Am nächsten Tag regnete es, wie Frau Klinge vorausgesagt hatte, aber statt der Blumen brauchten mich die Hühner, die mir gackernd an der Eingangspforte entgegenstaksten. Von zwei Hennen fehlte jede Spur, und als mir Kater Drosselbart hungrig um die Beine strich, befürchtete ich, irgendwo auf der Wiese auf ihre Überreste zu stoßen. Über der Gartenkolonie lag seit dem Brand eine unheimliche Stille, und die Windböen verbreiteten mit jedem Stoß den Geruch von Kompostrotte, verkohltem Sperrholz und geschmolzenem Plastik. Die Hügellage hatte verhindert, dass sich das Feuer bis zur Laube ausbreiten konnte, doch die Asche überzog selbst hier die höchsten Äste der Obstbäume mit einem grauen Film. Ich stand vor dem Pflaumenbaum, den die Elstern bewohnten, und beobachtete, wie der Regen die Krone sauber wusch. Auf den Blättern perlte der Schmutz und tropfte gleichmäßig auf die Mooskissen vor dem Stamm. Die Mehlschwalben lugten im Schutz des Vordachs aus ihren Nestern und legten ihre Köpfe schief, als ich vor der Laube nach dem Futtermais suchte. Wenn ich zu Besuch war, hatte mir Frau Klinge immer zwei Handvoll Körner aus ihrer Trageschürze gegeben und mich damit zum Verschlag geschickt. Mein Verdacht fiel auf den Jutesack neben der Eingangstür, in dem Katja das alte Geflügel vermutete, und ich hoffte, die zwei fehlenden Hennen nicht darin vorzufinden. Als ich auf eine der losen Bohlen trat, kippte der Sack vornüber. Nichts flatterte, nur der Mais rieselte aus einem Riss im Stoff wie gelbe Milchzähne. Die Hühner kreischten auf, stürmten mit wehenden Federn an mir vorbei und stürzten sich auf die Körner wie die Erpel zur Balz auf die Enten in der Bucht des Hexengartens. Einer jagte dem Weibchen im Flug nach, bis es vor Angst schrie und sich in der Luft ganz lang machte. Immer aber gab es einen zweiten, der mit etwas Abstand hinterherflog. Diese Nachhut schien die Ente beschützen zu wollen, aber das gelang nicht immer. Im ersten Vorfrühling ohne meine Mutter hatte ich bei meinen Tanten frierend am Ufer gesessen und eine Gruppe Erpel beobachtet, die sich auf ein Weibchen stürzte, das von der Mitte des Kanals angeschwommen kam. Sie kreisten die Ente ein und bestiegen sie so heftig, dass man nur noch einen Haufen grüner Köpfe erkennen konnte, die ihren Körper unter Wasser drückten. Am nächsten Tag hatte die Elbe das tote Tier unter den Steg gespült, und ich versuchte es zwischen den Bohlen mit Stöcken Richtung Badewiese zu treiben. Dort grub ich, so tief ich konnte, und legte die Ente neben die getrockneten Dolden der Stauden, die Tante Fuchs über den Winter stehengelassen hatte. Doch sobald es statt Schnee Regen gab, spuckte der Boden den Körper wieder aus, und ich musste von vorne anfangen. Meine Mutter hatte immer gesagt, dass sich die Toten im Sarg umdrehen, wählte man auf ihrer Beerdigung die falschen Blumen, weshalb ich beim ersten und zweiten Auftauchen der Ente die Blüten sorgfältiger aussuchte. Die Ente drehte sich trotzdem um, und mit dem nächsten Schneeregen kam mir eine ausgemergelte Fähe zuvor und trabte mit gefiederter Schnauze an mir vorbei, bevor ich meine Hände ein viertes Mal im Modder versenken konnte.
