»Ein Tag und eine halbe Nacht.«
Hedwig hob den Zeigefinger und war dankbar für Frau Pahl im Bett gegenüber, die ihr seit Tagen die Uhr ersetzte. Wenn sie die Augen aufschlug, war sie sich nie sicher, wie lange sie abwesend auf dem Rücken gelegen hatte. Der vom Kopf ausgehende Schmerz hatte in der Zwischenzeit ihre Hüfte erreicht.
»Gehen mir die Lichter aus?«, fragte sie die Krankenschwester, die die schweren Monitore von der Bettkante schob.
»Nicht hier. Haben Sie Schmerzen?«
»Was?«
»Haben – Sie – Schmerzen!?«
»Nein, ach. Wir möchten zufrieden sein.«
Hedwigs Körper war bereit, zurück in die traumlose Versenkung zu gleiten, in der er das Ziehen nicht ertragen musste, das immer weiter Richtung Wetterzeh kroch, doch das Bett richtete ihn mit einem tiefen Surren auf.
»Wenn es mir anfängt, im Knöchel zu ziehen, ist es fast geschafft.«
»Heute wird ein großer Tag, Frau Klinge!«, schrie die Krankenschwester sie an. »Die Kollegen vom Hospiz haben gerade angerufen, der Fahrer ist unterwegs. Aber langsam. Jetzt machen wir uns erst mal in Ruhe fertig.«
Große Tage bedeuteten nie etwas Gutes. Sie verlangten einem zu viel ab, oder es musste etwas passieren, das man sein restliches Leben als Andenken mitzuschleppen hatte. Die kleinen Tage waren Hedwig lieber. Sie überrumpelten einen nicht. Sie ließen einem Platz, selbst zu entscheiden, welche Erinnerung man mitnehmen wollte. Es war alles andere als verwunderlich, dass der Einzug in ein Hospiz auf einen großen Tag fiel und dass das Wort mit einem »z« abschloss, dachte Hedwig. Ein Ort, an den man zum Sterben verfrachtet wurde, konnte ja nur mit dem letzten Buchstaben des Alphabets enden. Viele unbequeme Dinge endeten auf »z«. Schmerz. Sturz. Distanz. Rollstuhlsitz. Grabkranz. Auch ein Herz konnte zu etwas Unbequemem werden. Frau Pahl hatte sich ihrs überholen lassen und wartete jetzt auf die Reha. Ein Wort, das natürlich in einem »a« auslief. Alles auf Anfang, ein paar geschenkte Jahre, und das Gesicht ihres Sohns hatte sich mit jedem Besuch mehr entspannt. Als er die Enkelzwillinge mitbringen durfte, war von einer beständigen Genesung auszugehen. Ihr Krakeelen vertrieb die immer zahlreicher werdenden Krähen vom Fensterbrett und übertönte das Geplänkel der Schwestern, das entweder unverfänglich oder bemüht wirkte, je nachdem, wie laut sich der Tod am Keifen der Maschinen ablesen ließ. Hedwig genoss die Besuche des fremden Sohns. Sie halfen ihr dabei, den eigenen nicht zu vermissen. Das Peterchen.
»Wir werden wieder zu Kindern«, hatte Frau Pahl geflucht, als sie nach ihrer Herzoperation für ein paar Tage Windeln tragen musste und beim Gewickeltwerden verlegen aus dem Fenster sah.
»Meine Mutter hat immer gesagt: Am Leben zu bleiben lohnt sich nur, wenn sich jemand darüber ärgert«, sagte Hedwig.
Am Ende sei sie trotzdem nicht gestorben, um anderen eine Freude zu bereiten. Es hatte lange gedauert, bis Hedwig die Eierbecher aus grauem Steinzeug nicht mehr traurig gemacht hatten. Sie hatten zu den wenigen Gegenständen gehört, die auf der Flucht aus Ober-Leschen nicht gegen Mehl eingetauscht worden waren. Die meisten Frauen hatten damals ihren Nachwuchs in Sicherheit gebracht, die kinderlose Hedwig hatte ihre Mutter auf einen der Pferdewagen gehoben.
