Nach dem Brand in der Gartenkolonie dauerte es eine Woche, bis ich Katja wiedersah. Immer wieder schlich ich zur Röhre, fand darin aber nur die Sandkastenkinder, die unsere Wohnung in einen Verkaufsstand verwandelt hatten und die Backwaren in ihren Förmchen mithilfe der Bierkästen vom Spielplatz in unsere Küche trugen. Die Eltern hatten die Matratze auf den Haufen vor der Gartenkolonie geworfen, auf dem sich der verrußte Hausrat der Vertragsarbeiter stapelte.
Den Kindern fielen die Kuchen aus den Händen, als ich in der Röhre das angekokelte Bügelbrett zur Seite trat und mich sofort schlecht deswegen fühlte. Es hatte als Kassentisch gedient, und das mit Pfennigstücken gefüllte Einmachglas zerschellte an der Röhrenwand. Die Münzen landeten im Sand. Eins der Kinder schnitt sich beim Aufsammeln an einer Glasscherbe, ein anderes versuchte, die Sandkuchen zu retten.
»Wir dürfen hier spielen«, sagte eins der Mädchen. »Die eine von euch hat es erlaubt.«
Eine von uns. Mir gefiel dieser Satz, doch ich schämte mich beim Anblick der zerquetschten Kieseltörtchen unter dem verkohlten Bügelbrettpolster und des nach einem Pflaster kreischenden Kindes. Von seinem Zeigefinger tropfte es zwischen die verstreuten Münzen, und der Sand war schon nach einigen Sekunden schwarz gesprenkelt. Auch mein Blut war nur tröpfchenweise in die Tennissocken meines Vaters gesickert. Es war mir peinlich, die Binden aus dem Badezimmerschrank zu benutzen, die mein Vater in mir unerklärlicher Voraussicht besorgt hatte. Noch weniger wollte ich einen der Tampons benutzen, die wir im Unterricht geschenkt bekommen hatten. Die drei in Plastik gewickelten Stoffzapfen lagen seit Monaten in der Vordertasche meines Schulranzens und waren mittlerweile grau von den Bleistiftresten, die sich darin aus dem überfüllten Anspitzer verteilt hatten. Außerdem grauste mir davor, dass mir dasselbe Missgeschick passieren könnte wie dem Mädchen in Katjas Geschichte. Es war einfacher, ein Paar Socken aus dem Schrank meiner Eltern zu klauen, wenn mein Vater gegen Mittag zum Bandauer aufbrach. Ich warf sie auf dem Rückweg nach Hause entweder auf den Haufen vor der Gartenkolonie oder stopfte sie nachts heimlich in die leeren Joghurtbecher des Küchenmülls.
»Unsere Wohnung ist jetzt eine Bäckerei!«, war das Erste, was ich Katja an den Kopf knallte, als ich sie auf dem Parkplatz abpasste. Sie malte mit weißem Lack die Blüten eines Gänseblümchens auf dem Kotflügel von Marciks Bus aus.
»Hübsch, nicht? Mach mal weiter«, sagte Katja und drückte mir ihren Pinsel in die Hand. Mir fiel auf, dass eins der Lämpchen an meinen Schuhen nicht mehr blinkte und sich Katjas Geruch verändert hatte. Sie roch immer noch dunkelgrün, nach Harz und feuchtem Waldboden, aber etwas Braunes war dazugekommen. Ledersitze, der Muff von Wäsche, die zu langsam trocknet, und abgestandener Rauch, gemischt mit Motoröl.
»Wo ist Marcik?«
»Der holt Bier.«
Katja trank sonst nie.
Ich sagte: »Guter Plan«, obwohl ich nichts daran gut fand. »Seid ihr jetzt richtig zusammen?«
Sie schwang sich über die Heckleiter auf das Busdach, legte sich flach auf den Bauch und beobachtete mich von oben. »Würde dich das ärgern?«
Ich zuckte mit den Schultern und bekämpfte das Bedürfnis, den Inhalt des Lackeimers einfach auf die Windschutzscheibe zu kippen.
Katja atmete laut ein, als würde sie sich über etwas erschrecken. »Ha! Du bist eifersüchtig! Doch nicht auf Marcik!«
Sie befahl mir, zu ihr aufs Dach zu klettern, und erklärte mir, dass Bine ständig eifersüchtig sei, weshalb sie keine Lust mehr habe, sich mit ihr zu verabreden, aber bei mir sei Eifersucht irgendwie süß.