»Die Schwachen holt sich Meister Reinecke«, flüsterte Frau Klinge immer, wenn wir vor dem Hühnerhaus Rillen entdeckten, die die Krallen eines Fuchses hinterlassen hatten, und ich war mir sicher, dass die Überreste der fehlenden Hennen irgendwo im Dickicht des Auenwalds zu finden waren. Ich versuchte dem Hacken der Hühner im Mais zu lauschen, deren Schnäbel gegen die Bodenlatten schlugen wie der Regen auf die Wellplatten des Vordachs. Mir war nicht danach, an die verschwundenen Hühner zu denken und auch nicht an die ertränkte Ente. Ich wollte mich nicht an die schmutzigen Halbmonde erinnern, die das Graben unter meinen Fingernägeln hinterließ, an das Blumenwissen meiner Mutter oder die Schatten in Frau Klinges Sommerkopf. Schon gar nicht an Katja in der Zange von Marciks Oberarmen. Das letzte Mal hatte sie unter ihm begraben auf dem Busdach gelegen und so laut geschnattert, dass die Kasernen ihre Stimme zurückwarfen. Ich hatte mich zwischen dem Stamm einer Linde und dem Wagen von Schrauben-Hiller versteckt und zugesehen, wie Marciks Kopf immer wieder über den Dachträgern auftauchte. Sein Gewicht hielt Katja flach gegen das Blech gedrückt und die Gänseblümchen auf den Vorhängen zitterten, als würden Sturmböen durch sie hindurchwehen. Ich wusste nicht, worauf ich wartete, aber ich schlich erst rückwärts zum Spielplatz, als es auf dem Busdach still wurde.
»Hier bist du!«
Ich zuckte zusammen. Bine stand völlig durchnässt am Gartenzaun und winkte mir mit einer aufgeweichten Zigarettenschachtel in der Hand zu. Sie schlenderte in meine Richtung, und ohne Katja fürchtete ich mich mehr als sonst vor ihr.
»Kann man hier irgendwo sitzen?«
Ich schloss die Tür zur Laube auf und blieb auf der Schwelle stehen, während Bine sich im Inneren umsah.
»Na, die hat es ja toll hier«, sagte sie und griff nach einer Flasche mit braunem Likör, der neben gelben und durchsichtigen Schnäpsen im Wandregal stand und in dem die grünen Scheiben unreifer Walnüsse schwammen. Sie nahm zwei Schlucke auf einmal und schüttelte sich. Eine der Hennen rannte in die Stube, und ich ärgerte mich über die matschigen Fußspuren, die ich beim Versuch, sie nach draußen zu jagen, auf dem Teppich hinterließ. Bine breitete sich auf dem Sofa aus und steckte sich eine Zigarette nach der anderen zwischen die Lippen. Die erste bog sich nach unten und zerbrach, die zweite hatte einen Riss wie der Jutesack auf der Veranda. Der Tabak bröselte auf ihren Schoß und hinterließ Flecken auf dem durchnässten Stoff des Blusenkleids, das sie sich in Berlin gekauft haben musste. Es sah schöner aus als die Kleider aus dem neuen Modegeschäft gegenüber vom Klatschcafé Riesel und viel moderner als die Anziehsachen aus dem JuMo-Abverkauf, in den mein Vater ging, wenn ich aus einer Hose herausgewachsen war. Das Kleid war fast durchsichtig, und als ich mich gegenüber von Bine auf Frau Klinges Lesesessel setzte, blieb mein Blick an ihrem BH hängen, der sich darunter abzeichnete. Die Körbchen waren nicht aus Baumwolle mit Streifen oder Punkten wie die von Katja, sondern vollständig aus Spitze und verbargen ihre Brüste unter harten Schalen. Bines waren kleiner und fester als Katjas, aber größer als meine. Sogar in der winzigsten Größe konnte man bei mir die Körbchen noch eindrücken, weshalb ich unter meinen Nickis nur Tops trug, die als Vorstufe des Büstenhalters galten. Man war automatisch wichtiger als die Klassenkameradinnen, die von ihren Müttern noch Unterhemden angezogen bekamen, ordnete sich aber den BH-tragenden Mädchen unter. Bines Daumen drehte am Rädchen eines Feuerzeugs, und erst jetzt fiel mir der schwarze Nagellack auf, in dem sich die Glühbirne spiegelte.
»Hab gehört, die alte Stasi liegt in Magdeburg?«
»Sie hat einen Tumor. Im Kopf. Und irgendwo am Rücken.«
Bine machte ein angewidertes Gesicht und blies den Qualm der einzig trocken gebliebenen Zigarette Richtung Decke.
»Dann kommt sie sowieso nicht wieder. Bei meiner Oma wucherte erst was in der Lunge und dann bis ins Becken. Ging total schnell.«
»Meinst du, jeder kriegt Krebs?«, fragte ich und riss die Fenster auf. Der Zigarettenrauch waberte in dichten Schwaden an mir vorbei.
