Der Kümmerfuß ging schlecht mit der Sache um. So, als könnte er die Einschnitte wittern, die den Hexengarten und die Schwedter Tapeten im Fischerhaus in den nächsten Wochen erwarteten. Er wollte sich nicht geradebiegen lassen und stellte sich steif. Sobald Katharina versuchte, auf ihren täglichen Ernterunden über die Ankunft ihrer Schwester erleichtert zu sein, stellte er sich sofort quer. Sie zählte sich die Vorteile auf, die der Verkauf des Gartens mit sich bringen würde, doch der Fuß krümmte und verhakte sich in den Schlingen der Kürbisse und Schmorgurken. Er scheute und bockte wie die Springpferde auf einem der neuen Fernsehkanäle vor einem unüberwindbaren Hindernis. Er wollte sie daran erinnern, dass schlechte Beetnachbarn nur hier miteinander auskamen und dass ausschließlich im Hexengarten Beerensträucher zu finden waren, die bis in den Winter Früchte trugen. Katharina glaubte nicht, dass eine hochzufriedene Bauernseele im Flechtwerk der Kiepe für die ewigen Brombeeren verantwortlich war, sondern die magische Rezeptur im Schlamm des Flusses. Bei Hochwasser setzte er sich am Ufer ab. Vermischte man ihn mit den zerstoßenen Resten der Wollhandkrabbe und gab das Gemenge unter die karge Pflanzerde, schoss selbst das schwierigste Gemüse in die Höhe. Die Erntejahre, in denen die Tiere flussaufwärts wanderten und ihre Reise in Elis Fangnetzen beendeten, waren die ertragreichsten. Nur den Imbissgästen blieben die aus China eingeschleppten Krabben mit ihren elbgrauen Pelzscheren unheimlich, und niemand traute sich, die Panzer abzuknabbern. Abnehmer fand Eli meistens in den fettesten Aalen vor der Bucht, die mit Krabbe am Haken besonders gut anbissen, und den Vertragsarbeitern aus Vietnam. Katharina hatte im letzten Krabbenjahr mit Elis Hilfe kistenweise den Lada beladen und war die Parzellen der Kolonie abgefahren. Die Biester zwickten ihnen in die Hände und spreizten sich wie Spinnen zwischen den Fingern der Frauen, die aus den Lauben geschossen kamen und mit unverständlichen Lauten einen viel zu niedrigen Kilopreis festlegten. Die Hälfte der Krabben landete wieder in Elis Köderkästen und in den Beeten zickiger Gemüsesorten. Insgeheim fürchtete sich Katharina vor den Vietnamesen wie die Imbissgäste vor dem schleimigen Fleisch der Schalentiere. Die knochenweißen Zangenspitzen ragten hässlich aus den Kochtöpfen, und Katharina musste jedes Mal an Gebisse voller Reißzähne denken.
Die Wollhandkrebse waren nicht das Einzige, das sich von Asien über die Grenzen der Altmark ausgebreitet hatte und auf Unverständnis gestoßen war. Im Bandauer sprach Brunig von nichts anderem als der neuen Garderobe seiner Frau, die fürchterlich roch, egal, wie oft er sie in der Wäscherei durch seine Maschinen jagte. Asien wird die neue Plage, hatte er gemotzt und mit dem Finger immer wieder auf die Tresenplatte getippt, als wäre die Bedrohung längst ein festes Stammtischmitglied.
»Die riecht wie ’ne Jiftpulle. Hat keen Zaster, wa, aber Hauptsache schön uffjetakelt wie Gräfin Koks.«
»Die Plage fängt schon hinter dem Mittelgebirge an«, fügte Küstrin hinzu und tippte gegen Katharinas Flasche. »Was glaubt ihr denn, wem jetzt die Diamant-Brauerei gehört? Magdeburg jedenfalls nicht.«
»Dass uns aber damals keiner zugehört hat, oder?«, sagte Katharina und verstand den Zusammenhang zwischen ihrem Kirsch-Porter und der Brauerei nicht.