»Wir definieren unsere Beziehung nicht«, sagte sie schließlich. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, bestimmt hatte sie den Satz aus irgendeiner Zeitschrift. Ich rollte mich auf den Rücken und legte meinen Kopf in ihren Schoß. Das Blätterdach raschelte, und Katjas Gesicht war so dicht über meinem, dass ihre Locken fast meine Wangen berührten.
»Was findest du an dem Typen?«, fragte ich sie und befestigte ein loses Silberteil an einer ihrer Haarsträhnen. »Er ist nicht mal schön!«
»Doch, besonders nackig.«
Katja lachte, und ich wollte mir nicht vorstellen, wie es unter Marciks Cordhose aussah, aber sie fing schon an zu erzählen, dass die meisten Männer zwischen ihren Beinen schlecht riechen würden. Sogar nach Kochkäse, wenn man Pech hatte, doch bei Marcik sei das anders. Mir wurde übel. Katja blickte verträumt in die Baumkrone. Bei Marcik würde es nach Kastanie riechen und sich auch so anfühlen, ganz weich und trotzdem fest.
»Ey, ich will das alles gar nicht wissen«, sagte ich und hielt mir die Ohren zu.
»Noch nicht«, erwiderte Katja und tippte mir auf die Nasenspitze, wie ich es ständig bei den Müttern auf dem Spielplatz sah.
Seit dem letzten Tag in der Röhre war alles anders zwischen uns. Früher hatte sie mich zur Begrüßung immer umarmt, und obwohl ich froh war, nicht mehr der Hund sein zu müssen, fehlten mir ihre Hände in meinem Rückenfell. Ich wollte, dass sich alles wieder so anfühlte wie der Nachmittag am Teich. Ich wollte ihr von dem Blut in meiner Unterhose erzählen und dass ich ständig von ihr träumte. Die Küsse fühlten sich jedes Mal so echt an, als hätten sie wirklich stattgefunden, und an einem Morgen war ich unten ganz nass gewesen, so wie sie es beschrieben hatte. Auch das wollte ich ihr erzählen, aber sobald sie vor mir stand, verlor ich den Mut, überhaupt daran zu denken. Als Marcik uns von unten etwas zurief, stieß sie mich von ihrem Schoß wie einen Köter von der Bettkante, fast wäre ich vom Autodach gekullert, direkt vor seine Füße. Er stellte eine Sechserpackung Granaten auf die Motorhaube. Katja nannte die kleinen Bierpullen so, weil sie in der Hand ihres Vaters aussahen wie Wurfgeschosse.
»Mach Pilly mal eine Granate auf!«, rief sie nach unten. Marcik öffnete eine der Flaschen am Seitenspiegel und reichte sie mir nach oben, die nächsten beiden ließ er mit dem Ring an seinem Mittelfinger aufspringen. Ich gab meine sofort an Katja weiter. Sie nahm einen großen Schluck und auf ihrer Unterlippe glänzte das Bier. Ich erschauerte, als Marcik sich mit einem Schnaufen zu ihr aufs Dach zog und die Flüssigkeit von ihrem Mund leckte. Zum Glück stapfte mein Vater in diesem Moment auf den Parkplatz und winkte mich hastig zu sich.
»Ich muss zum Bahnhof. Wir fahren heute nach Magdeburg«, sagte ich und kletterte die Leiter in zwei Sätzen nach unten. Katja machte zum Abschied eine Handbewegung, als würde sie ein Insekt verscheuchen, und sah nicht in meine Richtung, egal wie oft ich mich zu ihr umdrehte.
Nach dem Brand stellten die Ärzte im St. Marienstift nicht nur einen Schatten auf Frau Klinges Lunge fest. Ein zweiter breitete sich dort aus, wo der Sommerkopf sein Unwesen trieb, ein dritter in der unteren Hälfte ihres Rückens. Mein Vater hielt die Röntgenbilder gegen das Fenster und warf einen ernsten Blick auf Frau Klinge zwischen den zwitschernden Maschinen, an die sie angeschlossen war. Anstelle der bunten Kleider trug sie ein ausgewaschenes Patientenhemd, ihr Haarnest war ohne den Halt der Nadeln in den Nacken gerutscht und neben dem Nachttisch standen ihre roten Gummistiefel. Ich bezweifelte, dass sie schon bald wieder in sie hineinschlüpfen konnte.