Wenn in den Krankenhausfluren die Nacht einzog, konnte sie das alles von früher wieder hören. Das Rauschen des Bober, das Schnauben der erschöpften Kaltblüter vor dem Wagen, das dumpfe Grollen der Bomben in der Ferne und das Rattern der Panzerketten beim Kreuzen der Fluchtlinie der Wehrmacht.
Hedwig schob es auf die Medikamente, dass die dunkle Stimme ihrer Mutter, ihre Art, allem ein »a« anzuhängen, ständig zu Gast am Krankenbett war. Koochmannla, Herzepinkerla, Tippla. Ala Nala haie nä, noia Nala a nä. Alte Nägel halten nicht, neue Nägel auch nicht. Der Satz war immer gefallen, wenn die Mutter über zerrüttete Ehen und geplatzte Verlobungen im Familienkreis sinniert hatte, wobei mit dem neuen Nagel später immer der rothaarige Vermieter Kolotzke in Dergenthin gemeint war, der viele Flüchtlingsfrauen mit ihren Kindern bei sich aufnahm. Vier winzige Zimmer mit Kochöfen für dreizehn Familien. In seinem Garten wuchsen die Läuse auf dem Kohl und in den Kabuffen zwischen den Haaren. Wurde man krank, ging es runter in den Rotzkeller, in dem man vor lauter Husten das eigene Wort nicht verstand. Kolotzke konnte ihnen noch so viele Körbe Steckrüben und Schnippelbohnen an die Klinke hängen, für die Mutter blieb er ein krewatschlicher Plotsch mit gierigen Händen. Doch ohne die hätte es das Peterchen, den die Mutter nur Schnakala nannte, nicht gegeben und auch nicht das Gänseblut, das verkocht mit Essig, Hälsen und Backpflaumen die bräsigsten Kartoffeln genießbar machte. Man gibt, was man kann, lautete Kolotzkes Devise immer, und das galt für ihn genauso wie für Hedwig, die das Einzige hergab, was ihr nach der Flucht noch gehörte. Peters Zeugung sorgte für wochenlanges Jucken unter dem Rock und kam auch nur zustande, um die ausstehenden Monatsmieten auszugleichen.
»Heedia, der schmeißt uns raus«, hatte die Mutter mit Blick auf den wachsenden Bauch ihrer Tochter gesagt, und als er sich nicht mehr verstecken ließ, setzten Kolotzkes Hände Hedwig tatsächlich vor die Tür. Trotzdem dankte Hedwig Herrn Kolotzke auch später noch, sie von dem Fluch befreit zu haben, eine kinderlose Scharteke zu sein. Die kränkliche Mutter durfte in Dergenthin bleiben und verstarb, bald nachdem Hedwig die Elbe überquert und in Goldbeck eine Stellung als Kinderfrau angenommen hatte.
»Lässt man die Kriege beiseite, war es eine karge, aber schöne Zeit«, sagte Frau Pahl einmal mit Blick auf den Windelbeutel an ihrem Bett und seufzte dann: »Es ist schon komisch, nicht zu wissen, wie lange man es noch macht.«
»Wenn man sich noch an Storchenbraten zu Mittag erinnern kann, dann wird es Zeit, für andere Platz zu machen«, erwiderte Hedwig und ließ sich zurück in die traumlose Versenkung fallen.
Die Krankenschwester packte die Tasche auf eine Art, die Hedwig vor Augen hielt, dass die Zeit großer Reisen vorbei war. Auf dem Boden landete die Kleidung, die sie nicht mehr tragen würde, darüber schichtete sie alle wichtigen Papiere, obenauf zwei Nachthemden.
»Im Hospiz gibt es eine kleine Kapelle. Da können Sie in Ruhe beten und einmal die Woche kommt ein örtlicher Pfarrer. Mit dem können Sie plaudern und Ihre Wünsche besprechen.«
Hedwig wusste, dass damit ihre Bestattung gemeint war.
»Kommt meine Enkelin heute noch mal?«, fragte Hedwig.
Die Krankenschwester überlegte kurz.
