»Halt dich fest!«, sagte Katharina am Telefon, und Martin musste erst mal stillstehen. So ging es jedem, wenn die Zeit die Schockstarre endgültig löste, in der man sich seit zweieinhalb Jahren befand. Für einen von Martins Brigade war es schon kurz nach der Wende so weit gewesen. Ein Freund, der wegen diesem Brigadegenossen in Neustadt hatte einsitzen müssen, hatte plötzlich betrunken vor dessen Wohnung gestanden und ihm den Wagen demoliert. Totalschaden. Doch anstatt sich auszusprechen, habe der Genosse nur bewegungslos hinter der Gardine gestanden, bis der Freund irgendwann abzog und dabei die Straße zusammenbrüllte. Der Frau von Schuster Küstrin ging es mit ihrer Tochter genauso. Die hatte sich über die Tschechoslowakei verabschiedet und nichts von sich hören lassen. Häufig schlich die Küstrin zum Nachbarn vor den Fernseher und regte sich über die Leute auf, die selbstzufrieden vor der deutschen Botschaft in Prag saßen und so taten, als würde man sie wie Hunde behandeln. Doch insgeheim hoffte sie, ihr verlorenes Mädchen in einer der Bildschirmecken auszumachen. Als die Tochter dann im letzten Jahr kurz vor Silvester mit zwei Kindern an der Tür klingelte, schloss die Küstrin sich in der Stiefelkammer ein, in der neben Knoblauch- und Zwiebelzöpfen die ausrangierten Zangen, Ahlen und Kneipmesser hingen, von denen sich ihr Mann nicht trennen konnte. Sie blieb still in der Dunkelheit stehen und trat erst heraus, als im Esszimmer der Klump auf den Tellern kalt und das harte Werkzeug im Nacken nicht mehr auszuhalten war. Martin erinnerte sich, wie Schuster Küstrin am Stammtisch noch Tage später blass ausgesehen und immer wieder betont hatte, dass er Genschers Balkonrede damals ein Unding fand und wirklich nur wegen der Enkel aufgemacht hätte. Die Zeit zwang das Ehepaar, in der Gegenwart stehenzubleiben und sich zu akklimatisieren. Küstrin verwendete das Wort Akklimatisieren gerne, um das Gefühl sich lösender Starren zu beschreiben. Schon als die Schuhe von drüben mit ihren Gummi- und Plastiksohlen die Tachsheber und Spitzknochen überflüssig werden ließen, stand er in seiner Werkstatt vor dem Schuheisen und akklimatisierte sich. Zum Glück dauerte es nie lange, bis sich die innere Temperatur der äußeren anpasste, und das Verhältnis zur Tochter besserte sich schnell, weil man sich entschied, nicht mehr von früher zu sprechen.
Martin hielt der Stillstand bis zu dem Moment fest, als das Telefon klingelte und die Stimme seiner Schwägerin am anderen Ende hysterisch klang.
»Halt dich fest! Oder setz dich besser hin!«
Waltraut. Gestern angekommen. Im Taxi. Blond. Katharinas Worte zerrten an Martins Müdigkeit, die die neue Zeit in ihm ausgelöst hatte. Der düstere Novembertag, der damals den halben Ort aus dem Schlaf gerissen hatte, zwang ihn die Augen vor dem zu verschließen, was sich drüben in Bewegung gesetzt hatte und eines Tages auch die Kasernen erreichen musste. Martin hielt den Telefonhörer in den Händen und dachte an den alten Kläffer des Nachbargrundstücks, den er als Junge ständig zum Spaß mit Eicheln beschossen hatte. Die Wut ließ das Tier immer höher springen, bis sich seine Pfoten in den Maschen des Drahtzauns verkeilten. Der gesamte Liguster war vom schaumigen Speichel des Hundes bedeckt, weil er sich in Rage in den Heckenkanten verbiss. An einem Wintertag nach der Schule hatte die Einfahrt jedoch offen gestanden, und der Kläffer hätte nur drei Sprünge gebraucht, um Martin an die Kehle zu gehen. Er konnte hören, wie sich das Tier an seinem Zorn fast verschluckte, als Martin mit Herzrasen zur Haustür schlitterte. Seit diesem Tag gab er sich jedes Mal die Schuld, wenn draußen die Töle wegen irgendetwas anschlug und dann vom Nachbarn eins übergezogen bekam. Auch als sie ein paar Monate später leblos im Garten lag, wurde er das Gefühl nicht los, dass zwischen den Eicheln und ihrem Tod ein Zusammenhang bestand.