»Dass uns keiner gefragt hat!«, ergänzte Bergmann und erkundigte sich bei Katharina, ob die Gerüchte zutrafen, die man sich erzählte.
Er konnte nicht begreifen, wie sich alle von der Raffgier mitreißen ließen, die sich von drüben wie eine Grippewelle im Ort ausbreitete. Wer jetzt verkaufte, wurde abgezockt. Eli sollte sich das gut überlegen. Im Wachturm würden ständig irgendwelche Fernsehfuzzis die Fahrstühle blockieren, weil sie jedes Stockwerk nach Idioten abklapperten, die sich eine ihrer Satellitenschüsseln aufschwatzen ließen.
»Mir fehlt der DFF. Sind jetzt viel zu viele Sender«, maulte Martin, und Katharina dachte, dass er doch zu den ersten Idioten gehört hatte, die sich eine der Schüsseln vor dem Balkon hatten anbringen lassen.
»Lasst die Zeiten noch schlechter werden, dann drehen alle die Uhr wieder zurück«, sagte Bergmann, und Schrauben-Hiller wiederholte, was Frau Wenzel ihm in ihrer Küche gesagt hatte: »Die Zeiten waren noch nie gut.«
Früher war der Stammtisch ein Ort gewesen, der bei Sorgen jeder Größenordnung zusammenrückte. Wenn Hiller eine Frau weggelaufen war, durfte er im Bandauer anschreiben, und die anderen ließen ihn die nächsten zwei Kegelpartien gewinnen. Als Küstrin mit hängenden Schultern zum Stammtisch kam, weil er säckeweise die Kleidung seiner Tochter zur SERO-Annahmestelle gebracht hatte, spielte man so lange Pasch, bis über der Hauptstraße die Sonne wieder aufging. Im ersten Dezember ohne Waltraut verlegte man wegen Martin das Fest ins Bandauer. Das Ehepaar Brunig brachte Würstchen und Kartoffelsalat, Genosse Bergmann besorgte eine Kiste Kristall und Küstrins backten altmärkischen Napfkuchen. Katharina dachte gerne an diesen Abend, an dem Herr Bandau seinen Ziphona in der Küche aufgebaut hatte und man sich die Zubereitung von Elis Karpfen mit der Amiga-Plattensammlung versüßte. Von den Deckenbalken hingen gebundene Tannenzweige aus dem Auenwald, und im Fenster leuchtete Frau Bandaus Schwibbogen. Niemand dachte an den Lieferwagen der Friedhofsgärtnerei, der im Sperrgebiet westlich vom Ort aufgefunden worden war. Selbst Pilly stellte an diesem Abend keine Fragen, sondern war ausschließlich mit ihrer Puppenstube beschäftigt, für die alle zusammengelegt hatten.
An diesem Nachmittag redeten alle durcheinander, und im Radio dudelten nur Lieder aus dem Ausland, die Katharina nicht mitsingen konnte und zu denen sich der Kümmerfuß schlecht bewegte. Martin beschwerte sich noch immer über die Sendungen, die nach und nach aus dem Programm gestrichen wurden, und Brunig prophezeite Bandau mit dem endgültigen Einzug der überteuerten Billigmode in naher Zukunft Atemwegserkrankungen.
»Machste bei uns die Schranktür uff, brenn’ dir de Oogen.«
»Mir geht’s auf die Augen, wenn ich den Quittenbaum sehe«, sagte Hiller, dessen Parzelle vom Brand besonders in Mitleidenschaft gezogen worden war. »Jetzt kriegen wir die Gärten wieder, aber zu welchem Preis. So was Zerlebtes habt ihr noch nicht gesehen!«
»Kannst du doch nicht auf die Fidschis schieben, wenn dein Garten hässlich ist!«, alberte Küstrin, und Katharina fragte, ob man öffentliche Gelder beantragen könnte, um den Altpächtern die Instandsetzung zu erleichtern.
