21

Zwei Wochen vor dem Ende der großen Ferien brach Marcik endlich mit dem Bus nach Portugal auf, und Bine wünschte sich, dass ihm auf einer der Bergstraßen alle vier Räder auf einmal abfallen würden. Katja stand auf dem Parkplatz und winkte ins Gegenlicht. An ihrem Ohrläppchen schaukelte ein Papagei aus buntem Glas, der sie wie eine Piratin aussehen ließ. Ihre Augen glühten, und ich steckte meine Hände so tief es ging in die Hosentaschen, damit ich sie nicht in den Arm nehmen konnte.

»Vorbei ist der Liebessommer«, stichelte Bine und Katja zuckte mit den Schultern.

»Du hast nichts verpasst.« Sie schlug vor, auf dem Fabrikgelände in den Schuttkippen nach Schätzen zu suchen. Marcik hatte ihr gezeigt, an welchen Plätzen man gute Sachen finden konnte. An der Stelle, wo der Flachbau gestanden hatte, fand man Steinquader und Lochsteine, manchmal sogar Schraubenzieher und anderes Werkzeug, das einem die Vietnamesen abkauften. Katja erzählte, dass sie sich aus ein paar Brettern und den Quadern ein Regal gebaut hätte, auf das Bine und ich neidisch wären. Ein anderer Haufen läge etwas abseits des Hofs. Er bestand aus Gebäudetrümmern, die neben die Gleise der stillgelegten Werksbahn geschüttet worden waren. Dort hatte sie alte Münzen, mehrere Porzellanteller und den Glasohrring im Dreck geborgen. Sie war sich sicher, dass sich unter den Mauerresten irgendwo die alten Keller befinden mussten, man müsse zwischen dem Geröll nur die Eingänge freilegen.

Auf dem Weg zu den Schienen kamen wir an der Röhre vorbei. Eins der Kuchenmädchen hielt einen versengten Kochlöffel in der Hand und schlug einem Jungen immer wieder auf den Kopf, weil er schon wieder den Teig versalzen hatte. Die anderen feuerten es an.

Alles fühlte sich an wie immer, nur dass ich vor dem Schlafengehen mehr an Bine als an Katja dachte. Ich wusste nicht, ob unser Kuss unter der Platane an Frau Klinges Schnaps gelegen hatte, denn mein Vater tat nach dem Bandauer auch viele Dinge, die er hinterher nicht so gemeint hatte, doch Bine hatte mich schon am nächsten Tag zu sich heruntergeklingelt und mir in der Kosmetikabteilung des Supermarkts gezeigt, wie man sich die Nägel richtig lackiert. Wir tranken so viel Walnussschnaps, bis wir mit Drosselbart kichernd auf den Werkschienen vor dem Jägerzaun lagen, die aufgeheizten Gleise unter unseren Köpfen. Fuhr ein Güterzug in der Ferne vorbei, kitzelte uns das Metall im Nacken, und hinter unseren Lidern geriet der Boden ins Schleudern. Bine konnte nicht aufhören zu lachen, auch nicht, als sie den Schnaps auf ihren Rock und den Gleisschotter spuckte. Ich brauste sie in der Schlammkuhle mit dem Schlauch ab und zum ersten Mal fehlte Katja nicht.

Eine Nacht schliefen wir heimlich in Frau Klinges Garten und erzählten uns Gruselgeschichten über den Russenfriedhof, der am Rand des Auenwäldchens lag, aber vor allem lästerten wir über Katja. Sie verriet mir, dass Marcik eigentlich auf sie gestanden und Katja nur genommen hätte, weil Bine nicht mit ihm schlafen wollte. Ich glaubte ihr kein Wort, aber wir hatten uns tatsächlich nur noch selten zu dritt gesehen, seit Katja sich mit ihm traf.

»Marcik stand doch immer vor der Schule, wenn wir große Pause hatten, und hat auf den Stufen auf mich gewartet.« Bine breitete eine Wolldecke aus der Laube unter dem Pflaumenbaum aus und zog mich zu sich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, Marcik jemals vor dem Schultor gesehen zu haben, aber Bine war oft erst kurz vor Ende der großen Pause zu uns in den Fliederbusch gekommen.