Während Katharina auf ihren Schwager einredete, man müsse jetzt gemeinsam »dem Löwen ins Auge sehen« und »kameradschaftlich in den sauren Apfel« beißen, stand Martin vor seinem inneren Gartentor und hätte gerne aufgelegt. Aber er konnte sich nicht dazu bringen, den Hörer aus der Hand zu legen, und ließ den Redeschwall über sich ergehen. Auf dem Weg zum Schnapsschrank umklammerte er das Plastik, als könnte er das in Bewegung Geratene kurzfristig aufhalten und verschont werden, wie vor Jahrzehnten der Hund des Nachbarn ihn verschont hatte.
Durch das Küchenfenster fiel der Tag wolkenlos auf die Tischplatte und wollte nicht zum Anruf seiner Schwägerin passen, schließlich war Waltraut eine Schlechtwetterfrau. Da war sich Martins Mutter von Anfang an sicher gewesen, und er hatte nicht viel dagegenzuhalten. Schon das Fest der Freiwilligen Feuerwehr damals hatte mit einem Sommergewitter geendet. Der Regen war von Westen in einer pechschwarzen Wolkenwalze angerollt gekommen und hatte Waltrauts Blumengestecke von den Klapptischen gespült. Martin war zum Feuerwehrwagen gehastet, hatte sich eine Löschdecke geschnappt und sie über Waltraut gehalten. Er lotste sie zum Schlauchturm und musste sich mehrmals räuspern, weil nicht nur seinem Vater die Schönheit einer Frau auf die Stimmbänder schlug, sondern auch ihm. Die Tropfen hämmerten nur so auf die Dachpappe. Der Sturm zerrte so heftig an den Balken, dass die zum Trocknen aufgehängten Schläuche hin- und herschwangen und ihm auf die Schulter tippten. Waltraut flüsterte ihm ins Ohr, wie unerwartet das Unwetter gewesen sei.
Als sich der Regen legte, sammelten sie gemeinsam die Gestecke auf und fuhren sie auf den Friedhof. Es dauerte zwei Stunden und brauchte drei Schubkarren, bis die verbliebenen Margeriten-Kerbel-Gestecke ihren Platz auf den Gräbern gefunden hatten. Waltraut ließ alle Toten aus, die es vor 1939 unter die Erde geschafft hatten. Diese Leute bräuchten keinen Trost, schließlich hätten sie sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Martin wählte die Gräber von Eheleuten, bei denen man vom Sterbedatum ableiten konnte, dass einer von beiden viel zu früh gegangen war.
Das schlechte Wetter zog sich durch alle wichtigen Stationen ihrer Beziehung. Nach dem Feuerwehrfest kam Waltraut zweimal im Monat ins Werk, um auf der Wandzeitung neben der Kantine über Konzerte und Veranstaltungen der St.-Nikolaus-Kirche zu informieren. Egal wie häufig sich Martin vornahm, sie abzupassen und zu einem Spaziergang an der Elbe zu überreden, seine Pläne lösten sich immer in Regen, Graupel oder handfeste Stürme auf. Zu ihrer ersten richtigen Verabredung schenkte sie ihm sechs zu einem Strauß gebundene Amaryllen, weil sie für Durchhaltevermögen standen. Eine Blume für jede Woche, die er auf das Treffen gewartet hatte, und er kaufte ihr einen besonders modischen Regenschirm von Juwel. Dass auch der erste gemeinsam verbrachte Winter einer der denkwürdigsten des Jahrhunderts war, machte Waltraut ohne jeden Zweifel zu einer Schlechtwetterfrau. Sogar am Tag von Pillys Geburt zog ein Tiefdruckgebiet über den Kasernen seine Kreise.
