatte er etwas mit dem Brand zu tun noch eine Abneigung gegen die Fidschis. Aber der Stammtisch stand aus Prinzip unter Generalverdacht. Am ehesten war die Kokelei Martin Jäckel zuzutrauen, dachte Hiller. Er schimpfte immer, dass einem die billigen Leute aus Asien das Wasser abgraben würden, und war mit dem Löschwagen der Freiwilligen Feuerwehr schon angeschlingert gekommen, bevor irgendjemand sonst auf den Rauch überhaupt aufmerksam geworden war. Nicht selten steckt hinter Brandstiftung derjenige, der sich am fleißigsten bei den Löscharbeiten einbringt. Das dachten auch Brunig und Küstrin, sogar das Ehepaar Bandau hatte genickt, als man auf Jäckel zu sprechen kam. Er war schon immer ein negatives Element gewesen, und genau so hatten sie es auch dem Brandkommissar Harnisch aus dem Westen zu Protokoll gegeben, der seit der Wende Berater im Präsidium war und die Abschnittsbevollmächtigten mundtot gemacht hatte.
Auch Brunig hatte sich über die Vietnamesenbrüder geärgert, die am Ende der Hauptstraße eine zweite Wäscherei eröffnen wollten, und immer wieder verschwanden Materialien, die auf Paletten vor deren Baustelle lagerten. Küstrin beklagte sich über das Geschäft gegenüber, in dem man seine Schuhe nicht nur günstiger als bei ihm reparieren, sondern auch Schlüssel nachmachen lassen konnte, und die Bandaus wollten seit Jahren das Gasthaus renovieren. Das Geld von der Sozietät käme jetzt genau richtig. Da war es sinnvoller, sich gemeinsam auf ein Stammtischmitglied einzuschießen, das ohnehin einen schlechten Ruf hatte. Drei Gärten hatte das Feuer verschont. Das Grundstück der alten Klinge und die beiden verwilderten Parzellen, die daran anschlossen. Obwohl Hiller die schrullige Parteihexe nicht ausstehen konnte, schloss er sie als Brandstifterin aus. Sie bemühte sich als Einzige, sich die Namen der vietnamesischen Arbeiter einzuprägen, tauschte mit ihnen Gemüse gegen Steckzwiebeln, feierte ihre Feste mit und trug sogar ihre Kleider.
Sollte der Verdacht am Ende auf ihn fallen, konnte es nur daran liegen, dass er sich etwas zu laut über die Leute geäußert hatte, die seit über einem Jahr den Garten seiner Großeltern besetzten. Als das Werk seine Tore endgültig dichtgemacht hatte und die Unterkünfte der Vertragsarbeiter den Abrissarbeiten zum Opfer gefallen waren, hatten nur wenige Arbeiter die vierstellige Abfindung angenommen und waren zurück nach Vietnam gereist. Das war anfangs keine große Sache gewesen, als sich die erste Familie in einer verlassenen Parzelle niedergelassen hatte. Doch als andere nachzogen und sich auf die bebauten Gärten stürzten, folgte auf die Duldung die große Wut der eigentlichen Besitzer. Sobald die Vietnamesen die baufälligen Lauben instandgesetzt hatten, wollte jeder seinen Garten lieber wieder zurück. Hiller ärgerte sich vor allem über die vernachlässigte Quitte, die das Herzstück seines Gartens war. Der bemooste Baum trug kaum noch, weil niemand ihn beschnitt, und die sich gegenseitig erstickenden Äste waren jedes Mal ein schlimmer Anblick, wenn er an der Parzelle vorbeimarschierte, um sich von dem Verfall zu überzeugen. Der Familie taten seine Kontrollgänge nicht so weh wie ihm. Die Besetzer trotteten ans Gartentor auf ihn zu und schnatterten Dinge, die er nicht verstand, hielten ihm frittierte Gemüserollen auf den Käseplatten seiner Großmutter über den Zaun. Man konnte doch eine Käseplatte nicht einfach zweckentfremden und darauf Dinge servieren, die den Sinn von so einem Geschirr verzerrten. Aber das war kein staatsbürgerschaftliches Problem, sondern ein kulturelles und vielleicht noch ein optisches.