»Katja meinte, du hast wegen mir nicht mit uns geraucht.«

Bine lachte und zündete mir eine Zigarette an. »Oh, Mann. Wir haben da halt immer geknutscht, aber ich wollte das irgendwann nicht mehr, weil er ständig an meinen Titten rumgefummelt hat.«

Ich versuchte, so wenig wie möglich an Katjas Brüste in Marciks Händen zu denken, als Bine und ich Arm in Arm in der lauwarmen Nacht lagen, und es war mir auch egal, dass mein Atem kaum schneller wurde, wenn sie mich streichelte.

Bine nahm meine Hand und zog mich hinter sich den Hang hinauf, der unter unseren Füßen wegrutschte und zu den stillgelegten Schienen führte. Sie bewunderte meine grünen Fingernägel, die ich am Abend zuvor mit einem Lack bemalt hatte, den mein Vater für die Gebäude seiner Modelleisenbahn verwendete.

»Habe ich was verpasst bei euch?« Katja grinste und schob sich als Erste durch die Mirabellen auf das Gleis.

In den Hammerschlägen und im Geräusch der Pressluftbohrer auf der anderen Seite des Kanals lag etwas Schmerzhaftes. Das Zertrümmern von Stein klang wie das Geschrei eines urzeitlichen Tiers, das sich gegen sein Sterben wehrte, bevor es mit einem schweren Seufzen umkippte und den Boden zum Beben brachte. Seine Wehlaute waren bis auf den Hof zu hören. Mein Vater hatte mir am Schienennetz seiner Modellbahn erklärt, aus welcher Himmelsrichtung der Westen die Reichsbahn verschluckte, und auf die Erfurter Krämerbrücke gezeigt, die über einem aufgepinselten Arm der Gera platziert war und an deren Fachwerkhäusern er fast einen Monat gebastelt hatte. Im Auftrag der Bundesbahn würde man bald auch bei uns die Böden aufreißen, um Adern aus Kabeln und Trassen zu verlegen, und er sprach von den Umbauarbeiten immer so, als würde damit ein garstiges Geschöpf herangezogen. Garstig war für meinen Vater alles, was er als störend empfand. Der bröckelnde Putz der Kasernen, die aufgesprühten Kreuze in der Innenstadt, die Sechsuhrnachrichten und sogar eine Milchtüte konnte zu etwas Garstigem werden, wurde der Inhalt im falschen Augenblick sauer.

Auf der Kanalbrücke tasteten wir uns vorsichtig hintereinander bis zur Mitte und suchten nach den Markierungen auf den Schienen.

»Wo sind die Münzen?«, rief Katja über die Hammerschläge hinweg und konnte nicht sehen, wie Bine mit den Schultern zuckte, weil sie ganz vorne lief.

»Können wir woanders hingehen?«, erwiderte ich.

Ich hatte Angst vor den Durchfahrtszügen, die an dieser Stelle siebzig Kilometer pro Stunde erreichen konnten. Sie kündigten sich mit einem hohen Surren an, das man bei dem Gehämmer leicht überhören konnte. Das Surren wurde ein Schnarren, und je näher ein Zug kam, desto wütender schnarrten die Schienen. Hörte man das Aufschlagen der Räder, blieben einem nur ein paar Sekunden, um abzuschätzen, über welche Weiche eine Bahn die Brücke überquerte. Manchmal schlug sie Haken und wechselte ohne Vorwarnung die Spur.

»Ich bin mir sicher, dass die Münzen irgendwo hier lagen!« Katja hüpfte über die Schwellen und lief in der Mitte der Brücke die Gleise ab.