»Wenn Sie das Mädchen und ihren Vater meinen – die waren gestern da. Durch die Medikamente haben Sie das sicher nicht mitgekriegt.«
»Doch, doch. Das ist meine Enkelin, aber wir sprechen nicht davon.«
Die Schwester maß vorsichtshalber ihren Blutdruck.
»Hat sie das öfter?«, fragte die Schwester Frau Pahl, die mit dem Kopf schüttelte, aber »Ja« meinte.
»Außerdem brauche ich keinen Pfarrer, mein Sohn ist selbst einer.«
Die Manschette zog sich zu.
»142 zu 89. Das ist noch in Ordnung, aber muss man im Auge behalten.«
Hedwig hatte alle großen Chancen im Sozialismus gesehen, Peter in der Bibel. Dass sich ihr Sohn einem strengen und ungerechten Herrgott zuwendete, schob Hedwig auf den Vater, den sie ihm ein Leben lang vorenthalten hatte. Als Kind fragte Peter oft nach seinem Vater und wollte immer wieder die Geschichte des Mannes mit den rostigen Haaren hören, der kurz nach seiner Geburt auf einer Forschungsreise im Ural verunglückt war. Hedwig brachte es nicht übers Herz, ihm von Herrn Kolotzkes gierigen Händen zu erzählen. Sie wollte ihrem Sohn einen Helden schenken, einen belesenen, weitgereisten Heimatforscher und keinen Gänsestopfer, der im Rotzkeller Mietschulden eintrieb. Der fehlende Vater trieb den Sohn nicht nur in die Arme eines noch viel größeren Helden, er verhinderte auch, dass Peter selbst einer sein wollte. Sein mangelndes Interesse für Mädchen hatte Hedwig ihm nie zum Vorwurf gemacht, anders als andere Mütter der Nachbarschaft, die in einem alleinstehenden Sohn etwas Skandalöses sahen. Ihr kam sogar der Verdacht, dass Peter es mehr mit den Männern hatte, aber sie konnte ihm nichts nachweisen. Er steckte seine Kraft nicht in die Gründung einer Familie, sondern in die Bedürfnisse der Gemeinde. Das ging so lange, bis er sich der misshandelten Frau annahm, die zu ihrer Schwester in das Fischerhaus zog. Er führte sie ins Café aus und besorgte ihr die Stelle in der Friedhofsgärtnerei, aber die entscheidende Frage schien er ihr nicht zu stellen. Hedwig sah zu, wie Waltraut schwanger wurde und statt ihres Sohns den Brigadisten aus dem Werk heiratete, der früher einer ihrer schlechtesten Schüler gewesen war. Sie schwor darauf, dass die Frau ihren Enkel unter der Brust trug, aber ließ die Angelegenheit unkommentiert, weil es in der Kirche sonst nur Gerede gegeben hätte. Das schien ihrem Sohn am meisten Sorgen zu bereiten.
»Einer muss sie ja ehrbar machen«, hatte Peter am Hochzeitstag nur gesagt und sich dann heimlich weiter mit ihr getroffen. Er verlor kein Wort über das Kind, das nicht nur die Haare von Herrn Kolotzke besaß, sondern auch dessen schwungvolle Ohren. Hedwig konnte Geheimnisse so hüten, wie sie das Wetter voraussagen konnte, und weil Peter mit einem unterschlagenen Vater hatte aufwachsen müssen, beschwerte sie sich nicht, mit einem unterschlagenen Enkel alt zu werden.