»Dit is doch Jesetz, wenn alle die Hand uffhalten, kriegen nur die, die am wenigsten deutsch quatschen.«
»Jetzt haltet mal kurz die Klappe!«, fuhr Bandau dazwischen und stellte das Radio am Tresen lauter. »Rostock geht in die dritte Runde.«
Vor dem Lichtenhagener Sonnenblumenhaus hatte sich die Stimmung beruhigt. Die Aufnahmestelle für Asylbewerber sei evakuiert worden, sodass mit weiteren Ausschreitungen nicht mehr zu rechnen sei. Aus den Lautsprechern dröhnten Aufnahmen vom Vorabend, und Katharina dachte, dass nur die Sirenen im Hintergrund verrieten, dass es sich nicht um die Übertragung eines Fußballspiels handelte.
»Ab wann prasselt bei euch das Begrüßungsfeuer?«, übertönte Hiller die Deutschlandrufe, und Katharina versicherte, dass der Imbiss zum Hexengarten ab fünf Uhr nachmittags für alle öffnete, aber auf dem Menü den Umständen entsprechend mehr Schwein als Fisch stünde.
»Ich weiß nicht, wie du das all die Jahre ausgehalten hast«, hatte Waltraut am Morgen gestöhnt und sich die Schuppen von ihrer Bluse geschnipst, als die letzte Kiste des Nachtfangs über einer Schicht Buche und den Ästen des Holunders im Räucherofen aufgehängt war.
Eli lachte und erwiderte, dass die Jahre sie aushalten mussten und nicht andersherum. Der Holunder schäumte und summte zwischen den Flammen. Katharina überkam das Gefühl zu ersticken. Sie regulierte die Luftzufuhr am Abzug und riss die eingewebten Fenster auf. Die Netze bewegten sich wie durchsichtige Vorhänge im Wind.
»Ist das Holz nicht zu harzig und viel zu nass?«
»Was im alten Rom bei Schinken funktioniert hat, klappt bestimmt auch mit den Fischen«, sagte Eli und bezog sich mal wieder auf etwas, das sie in einem Reiseführer gelesen hatte.
Ihre Schwester lehnte am Türrahmen und ging mit einem Stift die Liste durch, auf der sie notiert hatte, welche Dinge für ihr Grillfest fehlten. Sie hakte die Punkte so schroff ab wie damals ihre Mutter die Kisten vor dem Umzug nach Krummin und teilte die letzten Aufgaben Eli und Katharina zu. Waltraut war immer gut darin gewesen, an andere zu delegieren und es so aussehen zu lassen, als sei das ein Privileg. Katharina konnte nicht verstehen, warum es allen wichtig war, für Waltraut unentbehrlich zu sein. Je mehr sie einem aufhalste, desto mehr Hingabe schlug ihr entgegen. Eli sagte nur: »Sicher, das Holz hackt sich ja von selbst« und meinte das vollkommen ernst, obwohl sie schon zum Sonnenaufgang mit dem Boot die Buhnen abgefahren war, weil Waltraut am Vorabend erwähnt hatte, dass sie sich für die Feier Flussbarsch wünschte. Sie hielt nach Weißfischen Ausschau, die frühmorgens zur Fresszeit an die Oberfläche gedrängt wurden, und platzierte ihre Silberköder in der Nähe der Schwärme. Je panischer ein Schwarm, desto schneller bissen die Barsche weiter unten an. Als Eli übermüdet mit drei vollen Kisten am Steg anlegte und von Waltraut mit einem Kuss auf die Wange empfangen wurde, zog es Katharina wie so oft in letzter Zeit im Magen. Sie war tagelang die Höfe im Umkreis abgefahren, um rechtzeitig zum Grillfest ein Spanferkel aufzutreiben, weil Eli am Tag der Ankunft ihrer Schwester angekündigt hatte, dass es auf deren Willkommensfeier keinen Fisch geben werde. Schon gar nicht welchen aus der Bucht. Ihre Schwester hatte nur einen Nachmittag gebraucht, um den Hexengarten auf ihre Seite zu ziehen. Sie trug die Außenmöbel aus dem Keller, bestückte den Garten mit Feuerkörben und strich die Imbissbude in dem Gelb des Gemeindezentrums, von dem Eli ihr vorgeschwärmt hatte. Wie früher, als sie noch zu dritt im Fischerhaus gewohnt hatten, schwelte in Eli diese Faszination für Waltraut, die selbst Martin unverständlich fand.