Ich horchte angestrengt in den Baulärm und ertappte mich beim Anblick von Katja dabei, wie ich mir einen Zug wie den Karlex mit Schnelltriebwagen herbeiwünschte, der es auf hundertsechzig Sachen brachte und die Tschechoslowakei innerhalb weniger Stunden erreichen konnte. Natürlich gab es solche Schienenfahrzeuge bei uns in der Gegend nicht, aber ich versuchte mir auszurechnen, wie wenig Zeit Katja bleiben würde, wäre die Zeitspanne von Surren zu Schnarren weniger als halb so lang. Ich stellte mir vor, wie die weiß-rote Schnauze des Zugs angepoltert kam, wie sie mehrere Haken schlug und jedes Mal genau dort landete, wohin Katja auswich. Ich konnte hören, wie die Bremsklötze das Metall kreischen ließen, erschrak bei dem röhrenden Warnhorn und sah zwischen den Rädern die Funken fliegen. Ich stellte mir sprühende Funken vor, die wie glühende Schneeflocken auf den Schotter herabrieselten, wenn der Zug mit einem Zischen zum Stehen kommen würde. Zum Schluss hielt sich Katja die Augen zu.

»Wir können nicht zur Fabrik, die Münzen sind alle weg!«, rief Katja und trabte zu uns zurück.

Bine schob es auf die Vietnamesen, die seit dem Feuer sogar die Kaugummiautomaten am Bahnhof aufknacken würden.

»Ich weiß, was wir machen können. Schiffe versenken!« Katja griff zwischen den Schienen nach dem erstbesten Stein.

Wir lehnten uns über die Brüstung, und unter unseren Schuhen glitzerte die Elbe. Von hier aus wirkte das Werk nicht so klein, wie von der Elbpromenade aus, sondern wie das urzeitliche Tier, dessen Wimmern mit jedem Brückenmeter zunahm. Die von den laufenden Bauarbeiten angegriffenen Wände des Hauptgebäudes wurden nur noch von wenigen Stahlträgern gehalten, und ein kräftiger Windstoß schien auszureichen, den Betonkoloss zusammenzufalten. Zwischen den Rissen wippten die Grannen der Mäusegerste. Auf der linken Uferseite stieg die Wetterfahne der St.-Nikolaus-Kirche aus der Krone der Rotbuche, unter der Tante Fuchs’ Dackel begraben war, und die Promenade zog eine schnurgerade Linie am Kontor vorbei. Der steile Anstieg der Hauptstraße, den man mit dem Fahrrad nur stehend bewältigen konnte, war von hier aus nicht mehr als ein sanfter Hügel. Der Wachturm reckte sich steil in den Himmel, und Katja meinte, das Fenster ihres Zimmers ausmachen zu können, aber ich war mir sicher, dass man von dort aus den Elbkanal nicht sehen konnte.

»Treffer, Schiff versenkt!«

Katja duckte sich und zog Bine und mich zu sich auf den Boden. Sie hatte mit einem Stein die Scheibe eines heranfahrenden Motorbootes getroffen. Der Fahrer stellte schimpfend den Motor ab und schrie etwas zu uns hoch, das ich wegen der lauten Maschinen nicht verstand. Ich lugte über den Brückensims und sah, wie er das Loch begutachtete und den Stein in den Kanal warf. Eine Welle schwappte am Fuß des Werks gegen die rechte Uferwand. Als das Boot die Brücke hinter sich gelassen hatte und weiter zu der Stelle fuhr, wo der Kanal in einer Kurve am Hexengarten vorbeifloss, forderte Katja mich auf: »Du bist dran.«

Sie wählte einen Stein, der noch viel größer war als ihrer. Ich konnte ihn kaum umfassen und hoffte, dass sich so schnell kein weiteres Boot der Brücke nähern würde. Die Sonne brannte auf meiner Kopfhaut, und alle zwanzig Minuten fuhr in sicherem Abstand ein Zug vorbei.

»Meine Mutter ist wieder da«, sagte ich und ließ den Stein ins Wasser fallen. Er traf die Wasseroberfläche mit so hoher Geschwindigkeit, dass noch Minuten später Blasen aus der Tiefe tauchten.