Peters Sympathie für Gemeindemitglieder, die sich auf Abwegen befanden, war kein Geheimnis, das gehütet werden musste. Er schloss die Kirche für Bankschläfer und andere Nutznießer auf und jeden zweiten Freitag im Monat für Leute, die den Mehrwert des Sozialismus nicht verstanden hatten. Da waren Familien, die sich vom System zerschlagen fühlten und Kontakte nach drüben knüpfen wollten. Andere beklagten Verwandte, denen das gelungen war und die seitdem unauffindbar blieben. Hedwig nannte es die Meckerrunde, in der Dinge ausgeheckt wurden, mit denen man lieber nichts zu tun hatte. Sie hätte weggesehen, wenn der Schuldirektor nicht immer wieder auf sie zugekommen wäre, um sich nach Peter zu erkundigen. Der Junge sei schon immer ein Kummerkasten gewesen, und jetzt sei das eben eine Berufskrankheit geworden. Mehr hatte sie nicht gesagt, auch wenn Peter etwas anderes behauptete. Er warf ihr vor, dass die Meckerrunde ihretwegen untergraben worden war, aber von dem Plan, den Transporter der Gärtnerei zu präparieren, hatte sie nichts gewusst. Nachdem Peter eingefahren und Waltraut verschwunden war, fragten die Kasernenbewohner Hedwig nur noch nach den Wetteraussichten, alles andere ging eine Verräterin nichts an. Mit argwöhnischen Nachbarn konnte sie umgehen, auch mit einem enttäuschten Sohn, aber nicht mit einer Enkelin, der die Mutter unterschlagen wurde. Manche Geheimnisse sollte man lieber mit ins Grab nehmen, hatte sich Hedwig oft gesagt, wenn Pilly ihr im Garten half und sie an Herrn Kolotzke denken musste. Und so unternahm sie auch nichts, als kurz nach der Wende eine Karte mit Uelzener Poststempel bei ihr ankam, die die Lüneburger Bachkirche zeigte. Auf der Rückseite stand:
Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten.
(Psalmen 103:9)
Hedwigs letzter großer Tag erreichte seinen Höhepunkt im Griff eines Pflegers, der sie auf den Sitz eines Krankentransporters hob. Er roch nach einem Mann, der nach der Arbeit noch etwas vorhatte.
»Sie sind der Einzige, der mich noch auf Händen trägt.«
»Das soll auch so bleiben«, witzelte der Pfleger, ohne sie anzusehen. Er musste schon Dutzenden anderen Frauen etwas Ähnliches entgegnet haben, die ihrer Angst vor dem Sterben mit Humor begegneten.
Er zurrte an den Gurten. »Zu fest?«
»Das geht gut, danke. Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«
»Heute ist der 26. August.«
»Ich meinte eigentlich den Wochentag.«
»Mittwoch.«
Hedwig rechnete. Es könne jetzt schnell gehen oder sich eine Weile hinziehen, hatte der behandelnde Arzt vor knapp zwei Wochen diagnostiziert und den Rest Peters Gott überlassen. Er hatte auf die unmissverständlichen Stellen der Röntgenbilder gezeigt. Hedwig wollte nicht wissen, an welchen Punkten sich ihr Körper zerlegte, und fand es eigenartig, dass jemand studieren musste, um Patienten mitzuteilen, dass etwas schnell oder langsam gehen konnte. Sie wusste nicht, ob ein paar Tage als schnell galten oder zwei Wochen als langsam. Als sich der Krankentransport in Bewegung setzte, fasste Hedwig den Entschluss, dass das einzige Gesetz, auf das man sich verlassen durfte, das der reinen Willkür war.
Kein Zufall war jedoch, dass ihr letzter großer Tag in die fünfte Jahreszeit fiel. Sie war ihr von allen immer die unliebste gewesen. Der Sommer war nicht mehr als eine Behauptung und hatte die Enddiagnose erhalten. Es konnte jetzt schnell gehen oder noch eine Weile dauern. Der Garten wurde zur Röntgenaufnahme, an der man den Verfall des Jahres ablesen konnte. Man konnte die schwachen Stellen erkennen, an denen der Herbst sich zuerst ausbreiten würde, um dann zu streuen. Die fünfte Jahreszeit gaukelte einem die Endlosigkeit des Sommers vor, doch nachts fielen die Temperaturen. Am sichersten konnte man es an den Vögeln erkennen. Erst nahm die Flughöhe der Mehlschwalben ab, dann fielen den Amseln die Federn aus. Sie verstummten, und die zerzausten Tiere schafften es im Flug noch gerade so aufs offene Feld oder in die Baumspitzen zwischen das vergessene Obst. Hedwig kochte immer dann ihre Marmeladen, wenn sie die Stille der erschöpften Mütter zwischen den Zweigen nicht mehr ertragen konnte.