Bine hustete und zuckte mit den Schultern. »Am besten, man stirbt unerwartet. Dann sind die Leute wenigstens wirklich traurig über einen. Einer der Fidschis liegt auf der Intensivstation, und jetzt kriegt sich die Familie von dem überhaupt nicht mehr ein. Den ganzen Tag sitzen irgendwelche Frauen auf dem Fußballplatz und heulen.«
Bine erzählte, der Brand sei in einem Garten in der Mitte der Kolonie ausgebrochen und hätte sich wegen der wochenlangen Hitze in Sekunden von dort in die Nachbarparzellen ausgebreitet. Das Feuer sei dann auf einen Schuppen übergegangen, in dem Propangasflaschen lagerten, und ihre Mutter habe den Knall noch bis in die Küche gehört. Der verunglückte Mann hatte im Schuppen gestanden, als ihm die Explosion die Hand abriss. Bine zog in weitem Bogen die Flugbahn der Hand nach.
»Frau Karauschek hat meiner Mutter erzählt, dass der Fidschi wie eine vergessene Bratwurst aussah, als man ihn in den Krankenwagen trug.«
Ich nahm einen Schluck vom Likör. Der Alkohol hinterließ ein Brennen in meiner Speiseröhre und schmeckte nach vergorenen Nüssen und Gartenkräutern wie umgekippter Hustensaft. Frau Klinge setzte ihre Schnäpse jedes Jahr am Johannistag an, um die Zeit, wenn der Rhabarber giftig wird. Wir wanderten mit Scheren die Beete oder den Auenwald ab, und sie erklärte mir, welche Kräuter hineingehörten und welche Wirkung sie hatten. Liebstöckel roch nach der Wurzelsuppe aus den Rezeptbüchern meiner Gewitter-Oma und spülte den Körper durch, Salbei half gegen Entzündungen, Nessel war für die Niere und junger Löwenzahn für die Gallenblase. In der Nähe des Tümpels wuchs Sauerampfer, der in bestimmter Dosierung Müdigkeit vertrieb, aber auf keinen Fall nach nassem Hund riechen durfte. Frau Klinge ließ mich an jedem einzelnen Blatt riechen, um auszuschließen, dass ein Fuchs sein Geschäft darauf verrichtet hatte. Sie erzählte mir von ihrem Großonkel, der aus dem Krieg mit einem Bandwurm im Bauch zurückgekommen war, weil er sich an der Ostfront von besudelten Blaubeeren ernähren musste. Das Bild eines einbeinigen Soldaten, der auf einem Wannenrand hockte und unter Krämpfen einen meterlangen Wurm aus sich herauspresste, ließ mich den Ampfer so sorgfältig wie möglich auslesen, und ich hoffte, dass die Eier der Parasiten nicht durch die Nase in meine Lunge wandern würden. Unbedenklicher war die Schafgarbe aus den Lochsteinen. Außer den Hund von Frau Karauschek hatte ich noch nie ein vierbeiniges Tier zwischen den Brachen gesehen. Die Schafgarbe sei besonders gut für die Männer am Stammtisch, weil sie die Leber reinige, sagte Frau Klinge und gab meinem Vater häufiger eine der Bügelflaschen mit, in die die weißen Blüten gewandert waren. Es gab keine zwecklosen Pflanzen im Garten. Manche Flaschen halfen bei Grippe, andere wurden geöffnet, um den Magen aufzuräumen oder Appetit anzuregen. Ein Schnaps enthielt angetrockneten Waldmeister und war ihrem Sommerkopf vorbehalten. Früher sei er verboten gewesen und in zu hohen Dosen sogar giftig, aber er sei genau das Richtige bei zu dickem Blut.
Bine redete noch immer von dem Feuer. Die vietnamesischen Familien würden sich jetzt auf dem Kasernenhof ausbreiten wie Unkraut, und Katja hatte nichts dazu zu sagen. Das ließ mich nicht an die Röhre denken, sondern an den Giersch, der überall mit seinen langen Wurzeln wucherte und selbst die Schlammgrube der Mehlschwalben einnahm, wenn man zu nachlässig war. Er durchzog die Erdschichten wie ein unterirdisches Netz, und sobald man einen der Hauptknoten zu packen bekam, ließ sich das Kraut in endlosen Strippen aus dem Boden ziehen. Manchmal knipste sich Frau Klinge beim Jäten die jüngsten Austriebe ab und streute sie über den Salat, war aber ansonsten der Meinung, dass Giersch der Krebs des Gartens sei. Man müsse ihn schnell entfernen, weil das Wuchern sonst überhandnehme und den Pflanzen die Nährstoffe entzog, bis sie letztendlich verkümmerten.