Katharina war daran gewöhnt, dass ihre Schwester ihr Leben durcheinanderbrachte. Das war im Havelland so gewesen und an der Ostsee schlimmer geworden. Schuld daran war der Fluch, der auf jedem Schwesternpaar lag, bei dem die eine unscheinbarer war. So hatte es ihre Mutter prophezeit, die selbst eine ältere und immer etwas uninteressant gebliebene Schwester besaß.
»Eine steht bei Vätern immer höher im Kurs«, beendete die Mutter nach Feierabend Katharinas Beschwerden, die vorher vom Vater abgewunken worden waren, als schwirre ihm eine Wespe vor der Nase. Auch sein Begräbnis änderte nichts daran. Katharina blieb in den Augen der Mutter immer die Tochter mit den kostspieligen Schuheinlagen, deren Haut selbst im Hochsommer wie Buttermilch aussah und die bei den Männern nie in der Gunst stand. Jahre später belächelte sie den Wirbel, den Katharina um Eli veranstaltete, und machte sich bei deren erstem Besuch nicht die Mühe, die Blutflecken an der Wand hinter dem Kiefernwald zu verstecken.
»Immerhin trägt die Dame einen stattlichen Bart«, witzelte sie nach Elis Abreise und setzte noch am Tag von Katharinas Umzug nach: »Mit dem Angeln hast du es jedenfalls nicht so.«
Das Fischerhaus und die Fabrikarbeiter, die im Hexengarten auf ein Fischbrötchen vorbeikamen, besänftigten Katharinas Wut auf die Ostsee und auf alle Familienmitglieder, die deren unausstehliches Wesen verinnerlicht hatten. Doch vor allem verblassten die Erinnerungen an die vor dem Hoftor wartenden Nachbarkinder, die auf der Apfelplantage mit Waltraut spielen wollten, aber auf keinen Fall mit ihr, der Klumpfuß-Katinka.
Am Nachmittag trafen die Gäste ein und der Hexengarten füllte sich wie früher mit Stimmen. Der Stammtisch verteilte sich an den runden Stehtischen unter dem Sonnensegel, und Katharina beobachtete die Rauchschatten, die wie Regenwolken vorbeizogen. Sie stand an der Ausgabe, zupfte Salatblätter und behielt das Spanferkel im Auge, das Martin wie hypnotisiert am Drehrost rotieren ließ. Eli nahm die fertigen Barsche von den Räucherhaken und lüftete im dritten Ofen die restlichen Fische aus dem Lakeneimer ab. Der Holunder lag mittlerweile ruhig zwischen den Flammen, und Waltraut schritt die Tische ab, um den Likör einzuschenken. Nur der Geruch von frischer Farbe erinnerte daran, dass es diesen Ort in Wirklichkeit nicht mehr gab.
»Fühlt sich fast an wie früher, oder?«, murmelte Katharina, was Eli mit einem gehetzten »Ja« beantwortete.
An den Tischen ging es noch immer um Lichtenhagen, und Hiller sprach von dem großen Elend, das spätestens am Ende des Jahres auch in die Freiflächen neben dem Wachturm einwandern würde, sobald der Grundstein für die geplante Flüchtlingsunterkunft gesetzt war.
»Keine gute Entscheidung, so was mitten ins Wohngebiet zu bauen.«
»Du, dann knallt dit eben wieder und dit jeht dann nich so aus wie bei den Järten«, entgegnete Brunig.