Alles, was der Garten für Hiller seither abwarf, waren vietnamesische Grässlichkeiten auf enteigneten Käseplatten, von denen er Darmkrämpfe bekam. Auch die Erinnerungen, die diesen Frühling mit den Knospen der Fliederbüsche ausgetrieben waren, rumorten in ihm. Aus ihren Blütenständen hatte seine Großmutter immer kleine Tischgebinde gefertigt. Jeden Morgen standen frische Gestecke auf den gestreiften Tischtüchern und der ausziehbaren Anrichte des Küchenschranks. Am Busch zutschte Hiller als Kind den Nektar aus den winzigen Kelchen und streichelte mit dem Zeigefinger den Pelz der Hummeln. Zwischen den Kerzen des Rhododendrons hatte er heimlich Hanne aus dem Nachbargarten geküsst, die später dann doch lieber bei seinem Bruder Albert blieb, und hinter den Hortensiensträuchern gab es einen Zierteich, in dem wegen der Graureiher mehr Wasserläufer als Fische lebten. Die Vögel standen wie aus Stein gehauene Statuetten am Uferrand und stierten auf die Schleierschwänze. Hiller saß vor dem Mittagessen regungslos mit der Zwille im Dickicht, um die diebischen Tiere mit Kronkorken und Kieseln genau im richtigen Moment zu erwischen. Am Ende jedes Sommers stand sein Großvater mit einem Eimer zwischen dem Hechtkraut und fluchte über das viele Metall auf der Teichfolie und das Wasser, das ihm in die Gummistiefel lief.
Den morschen Geräteschuppen hatten die Besetzer in einen zusätzlichen Schlafraum umgebaut. Ein Doppelstockbett und eine Matratze auf den Holzbohlen daneben. Arme Leute sind gut im Improvisieren, dachte Hiller und lächelte bei dem Gedanken an das Windholzregal, das früher an der Wetterseite im Schuppen gelehnt hatte. Im Herbst bog es sich unter dem Gewicht der Kürbisse und Einmachgläser zur Seite. Als Kind schüttelte er die Gurken, bis die Senfkörner und Dillfäden wie die Flocken in einer Schneekugel vom Deckel langsam auf den Glasboden zurückrieselten. Auf den oberen Böden glühten die Marmeladengläser im Gegenlicht, vor allem das goldene Quittengelee loderte wie die Kassettenscheiben der St.-Nikolaus-Kirche.
Da half nur noch abschleifen oder austauschen. Einmal ganz weg und wieder neu. Hakenkreuze waren etwas Hartnäckiges. Sie ließen sich nicht mühelos übermalen und von zwei Farbschichten aus dem teuren Importsortiment vertreiben. Die englische Bootsfarbe konnte zwar Rostfraß abdecken, aber gegen den Umriss einer Anschuldigung war sie wehrlos. Hiller klingelte ein drittes Mal an der Tür seiner Nachbarin. Sie hatte am Küchenfenster gestanden und aufgelöst mit den Armen gewedelt, als sie ihn auf dem Parkplatz des Kasernenhofs aus dem Auto steigen sah.
»Da ist es mit mir durchgegangen.« Frau Wenzel lachte und brachte ihre Haare unter dem Kopftuch in Ordnung. »Das hat mich so erinnert, wissen Sie?«
Hiller öffnete den Traps des Spülbeckens und versuchte sich die Not vorzustellen, in der sie sich befunden haben musste, als der Brandgeruch von der Kolonie in ihre Küche gezogen war. Frau Wenzel hatte Mehl, Graupen, Blumenerde und halbe Brotscheiben in den Ausguss gestopft, damit das Russengas nicht durch die Rohre dringen konnte. Früher habe es ständig erst nach Feuer gerochen, und dann hätten die Augen gebrannt, bis man nichts mehr sehen konnte.
»Aber noch schlimmer roch das, als die Russen meinen Hahn gekocht haben. Ein prächtiges Tier, der Anton.«
»Das ist ja nicht so schön«, antwortete Hiller in der Dunkelheit des Spülschranks.
»Der hatte wun-der-bare Schwanzfedern und einen rie-si-gen Kamm. Und diesen Kamm sollte ich dann essen. Danach habe ich tagelang gebrochen.«
»In manchen Ländern ist das eine Delikatesse«, raunte Hiller und fand sich sofort selbst geschmacklos, denn Schauergeschichten über die Rote Armee gab es auch in seiner Familie.