Katja machte ein ernstes Gesicht. »Du klingst nicht so, als würdest du dich darüber freuen«, sagte Bine.

»Ich weiß nicht, ob sie es wirklich ist. Die Frau sieht nicht aus wie sie.«

Bine erzählte, dass ihre Mutter früher mit ihren Freundinnen immer schlecht über meine Familie gesprochen hatte. Dass meine Mutter mich und meinen Vater wegen eines anderen sitzengelassen hätte, um mit ihm in den Westen zu gehen, und dass sie zu den Leuten gehöre, die unser Land kaputtgemacht hatten.

»Das ist Quatsch«, unterbrach Katja sie. »Mein Vater hat gesagt, die alte Klinge hat die verpetzt, und dann hat man die weggesperrt.«

»Wie, verpetzt?«

»Die war doch früher Lehrerin an unserer Schule. Die hatten alle mit der Stasi zu tun, sagt mein Vater.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Frau Klinge etwas mit den gepackten Reisetaschen meiner Mutter zu tun hatte, und das Einzige, was ich über die Stasi gelernt hatte, war, dass nur die Besten dabei gewesen waren.

»Wenn man was zu petzen hatte, ging man zur Stasi. Wie beim Arzt, wenn man Halsschmerzen hat«, sagte Bine.

»Genau!« Katjas Gesicht wurde noch ernster. »Die Klinge hat immer irgendwen verpetzt. Deswegen mag die auch keiner.«

Ich dachte an die Leute, die sich am Obststand neben ihrem Gartentor wegduckten, sobald sie auftauchte, und daran, dass manche den Weg ans Ende der Kolonie auf sich nahmen, um mit ihr über die Wetteraussichten zu sprechen, und trotzdem immer auf der anderen Seite der Thujahecke stehenblieben.

»Und weshalb hat sie gepetzt?«

»Es heißt, deine Mutter hat Leuten nach drüben geholfen. Weißt du das nicht?« Katja ließ den Papagei an ihrem Ohrläppchen schaukeln, und ich wartete vergeblich, dass sie sich nach diesem Satz auf die Unterlippe biss.

Im Waldfreibad bewunderte ich die Riemchen an Bines Bikini, die man am Nacken zu einer Schleife binden musste, und in dem sie fraulicher als alle anderen Mädchen aussah. Der Bikini war wahrscheinlich auch der Grund, warum die Jungs aus Vitos Bande sich der Reihe nach vom Zehnmeterturm stürzten und beim Auftauchen sofort zu uns guckten. Wenn Bine ein Sprung gefiel, nahm sie die Sonnenbrille ab und den Bügel zwischen die Zähne, nur einmal applaudierte sie, als Vito sich einen Köpper traute. Mein Vater hatte mir verboten, vom Zehner zu springen, weil vor Jahren mal ein Kind tödlich verunglückt war. Es sei auf dem nassen Brett ausgerutscht und von ganz oben auf den Beckenrand geknallt. In einer anderen Version war ihm nach einem Klatscher der Bauch aufgeplatzt und das Freibad die ganzen Ferien geschlossen gewesen, weil das Wasser ausgetauscht werden musste.

»Was war eigentlich wirklich zwischen dir und Katja?«, fragte ich Bine und kaute so beiläufig wie möglich auf den Pommes, die sie von einem der Jungs spendiert bekommen hatte. Sie setzte sich auf und starrte mich durch ihre dunklen Brillengläser an.

»Erinnerst du dich an den Tag, als wir gegen Dänemark verloren haben?«

Ich erinnerte mich gut an die Deutschlandfahnen und Schwarz-Rot-Gold-Wimpel, die die Balkons der Kasernen gepflastert hatten. Mein Vater beschwerte sich den ganzen Morgen über die falschen Flaggen, die die Leute aus den Fenstern hängen ließen, und dass die richtigen immer weniger wurden. »Wir sind aus Prinzip für Dänemark«, raunte er über seine Tasse hinweg, und das Gleiche sagte ich Katja, als sie mich in der Röhre vor ihrem Taschenradio fragte, für welche Mannschaft ich war. Bine fieberte für Deutschland und zischte immer wieder »Psst!«, wenn wir auf der Matratze zu laut wurden und sie die Übertragung des Spiels nicht verstehen konnte. Katja blätterte in ihrem Euro-92-Album von Panini und ließ mich die restlichen Sticker einkleben. Sie hatte aus dem Papierlädchen eine ganze Kiste Aufklebertütchen gestohlen und am Ende fehlten uns nur noch Jean-Pierre Papin und Darko Milanič.