Natürlich ging es seiner Mutter nicht um meteorologische Ereignisse. Selbst wenn am Tag der Trauung die Sonne geschienen hätte, wäre Waltraut ihren Ruf als Schlechtwetterfrau nicht losgeworden. Seine Mutter war davon überzeugt, dass diese Frau ihrem Sohn das Leben unnötig verhageln würde, und als die Fichte an ihrem Grab im ersten Frühling nach Waltrauts Verschwinden aus unerfindlichen Gründen von roten Blüten übersät war, konnte Martin ihre Stimme hören: »Wie ich gesagt, so ist’s gekommen.« Und er erwiderte leise: »Wo ich versagte, ist’s geblieben«, und dann noch leiser: »Fichten richten.«
Waltraut war also gestern einfach so im Taxi angefahren gekommen und wollte das Kind zu sich holen. Seine Schwägerin fand das nicht fürsorglich, sondern frech, und erst als die Schnapsflasche halbleer war, sah Martin die Dinge wieder klarer. Er knallte den Hörer auf den Apparat und warf Katharina mitten im Satz aus der Leitung. Niemand konnte sich einfach so in ein Taxi setzen und ein Kind zurückfordern, das man jemandem zurückgelassen hatte. Nicht einmal Waltraut. Er konnte sie sich nicht blond vorstellen und wusste auch nicht, wie die Kronprinzessin aus England aussah, von der seine Schwägerin geredet hatte. Martin überlegte, was Küstrin tat, wenn es notwendig war, sich zu akklimatisieren. Der sortierte Werkzeug nach Art und Größe und schaffte vorübergehend Ordnung. Martin fiel bloß ein, auf wie viele verschiedene Arten Waltraut ihre Sachen gepackt hatte und wie schnell er gelernt hatte, daran die Länge ihrer Abwesenheit abzulesen. Manchmal konnte sie es kaum erwarten, hinter sich die Haustür zuzuschlagen. Sie riss die Kleidung aus den Schrankfächern, und er konnte von der Küche aus hören, wie sie in der Reisetasche landete. An anderen Tagen verließ sie ihn sanft und die Tür hauchte sich ins Schloss. Zumindest klang es für Martin wie ein Hauchen. Sie packte die Tasche so unauffällig wie möglich und lief auf Zehenspitzen durch den Flur. Er lauschte in diese Stille, in der man nur hin und wieder das Knacken ihrer Fußgelenke hörte, die über den Boden schwebenden Sohlen ihrer Hausschuhe und die sich überstreckenden Scharniere des Schranks, was auch wie ein Hauchen klang, nur angestrengter. Nach lauten Abschieden dauerte es nie länger als ein paar Tage, bis Waltraut wiederkam. Dann stand sie mit einer vollen Einkaufstüte auf dem Fußabtreter, als wäre sie nur kurz im Konsum gewesen, und kochte etwas Aufwendiges, damit sie nicht reden musste. Sie spielten alle zusammen Karten, und Martin holte erst die Reisetasche aus dem Auto, wenn Waltraut Pilly ins Bett gebracht hatte. Die lauten Abschiede waren die einfacheren, denn nach den stillen blieb Waltraut für gewöhnlich länger als eine Woche weg. Je heimlicher sie packte, desto ungewisser war der Zeitpunkt ihrer Rückkehr, und er erinnerte sich, dass die letzten Abschiede besonders leise gewesen waren. Er hatte sich ohne Bedenken auf die Schlechtwetterlagen eingelassen, auf die Tage, an denen ihr das Kind zu schwer war, und später auf die, an denen ihr das Lügen leichtfiel. Was er heute nicht mehr hätte hinnehmen können, war diese Erleichterung, die sich nur noch einstellen wollte, wenn er seine Wut auf sie loslassen konnte. Schrauben-Hiller rutschte in solchen Fällen öfters die Hand aus, Martin der Stift.