»Mich stören die Vietnamesen nicht. Mich kotzen die Leute an, die jetzt aus dem Osten hier rüberfluten. Rumänen und Jugos, solche eben … Extra für die wird das doch da hingestellt.«
»Genauso denken die Wessis, wenn die Leute von hier nach drüben gehen. Manche hätten gerne den Vorhang wieder, das glaub mal«, fuhr Genosse Bergmann dazwischen.
»Dich kratzen die Fidschis nich? Die lungern jetze in der Turnhalle rum und für die Kleenen fällt der Sport aus. Ausjerechnet Sport!«
»Und wer hat jetzt Hunger?« Eli beeilte sich, die Fischbrötchen in die Münder zu bekommen. »Heißgeräuchertes für alle!«
Die Männer griffen zu und stießen auf Waltrauts Rückkehr an.
»Willkommen zurück, Zuckerpocke!«, grölte Hiller und blieb sich als Einziger in der Runde treu, denn in den letzten Jahren war er von allen am Stammtisch immer derjenige gewesen, der für Waltraut die unschmeichelhaftesten Worte übrig gehabt hatte.
Am Tag von Waltrauts Rückkehr hatte Katharina versucht, sich so unauffällig wie möglich durch das Fischerhaus zu bewegen und den Blicken ihrer Schwester aus dem Weg zu stolpern. Sie hielt sich in der Küche an den schweren Eisentöpfen fest und setzte so lange Holunderlikör an, bis ihr die Flaschen ausgingen. Immer wieder steckte Eli ihren Kopf durch die Tür und fragte, wer den ganzen Schnaps denn trinken solle, doch Katharina warf erst die Topflappen hin, als Waltrauts Gesicht im Türspalt erschien. »Komm! Zeit für einen Eisbrecher!«
Waltraut tänzelte auf Zehenspitzen zum Küchentisch und trank den Schnaps aus der angebrochenen Flasche.
»Nimm dir ein Glas und setz’ dich hin! Du machst mich nervös!« Katharina erschrak vor ihrem eigenen Tonfall, der viel zu sehr nach ihrer Mutter klang, und ließ sich auf den gegenüberstehenden Stuhl fallen. »Entschuldige. Schenk mir auch einen ein.«
Die ersten zwei Eisbrecher stachen direkt hintereinander in See, und es brauchte einen dritten und vierten, bevor Waltraut den Mut hatte, sich freizuschwimmen. »Ich habe alles falsch gemacht, aber für mich war es das Richtige.«
»Du hast alles weggeworfen und ich musste aufräumen, wie immer!«
Die Fußspitze ihrer Schwester zitterte wie die Schwanzflossen der Barben nach einem kräftigen Schlag auf den Kopf. Katharina musste unwillkürlich an die Klinge ihres Fischmessers denken. Die Tiere gaben bei einem Rundschnitt über die Kiemen innerhalb von Sekunden auf der Handfläche nach und bluteten genauso schnell aus.
»Hast du keine Fragen? Du fragst doch sonst immer!« Waltraut schenkte nach.
»Ich frage mich, was du für eine grottenschlechte Mutter bist. Aber die Antwort kenne ich schon.«
Die Stolpergefahr war das Einzige, was Katharina auf dem Stuhl hielt.
Waltraut bekam diesen glasigen Blick, den sie schon früher aufgelegt hatte, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte, und der nur bei Verehrern oder dem Vater funktionierte. In der Regel folgten mittelschwere Wutanfälle, die, wenn sie ohne Ergebnis blieben, nahtlos erst in Tränen und dann in tagelanges Schweigen übergingen.
Katharinas Magen überschlug sich, als Waltraut aufstand und gleich beim Schweigen landete, Wut und Tränen übersprang. Sie hörte, wie Eli mit ihrer Schwester im Flur über die Zeit tuschelte, die man Katharina zugestehen müsse, und der Ärger über die Schiefhälse, Wackelköpfe, Glasblicke und Glitzerschuhe brach aus ihr heraus. Die Eisbrecher tröpfelten einer nach dem anderen sauer in den Ausguss. Kurz erschrak Katharina vor der schwarzen Farbe, weil es beim Vater ganz zum Schluss genauso ausgesehen hatte.