»Das kommt wirklich ungelegen«, sagte sie in demselben Tonfall, mit dem sie ein Wespennest an der Laube oder den Blattlausbefall eines Beerenstrauchs kommentierte. »Pillchen, jetzt musst du ein Auge auf die Hühner haben. Und vergiss den Napf vom Kater nicht, sonst bleiben uns von den Hennen nur die Federn übrig.«
Ich fragte mich, was von ihr übrigbleiben würde, und stellte mir einen Haufen Haarnadeln im Bettzeug des Marderzimmers vor, worüber ich lachen musste, was mein Vater überhaupt nicht witzig fand. Frau Klinge beschwerte sich über den trüben Ausblick, der sich ihr vom Fenster bot, aber nicht über die Aussichten, die die Ärzte ihr gegeben hatten. Die Schatten in ihrem Körper schienen sie weniger zu stören als die Krähenschwärme über den Krankenhausdächern. Solche Vögel würden nicht zur Genesung beitragen, sagte sie, denn sie flögen den ganzen Tag das Fensterbrett an und starrten auf der Suche nach Aas mit schwarzen Perlaugen ins Zimmer. So fühle man sich schon abgeschrieben, bevor man überhaupt im Sterben liege. Ich dachte an die Fotoalben im Haus meiner Tanten, die nach Jahreszahlen sortiert im Stubenregal standen. Man konnte es den Familienmitgliedern ansehen, wenn sie »abgeschrieben« waren. Viele der rotstichigen Bilder zeigten meine Großeltern auf Ausflügen, und über jedem Foto klebten kleine Zettel, auf denen mein Großvater in kantigen Buchstaben den Anlass notiert hatte. Beim Zwischenstopp auf der Sanddornplantage Ludwigslust hielt seine kräftige Hand einen Korb mit orangen Beeren in die Kamera. Für die Wilde Kirschernte auf dem Seitenstreifen einer Landstraße ein Jahr später brauchte er schon beide Hände, um den Korb zu halten. War sein Gesicht beim Thüringer Waldmuskelkater 1960 noch doppelt so breit wie das meiner Ostsee-Oma, konnte der Rotstich auf dem Zingster Sommerfest 61 seine Blässe nicht mehr ausgleichen. Je breiter der Schatten in ihm wurde, desto schmaler wirkten die Buchstaben der Notizen und seine Hände auf den Fotografien. In der Mitte des Albums fehlte von ihm und den Zetteln jede Spur. Auch auf den Aufnahmen im Hexengarten kündigten sich Schatten an, die in meiner Gewitter-Oma zwar nicht heranwuchsen, sie aber von innen verstopften. Obwohl der Farbstich der Bilder mit jedem Albumjahr abnahm, wurden ihre Wangen erst orange, dann rot, bis sie am Ende den Farbton von Blaubeeren hatten. Wenn ich bei meinen Tanten zu Besuch war, ging ich die Alben genau durch und untersuchte das Gesicht meines Vaters auf den Fotos, doch zum Glück ließen sich bei ihm auch auf den fünften Blick keine farblichen Auffälligkeiten feststellen.
»Es ist wahrscheinlicher, von meinem Pflaumenbaum erschlagen zu werden, als hier gesund das Bett zu verlassen«, stöhnte Frau Klinge und zog die Decke hoch. Es reichte ihr fast bis ans Kinn. »Hier kommt alle paar Stunden eine runzelige Schwester vorbei und sieht nach, ob man noch warm ist, dabei stehen die alle selbst schon mit einem Bein im Grab.«
Mein Vater gab der »Wende« die Schuld am »Personalmangel«, und wie immer, wenn es in den Gesprächen der Erwachsenen um die Wende ging, verstand ich kein Wort. Ich wusste, sie hatte etwas mit Deutschland zu tun und dass man jetzt nicht mehr geteilt war, doch ich konnte nie abstellen, bei dem Wort an Wände zu denken. Ich konnte mir den Teil des Landes nicht vorstellen, der vorher nicht da gewesen sein sollte, und schon gar nicht meine Mutter, die angeblich darin lebte.
Eine Schwester betrat mit verschränkten Händen das Krankenzimmer und flüsterte: »Die Besuchszeit ist vorbei.«
Sie sah abgeschriebener aus als Frau Klinge, die meinem Vater Geld für die Zugfahrt in die Hand drückte und mir den Laubenschlüssel. Das Metall fühlte sich warm an.