Er legte die Berichte über seine Frau nach Möglichkeit auf einen Samstag. Die Leute beerdigten ihre Angehörigen am liebsten an den Wochenenden, und die Gärtnerei war bis abends geöffnet. Vielen komme erst dann wieder in den Sinn, dass es jemanden in der Familie gebe, dem man statt Sonntagsbraten nur noch Blumen auftischen könne, hatte Waltraut immer gescherzt.
Martins anfängliche Befangenheit hatte der Genosse als »vorbildlichen Einsatz« und »außerordentliche Unauffälligkeit« gewertet. Martin gab sich Mühe, dass man die von ihm geforderte Sorgfalt bei der Herstellung klarer Verhältnisse zumindest einem vorbildlichen Schriftbild ansehen konnte. Jedem Buchstaben waren nichts als gerade Linien vorzuwerfen. Nichts verriet das Schwanken, das ihn ständig beim Anlegen der Berichte überkam. Die Seiten landeten abgeheftet im Aktenkoffer, kurz bevor sich der Schlüssel seiner Frau im Schloss der Wohnungstür verhakte. Nur einmal war der Koffer außerordentlich auffällig im Schrank gelandet, als Waltraut und Pilly ihn mit Broilern von einem Kirchenfest überraschten. Waltraut stand am Esstisch, zerlegte das Geflügel und stellte keine Fragen zu dem Koffer, weil er auch nie welche stellte. Wenn Waltraut so aussah, als hätte sie in ein überwältigendes Stück Kuchen gebissen, dann wusste Martin sofort, dass sie aus der Kirche kam. Dieser Kuchenblick machte ihre Lider schwer und strahlte bis in ihre Mundwinkel. Er verriet, dass es keinen Streit geben und die Blusen im Schrank bleiben würden. Nur Pilly gab nicht nach und versuchte noch Wochen später das Zahlenschloss des Aktenkoffers zu knacken. Zum Glück war Martin ein Meister, wenn es darum ging, Zusammenhänge herzustellen. Der Kuchenblick hing mit der Kirche zusammen wie der Aktenkoffer mit den parallel anspringenden Straßenlaternen vor dem Haus. Der Koffer mit den Berichten über Waltraut wurde zu einer staatsgeheimen Maschine, mit der Martin vor den Augen seiner Tochter die Glühbirnen anstellte, und irgendwann hörte Pilly auf, sich heimlich am Schloss zu versuchen. Sie war stolz auf ihren Vater, den Laternenanzünder, und wartete jeden Tag gespannt auf den Moment, in dem er die Lampen vom Sessel aus anknipsen würde. Als seine Frau nicht mehr zurückkam und ihr Verschwinden am Stammtisch für viel Redestoff sorgte, schloss Martin sich der Version der Männer an, in der Waltraut treulose Bürgerin und Mutter, rübergemacht hatte. Doch sobald es zu wenig Schnaps im Haus gab, befürchtete er, der Inhalt des Aktenkoffers sei die eigentliche Ursache gewesen, und er schämte sich immer so lange, bis die Tür vom Bandauer hinter ihm zuschlug.
Als sich die Schockstarre endgültig löste, ließ Martin den Schnapsvorrat ins Waschbecken plätschern und kippte den Inhalt eines Kasten Biers direkt hinterher. Er sortierte die Flaschen nach Art und Größe in Müllbeutel und griff anschließend im Badezimmer nach dem Rasierer. Der Gedanke, dass Waltraut im Fischerhaus nach Gründen suchte, warum es Pilly in ihrer Obhut besser ging als in seiner, machten nicht nur den geordneten, auf einen sortierten Mittwoch folgenden Donnerstag notwendig. Martin beschloss, sich ganz und gar aufzuräumen und nicht mehr an früher zu denken, so wie es Schuster Küstrin schon längst machte.