In dieser Nacht schlief sie schlecht und blieb bis mittags im Bett. Sie hoffte, dass Waltraut von selbst darauf kommen würde, dass es für alle Beteiligten von Vorteil war, wenn sie ihre Taschen gar nicht erst auspackte. Ihre Schläfen pochten und ihre Körpermitte brannte, als hätte sich in ihr einer von Elis Zwillingshaken verkeilt. Vom Garten her drang die Stimme ihrer Nichte ins Schlafzimmer.
»Fass mich nicht an. Hau ab!«
Katharina schlurfte zum Fenster und beobachtete, wie Pilly sich aus Waltraut Umarmung löste und sie dabei fast vom Steg schubste. Sie rannte in Serpentinen durch die Sträucher, gefolgt von ihrer Mutter, die in ihren Absatzschuhen auf dem unebenen Gelände schlimmer humpelte als ihre Schwester.
Eli warf Gummihammer und Wasserwaage ins Gras und fing die Nichte am halbfertigen Gehweg ab, Martin stand teilnahmslos daneben und beobachtete die Szene wie jemand, der ein besonders schlechtes Vorabendprogramm auf den neuen Fernsehkanälen schaute. Als in der Einfahrt der Motor des Ladas ansprang und der Wagen in Richtung Kasernen zurückrollte, warf sich Katharina den Morgenrock über und lief ihrer Schwester auf der Wiese entgegen. Waltraut sah nicht mehr wie die englische Kronprinzessin aus, sondern wirkte so verräumt wie an jenem Abend, als sie mit Brüsche im Gesicht an die Tür des Fischerhauses geklopft hatte. Sie fiel ihr um den Hals und schluchzte: »Katinka, ich kann das nicht! Hast du gesehen, wie die gerannt ist? Wie kann man denn vor seiner Mutti weglaufen?«
»Das ist jetzt viel für sie. Alles. Das wird schon noch. Gib ihr Zeit. Wie ein Schock ist das«, flüsterte Katharina und war sich nicht sicher, ob sie von ihrer Nichte oder von sich selbst sprach.
»Ah, ist das unser hoher Besuch?«, rief Katharina über die Köpfe der Gäste hinweg, als Pilly mit stöhnenden Bremsen bergab gefahren kam und ihr Fahrrad gegen die Holzwand der Imbissbude lehnte.
»Ey, ich mache das nur für dich und Papa!«
»Kommt es nicht immer darauf an, was man tut, und nicht, für wen man es tut?«
»Du hast ja einen Zacken drauf.« Waltraut lachte und blinzelte gegen den Glasblick an, als Pilly allen außer ihr die Hand schüttelte und sich neben Martin an den Drehrost stellte. Sie schürte mit dem Schieber die Kohle und starrte auf das Feuer, das sich mit gelben Zungen in die Schwarte des Spanferkels bohrte.
»Das Ferkel müsste gleich durch sein«, sagte Martin und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl neben Waltraut, der eigentlich für Pilly gedacht war. Hinter Katharina beruhigten sich die Öfen. Sie lehnte sich über die Ausreiche und hörte wie früher jedem Gespräch der Gäste gleichzeitig zu. Bandaus deckten mit Eli die Tische neu ein und schnitten die Blechkuchen an, Genosse Bergmann stritt mit Schrauben-Hiller und Schuster Küstrin über die Luftbrücke für Sarajevo, und die Frauen redeten mit Brunig über die Geschäfte, die auf der Hauptstraße gerade renoviert wurden. Er fand die Eröffnung eines jugoslawischen Restaurants neben seinem Betrieb bedenklich, weil die Küchenräume direkt an die Belüftungsgitter seines Abhollagers grenzen würden, in dem die Frischwäsche abhing. Nur Martin schwieg und saß hellwach vor seinem Wasserglas, als hätte es die vergangenen vier Jahre nicht gegeben.