»Immer fehlen welche. Vielleicht gibt es die Aufkleber gar nicht«, sagte Katja und ging Seite für Seite die Spieler durch.

Die erste Halbzeit war fast vorbei, und im Radio pfiffen die Zuschauer über die gelbe Karte von Thomas Häßler. Es stand 1:0 für die Dänen.

»Der hier sieht doch total aus wie Marcik.« Katja lachte und tippte auf einen Typen der italienischen Mannschaft. »Und guck mal, der hier hat irgendwie Ähnlichkeit mit dir, Pilly!«

Sie blätterte zurück zu den Schotten und zeigte auf einen Fußballer, der Tante Fuchs’ Bruder hätte sein können.

»Was? Ich sehe doch nicht aus wie Stuart … MäcKall!«

»Jedenfalls habt ihr den gleichen Frisör.«

»Und du hast die Haare von dem hier.«

»Stimmt, wie ein aufgeplatzter Strohsack! Und der hier sieht aus, als würde er im Gebüsch auf kleine Kinder warten.«

»Scheiße, die Batterien!« Bine schlug gegen das Taschenradio. Die Stimme des Kommentators schlingerte, zog sich in die Länge wie Kaugummi und verstummte.

»Wen interessiert denn Deutschland?«, sagte Katja und zog Bine auf die Matratze. »Kommt, wir machen ein eigenes Turnier.«

Jeder bekam zwei Mannschaften aus dem Panini-Heft. Ich wählte Schweden und Frankreich, Katja nahm Jugoslawien und England und teilte Bine Deutschland und Dänemark zu. Das Ziel lautete, so gemeine Dinge wie möglich über einen Spieler zu erfinden. Erfand man etwas, das in Katjas Augen gemein genug war, bekam man einen Punkt, für einen Lachkrampf sogar zwei. Bine hielt die Punktzahl mit Kreide auf der Röhrenwand fest. Am Ende gewann sie mit insgesamt 41 Punkten und fünf Lachkrämpfen knapp vor Katja, weil ihre Peniswitze besser waren.

»Und ich hatte vier Spieler weniger als ihr!«, triumphierte Bine und streckte sich vor der Röhre im Abendlicht.

Die meisten Fahnen waren eingeholt und der Spielplatz war leer. Auf dem Parkplatz saß Marcik mit seinen Jungs vor dem Bus, die von der Niederlage der deutschen Mannschaft weniger beeindruckt waren als Bine. Sie war der Meinung, dass die Dänen den Sieg nicht verdient hatten, weil sie überhaupt nur wegen Jugoslawiens Disqualifikation im Finale gestanden hätten.

Ich zählte die Schläge der Kirchturmuhr und erschrak, weil der Kuckuck in unserem Wohnzimmer zum zweiundzwanzigsten Flug aufgebrochen war und mein Vater mir vom Balkon aus zurief, dass mein Bett mich vermissen würde.