Frau Wenzel stieg auf einen Klapptritt, nahm zwei Glastassen aus dem Schrank und sagte, dass man gut einen Grog trinken könne, jetzt, wo der Russe nicht mehr da war. Hiller räumte sein Werkzeug zusammen, testete den Ablauf des Wasserhahns und versuchte sich die Frage zu beantworten, ob es im fortgeschrittenen Alter hilfreicher war, wenn man nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte oder es kaum auf einen Stehhocker schaffte. Ihm tat die Frau leid, über die er nichts wusste, außer dass sie mit neunzehn bereits Witwe gewesen und ihr einziges Kind nur ein paar Jahre später an Typhus gestorben war. Das Leben hatte ihr so zugesetzt, dass sie schon wirr im Kopf war, als er noch zur Schule ging. Ihre Wirklichkeit beschränkte sich auf die Flucht, ihre Zeit im Wohlfahrtskinderheim, die Ehrenparaden der Nationalen Volksarmee und die Werbesprüche aus dem Fernseher, der früher pausenlos lief, was die Nachbarschaft dank der dünnen Wände in einen Fluch verwandelte. Alles, was davor, dazwischen und danach passiert war, lagerte sie an unzugänglichen Stellen ihres Gedächtnisses. Hiller hatte in einer Illustrierten beim Arzt gelesen, dass das menschliche Gehirn selektiert und seelische Wunden einfach umprogrammiert, wenn der Kummer zu groß wird. Jemand vom Wohnungsamt hatte wohl Mitleid mit der Frau gehabt, die ihr Haus auf der anderen Seite des Kanals räumen musste, als die Schienentrasse der Werksbahn genau hindurch verlegt wurde. Sie durfte eine der ersten fertigen Wohnungen im Kasernenkomplex beziehen und konnte sich ihre Witwenrente mit dem wenigen Geld aufstocken, das man ihr für die Hausmeisterstelle zahlte. Obwohl Hiller häufig hörte, wie sich Frau Wenzel in irgendeinem ostpreußischen Dialekt mit ihrem Schrubber unterhielt, war das Treppenhaus immer makellos geputzt und der Rasen auf dem Hof frei von Schafgarbe.
»Trink nicht wahllos – greif zum Wein!« Frau Wenzel lachte und ließ heißes Wasser aus der Thermoskanne über den Kandiszucker laufen. Die braunen Brocken zischten und beruhigten sich erst, als der Rum dazukam. »Wir sind heute aber mal wahllos, was?«
Hiller strich sich über den Bart und studierte das Etikett der Flasche, das eine Frau mit Blumenkette zwischen Palmen am Strand zeigte, hinter ihr ein dreimastiges Piratenschiff.
»Ein guter Tropfen«, las Hiller und wusste nicht, worüber er mit seiner Nachbarin sonst reden sollte. »Ach ja, bessere Zeiten.«
»Die Zeiten waren noch nie gut, Herr Handwerker. Aber wissen Sie, nebenan«, Frau Wenzel flüsterte mit aufgerissenen Augen über ihren dampfenden Grog hinweg, »da ist ein A. Hiller eingezogen. A. Hiller. Da läuten einem die Glocken, was?«
»Stimmt etwas nicht mit dem?«
»Das haben doch viele gemacht, damals. Ein T weggenommen und ein anderer Buchstabe rein. Der hat keine Frau, keine Familie, man sieht den auch sonst nicht oft im Haus. Aber das A macht mir ja noch mehr Sorgen.«
Hiller trank einen möglichst großen Schluck. Das war ein alter Witz, den sich früher schon seine Mitschüler erlaubt hatten. Alfred Hiller, was für eine Nazimutter! Sein Bruder Albert hatte die vorlauten Gören dann immer verprügelt und ihnen den Mund mit Schlamm ausgewaschen. Frau Wenzel stieß ihr Glas so heftig gegen seins, dass ihm der Grog über den Handrücken lief.
»Wohne ich lieber neben einem Russen oder einem Hitler? Das ist eine Jahrhundertfrage, Herr Genosse!«
Hiller schoss vom Stuhl und konnte sich nicht entscheiden, ob er seine Nachbarin bemitleiden oder beneiden sollte. Ihre Welt blieb jeden Tag die alte, es gab noch Rumverschnitte mit hübschen Etiketten, und die Gegenwart wütete in ihrem Leben nicht so rücksichtslos wie in seinem.
Von ihrem Küchenfenster aus hatte man den Kasernenhof gut im Blick. Die ganze Nachbarschaft beteiligte sich an den Aufräumarbeiten nach dem Brand, und vermutlich war auch die Person darunter, die zu verantworten hatte, dass die Familien in der Turnhalle der alten POS untergebracht wurden. Vor dem Festzelt der Freiwilligen Feuerwehr auf dem Fußballplatz standen die Helfer mit Kaffee und Bier, fühlten sich endlich wieder nützlich.
»Draußen ist Parade, die dürfen wir nicht verpassen!«
Frau Wenzel scheuchte Hiller über die Türschwelle auf den Fußabtreter und schlug hinter seinem Rücken die Wohnungstür zu. Obwohl ihm der Grog einen Mittagsschlaf nahelegte, entschied er, sich der Hilfsbereitschaft seiner Nachbarn anzuschließen, um den Anschuldigungen an seiner Ladenfront keine weitere Nahrung zu bieten.