Als der Regen nachließ, schwärmten die Mücken aus und Bine war betrunken. Wir stolperten über die rutschigen Bahnschwellen und halfen einander, die Insekten an den Waden totzuklatschen und dabei nicht umzuknicken. Bine roch nicht nach Nadelwald wie Katja. Auf ihrer Haut haftete der Duft dieses Blumendeos, mit dem sich die Mädchen der Klassen über uns einsprühten. Auf der Metalldose flogen violette Schmetterlinge mit langen Saugrüsseln zwischen tropischen Blüten. Seit Berlin trug sie ihre blonden Haare zu einem losen Knoten im Nacken geschlungen und war eigentlich viel hübscher als Katja mit ihrem Filz. Die vorderen Strähnen waren in die hinteren eingeflochten, sodass sie ihr Gesicht wie bei den Frauen auf Kirchenbildern einrahmten. Ihre schwarzen Nägel krallten sich in meine Schulter, und sie erzählte mir von der Dachgeschosswohnung ihres Vaters, die keine Wohnungstür besaß, weil man mit einem Fahrstuhl direkt hineinfahren konnte. Es gab einen Nintendo, zwei Hantelbänke, ein Solarium und eine Dusche mit Seitenstrahlern, aber kein Zimmer für sie. Sie musste sich das Sofa mit dem Malteser der neuen Freundin ihres Vaters teilen und tagsüber ständig mit ihm Gassi gehen, wenn beide auf Arbeit waren. Zur Belohnung durfte sie sich in einem riesigen Einkaufszentrum aussuchen, was sie wollte, aber ihre Mutter hatte die meisten der in ihren Augen viel zu teuren Klamotten sofort in den Keller geräumt.
»Im Badezimmer sind die Wasserhähne nicht rund, sondern eckig! Der Strahl kommt breit aus dem Hahn, wie bei einem Wasserfall. Und alle Lichtschalter sind flach. Man muss seine Handfläche dagegenhalten und dann geht das Licht in Zeitlupe an. Wie bei einem Sonnenaufgang.«
Bine legte beim Gehen ihren Kopf auf meine Schulter, und mich überraschte, dass sich ihre Nähe nicht bedrohlich anfühlte. Ich hatte sie noch nie so bedrückt erlebt und fragte mich, ob es an ihrem Vater lag, der in Berlin mehr Zeit mit der neuen Freundin als mit ihr verbracht hatte, oder ob sie eigentlich wegen Katja traurig war. An den Mirabellen zog Bine mich vom Gleis und torkelte an die Stelle, von der aus man genau auf den Parkplatz blicken konnte. Wir setzten uns zwischen die Äste und beobachteten den Bus, vor dem Katja mit Marcik und seinen Freunden im Kreis stand. Sie erzählte etwas, über das die Jungs laut lachen mussten, und Marcik gab ihr einen Kuss. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder etwas ausgedacht. Irgendeine Geschichte, die sie gut dastehen ließ, und ich spürte, wie sich trotzdem das flaue Gefühl in mir ausbreitete, das mich am Teich ganz steif hatte werden lassen.
»Diese verdammte Kuh«, lallte Bine. »Weißt du eigentlich, wie falsch unsere liebe Katja ist?«
Ich nickte, versuchte aber gleichzeitig ein Gegenargument zu finden.
»Die Polizei sucht hier alles nach dem Brandstifter ab, dabei müssten sie nur mal die Richtige fragen«, sagte Bine.
Als sie mit dem Zug aus Berlin zurückkam, hatte Katja am Bahnhof schon auf sie gewartet und ihr auf dem Weg nach Hause alles erzählt. Sie habe sich an dem Tag mit Marcik in der leerstehenden Parzelle getroffen, die die Vietnamesen als Müllkippe benutzten und in der überall Autoteile herumlagen. Eigentlich hätten sie nur nachsehen wollen, ob Brauchbares für den Bus dabei war, und als sie nicht fündig geworden seien, hätten sie auf einem Baumstamm geraucht und die Stummel auf den Schrotthaufen geschnipst.
»Sie weiß nicht, ob es Marciks oder ihre Kippe war. Aber die Bullen sind immer wieder in der Parzelle herumgeschlichen und haben dort nach dem Brandstifter gesucht.«
Ich wollte mir nicht vorstellen, wie Katja und Marcik in der Müllparzelle rummachten. Wie die weggeschnipsten Zigaretten hinter ihren Rücken den Schrotthaufen in Brand steckten und dass die Vietnamesen deshalb auf der Wiese vor dem Festzelt der Freiwilligen Feuerwehr wie Legehennen nebeneinanderhockten.