Bine äffte die Stimme von Pittiplatsch nach: »Heute kann Pillyplatsch bestimmt nicht einschlafen. Das kommt davon, weil sie nicht weiß, ob ihr der Weihnachtsmann nun einen Traktor oder einen Kran bringt.«

»Das gibt einen Extrapunkt«, grölte Katja, hakte sich auf dem Weg zum Parkplatz bei ihr unter und sang: »Sieh dir nur die Spatzen an, sie schlafen schon im Baum. Winke, winke, winke …«

Es hatte sich nichts Ungewöhnliches an diesem Junitag zum EM-Finale ereignet, aber Bine war sich sicher, dass Katja ihr genau an diesem Abend Marcik ausgespannt hatte. Sie beobachtete den Zehnmeterturm, zündete sich eine Zigarette an, und ich glaubte ihr noch immer nicht. Eigentlich standen die älteren Typen immer mehr auf Katja, und Bine riss jedes Mal einen Spruch, wenn einer seinen Kumpel vorschickte, um sich auf dem Pausenhof oder vor der Röhre mit ihr zu verabreden. Dass sich die Jungs im Schwimmbad jetzt um Bine rissen, lag nicht nur an ihrem Bikini. Alle wussten, dass Katja zu Marcik gehörte, und der hätte jeden verhauen lassen, der sich an seine Freundin ranmachte. Katja hatte angeblich schon kurz nach dem Finale angefangen, bei ihm im Bus zu übernachten, und jedes Mal Hausarrest bekommen, wenn ihr Vater sie dabei erwischte. Den einen Abend sei Herr Bergmann in voller Montur aus dem Bandauer gestiefelt und hätte Marcik mit seinem Pioniermesser die Reifen zerstochen.

»Tja, und jetzt sind wohl ihre Tage ausgeblieben, aber vielleicht fallen ihr gerade auch einfach keine besseren Geschichten ein.«

Bine erzählte, wie Katja vor ein paar Tagen ein ganzes Glas eingelegte Gurken in sich hineingestopft und hinterher neben die Röhre gekotzt hatte.

»Vielleicht ist sie ja wirklich schwanger!«, flüsterte ich, aber Bine winkte ab und blies Rauch durch ihre Nasenlöcher.

»Sie verträgt keinen Dill.«

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Bine schien wie Katja gut darin zu sein, ihre eigenen Lügen zu glauben. Einmal war Katja mit einer Walnuss in der Backentasche durch die Schule geschlurft, bis ein Lehrer Mitleid mit ihr hatte und sie nach der dritten Stunde zum Zahnarzt schickte. Als Reckturnen auf dem Stundenplan stand, täuschte sie einen Sturz vor und ließ sich zwei Tage lang auf dem Pausenhof von mir stützen. Sie humpelte so erbärmlich, dass ich jedes Mal erschrak, wenn sie wie ein Pfeil aus meinem Arm schoss, sobald die Schule außer Sichtweite war.

Bine drückte die Zigarette in der Mayonnaise aus und rollte sich auf den Bauch. Ich legte meinen Kopf auf ihren Rücken und war noch immer davon irritiert, dass sich nichts daran falsch anfühlte. Selbst ihre Lügen nicht. Katja log, um sich wichtigzumachen, Bine erfand ihre Geschichten, um Katja schlecht dastehen zu lassen. Und das tat sie nur, davon war ich felsenfest überzeugt, wegen mir. Ihre Haut fühlte sich kühl an. Sie roch nach endlosen Sommerferien, nach Chlor und Sonnenschutz, nach dem Blumendeo des Abschlussjahrgangs und nicht wie ein undurchschaubarer Wald, auf dessen schattigen Wegen man sich verirrt. Ich dachte an meinen Geburtstag, den Katja verpasst hatte, weil ihr Vater sie nicht rausgehen ließ, und an den Teich. Daran, wie sie unter Wasser meine Hand festgehalten hatte, an ihre Gänsehaut unter meinen Fingerkuppen und an meine Turnschuhe, die ich plötzlich wiederhaben wollte. Ich sah die zermatschten Köpfe von Siebert seniors Goldfischen auf dem Backstein, dann Katjas Gesicht zwischen den Blütensicheln der Busgardine und das der Frau, die sich als meine Mutter ausgab. Dachte an Frau Klinge in einem Geäst aus Schläuchen und an die aufgeplatzte Bauchdecke des verunglückten Kindes. Einer von Vitos Bande stieg mit roter Brust aus dem Becken. Sein Sprung hatte wie ein Peitschenknall geklungen.