»Pilly, die Blümchen brauchen dich noch nicht. Morgen regnet es noch mal kräftig.«
Am Bahnhofsvorplatz gab mir mein Vater einen Kuss auf die Stirn und bog auf die Hauptstraße in Richtung Bandauer ein. Ich beobachtete, wie er sich an den Schranken vorbeischlängelte und schwerfällig über das Gleis hüpfte, wie es die dicken Kröten im Frühling taten, wenn sie den gefährlichen Asphalt der Landstraße überquerten, um in einem der Tümpel im Auenwald zu laichen. Meine Beine fühlten sich auf dem Rückweg zu den Kasernen schwer an. An der Kanalbrücke am Ende der Elbpromenade kletterte ich die Schräge hoch und ließ mich neben die Bahnstrecke fallen. Lief man von hier nach rechts, erreichte man nach ein paar Schritten die sicheren Schienen der ehemaligen Werksbahn und nach fünf Minuten die Kasernen und die Gartenkolonie. Bog man nach links und überquerte den Kanal zur Fabrik, nahm das Verteilernetz die Durchfahrtszüge nach einigen Metern in der Mitte der Brücke auf. Genau an dieser Weiche erfasste es die meisten Tiere. Nicht einmal die mutigsten Kinder betraten freiwillig diesen Schienenabschnitt. Nur Vito und seine Jungs wagten es, sich so weit von unserer Uferseite zu entfernen und die Sicherheitsmünzen auszulegen.
Nach der Schule hatte Bine einmal behauptet, ich würde mich nicht trauen, den Schienenweg zu den Kasernen zu nehmen, und dass sie und Katja ständig diese Abkürzung benutzten. Wenn ein Zug angerast kam, musste man sich mit dem Rücken flach gegen die Planke drücken und durfte auf keinen Fall den Ranzen aufhaben oder den Arm ausstrecken. Sie erzählte von den freiliegenden Stromkabeln und dass sich einer von Vitos Bande beim Verteilen der Münzen an ihnen verbrannt hätte. Sein Puls sei wochenlang gestolpert, und wegen der ekeligen Narbe auf seiner Wade würde er auch im Hochsommer nur lange Hosen tragen.
»Wenn ich es mache, dann schuldet ihr mir was«, überraschte ich mich selbst. Ich versuchte mich an den Anfang des Gewitterspruchs meiner Großmutter zu erinnern, der bestimmt auch bei Stromleitungen funktionierte, aber mir fiel nicht ein, ob er mit Eichen oder Buchen anfing.
»Dann musst du eine Woche lang nicht mehr der Hund sein«, bot Bine an.
»Nein. Ich will Katjas Hemd.«
»Du meinst mein durchlöchertes Batik-Shirt?« Katja blickte an sich herab und grinste. »Abgemacht!«
Ich warf meinen Ranzen über die Planken und kletterte. Katja tuschelte unten an der Schräge mit Bine, und genau in dem Moment, als meine Füße den Gleisschotter berührten, preschte der Zug so dicht an mir vorbei, dass mich die Stoßwelle gegen den Plankenholm drückte. Mein Herz raste, und ich konnte nicht sagen, ob mir die Tränen vor Schreck oder wegen des Luftzugs kamen. Buchen suchen. Ich stand auf und lief nach rechts, hinter meinem Rücken kreischten noch immer die Räder des Zugs, und ich hielt bei jedem Schritt nach den Kabeln Ausschau. Eichen weichen. Die letzten Meter nahm ich im Sprint und wurde erst langsamer, als die Kasernen in Sichtweite kamen. Die anderen warteten schon zwischen den Mirabellensträuchern, die den Hof vom Gleis trennten. Bine biss von einer unreifen Frucht ab, Katja sah blass aus. Eiben und Weiden meiden.
»Scheiße, der Zug war vier Minuten zu früh!«, rief Katja, zog sich ihr Hemd über den Kopf und legte es über meine Schulter.
»Glück gehabt.« Bine kaute und lief voraus zur Röhre.
»Mann, das war echt gefährlich! Fühl mal mein Herz.« Katja nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust.
Noch am Abend im Bett schüttelte es mich, als ich an den Zug und das Klopfen unter Katjas Trägerhemd dachte. Ich zog das Hemd über mein Kissen und vergrub mein Gesicht beim Einschlafen darin wie in die Blusen meiner Mutter.
Die Schottersteine zwischen den Bahnschwellen warfen die Augusthitze zurück und funkelten im Nachmittagslicht. Ich schlenderte so langsam wie möglich zu den Kasernen und achtete nicht auf die Kabel. Hinter dem Fußballplatz lag Marcik auf dem Busdach in der Sonne, und obwohl Katja nirgendwo zu sehen war, fühlte ich mich erleichtert, dass sich die Mirabellensträucher mit jedem Schritt mehr vor seinen Wagen schoben.