»Mein Vater hat gesagt, das waren Nazis.«
»Hier gibt es doch keine Nazis!«
»Außerdem war Katja mit mir zusammen in der Röhre, als das Feuer ausgebrochen ist!«
Katja klemmte in Marciks Achselhöhle, und ich bildete mir ein, dass sie in unsere Richtung sah.
»Du musst sie nicht beschützen«, zischte Bine. »Sie beschützt dich auch nicht.«
»Doch! Sie will, dass ich nicht mehr euer Hund bin.«
»Sie will dich einfach loswerden! Du bist ihr zu anstrengend.« Bine ließ sich nach hinten fallen und blieb flach auf dem Rücken liegen. Ich musste daran denken, was Katja mir auf dem Busdach anvertraut hatte, dass Bine ihr zu eifersüchtig war und sie nicht mich, sondern eigentlich sie loswerden wollte.
Ich spürte, wie sich ein Gefühl über meinem Kehlkopf ausbreitete, das ich von früher kannte. Damals hatte mich mein Vater manchmal ans Telefon geholt, wenn meine Mutter ein paar Tage weggeblieben war, und am anderen Ende hatte die Stimme meiner Mutter gerauscht. Sie klang fremd und verzerrt, nicht wie die Mutter, auf die ich tagelang gewartet hatte. Große Mädchen brauchen nicht zu weinen, sagte mein Vater dann immer, und sobald alles vor mir verschwamm, beförderte ich das Gefühl dorthin zurück, wo es hergekommen war. Das gelang durch Schlucken oder Husten, auf keinen Fall durfte ich sprechen. Wenn meine Mutter wie immer sagte, dass ich noch zweimal schlafen müsse, bis die Tränen getrocknet seien, und zwei Nächte mehr, bis sie wieder ganz da wäre, blieb ich still und schluckte. Sobald sie aufgelegt hatte, rannte ich ins Schlafzimmer vor den Spiegelschrank. Ich tastete meinen Hals ab und überprüfte, ob sich an der Größe meines Kehlkopfes etwas verändert hatte. Manchmal dachte ich an Kessel-Klaras Kugel und fragte mich, wie häufig sie ihre Gefühle heruntergeschluckt haben musste.
»Sie hat dich eine Klette genannt. Und verklemmt.«
»Ich bin nicht verklemmt!« Hustend zog ich Katjas Hemd hoch. Es legte sich über mein Gesicht und roch noch immer nach ihrem Öl. Ich atmete tief ein und spürte Bines Blick auf meinem Top. Die Blätter der Mirabellen tanzten im Gegenlicht als schwarze Punkte hinter dem Stoff, und Bines Handflächen über meinen Fäusten waren klamm, als sie das Hemd wieder hinunterzog.
»Nicht«, flüsterte sie, und ihr Atem roch wie der meines Vaters, wenn er vom Bandauer kam. Ich schluckte gegen das Gefühl in meinem Hals an. Mein Kehlkopf brannte vom Schnaps.
Katja suchte aus der Ferne noch immer die Büsche ab und scharrte mit dem Fuß im Sand. Frau Klinge hatte mal gesagt, dass im Sommer sogar die Vögel nachlassen. Wenn sie nach der Brutzeit ihre Federn verlieren, wird es still.
Bine bestand darauf, mich nach Hause zu bringen. Vor meiner Haustür stellte sie sich ausgerechnet auf die schrägen Wurzeln der Platane, an die ich an unserem ersten Spieltag mein Geschäft verrichten musste, und überragte mich um einen Kopf. Sie beugte sich zu mir und küsste mich ganz langsam, dann energisch, es fühlte sich an wie ein zahnloses Beißen. Es hatte nichts von der Brandung eines Meers, die sich ans Ufer herantastete und wieder zurückzog. Ich hielt mein Gesicht in dem Winkel, den ich im Fernsehen bei den Schauspielern gesehen hatte, und kniff die Augen zu. Mein Haar war feucht von den Tropfen, die aus dem Blätterdach auf meine Kopfhaut trafen, sie liefen über meine Stirn zwischen unseren Kuss. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die klebrigen Lippen und taumelte nach einer Schrecksekunde mit Bines Grinsen im Rücken in den Hausflur.