26

Waltraut war keine Schlechtwetterfrau mehr, dachte Martin, als sich ihr Schlüssel wie früher im Zylinder verhakte und sie kurz darauf im Sommerkleid hinter ihm stand. Weder hatte es am Tag ihrer Ankunft geregnet noch an irgendeinem anderen danach. Sie sah ihm beim Reden in die Augen und nicht mehr an ihm vorbei. Die Zutaten in ihrem Einkaufsbeutel ließen nicht auf ein Gericht schließen, hinter dem sie sich beim Kochen wie früher verstecken wollte. Martin deutete das als gute Vorzeichen, und er hätte alles dafür getan, damit sie sich einlösten. Er war fest davon überzeugt, dass sich jemand wie Waltraut bei der Heimkehr besonders willkommen fühlte, wenn alles so aussah wie immer. Das in die Ehe Gebrachte stand an den richtigen Stellen, er hatte die Vorhänge bei Brunig waschen und mangeln lassen und sie in der Mitte so festgebunden, wie Waltraut es hübsch fand. Am Morgen hatte er den Kuckuck absichtlich nicht aufgezogen und sich zweimal rasiert.

»Ich brauche eine Zigarette«, stöhnte Waltraut und suchte die Küche nach einer Schachtel oder nach Veränderungen ab. Sie stellte den Beutel vor sich auf den Tisch und setzte sich auf ihren alten Platz am Fenster. Die Schatten der Platane kamen Martin zuvor und umarmten sie zur Begrüßung. Er schloss den Schnapsschrank auf, in dem nur noch die Packung F6 lag, die er Pilly abgenommen hatte.

»Ich dachte, du rauchst nicht mehr.«

»Nur, wenn ich sie im Nachttisch unserer Tochter finde.«

Martin steckte sich zwei Zigaretten zwischen die Lippen und zündete sie am Toaster an. Sie saßen schweigend voreinander und stießen den Rauch abwechselnd gegen die Decke, als schwebte über ihren Köpfen etwas Bedrohliches, das auf keinen Fall zu ihnen herabsinken durfte. Kurz befürchtete Martin, sie hätten sich nichts mehr zu sagen.

»Alles wie immer hier«, sagte Waltraut und bog ihren Oberkörper zur Küchentür, durch die der Blick auf den Flur und den Kuckuck im Wohnzimmer fiel. »Wo ist Pilly?«

»Im Eisenbahnzimmer. Ich bekomme sie nicht mehr von den Schienen los.«

Auf der Wache war ausgerechnet Brandkommissar Harnisch beauftragt worden, Pilly und ihre Freundin an die Eltern zu übergeben. Die anderen Kollegen waren in der Kaffeepause. Martin trat in sein Büro und fühlte sich ähnlich klein wie an dem Tag, an dem er auf demselben Stuhl wie jetzt Pilly gesessen hatte und zu den Vorgängen in der Kolonie hatte aussagen müssen. Die Vietnamesen, die beiden Mädchen, sie hätten Glück gehabt und seien erstversorgt worden, nur die Ursachenforschung stehe noch aus. Auf Pillys Stirn klebte ein viereckiges Pflaster. Anders als ihre Freundin weinte sie erst, als auf dem Heimweg die Spitze des Wachturms über den Sträuchern des Haselecks am Anfang der Elbpromenade auftauchte.

»Das ist alles meine Schuld.«

»Wir wissen doch gar nicht, was passiert ist. Vielleicht sitzt sie längst auf der Wache und wartet auf ihren Vater.« Martin trat auf der Stelle.

»Wenn sie nicht aufs Dach geklettert wäre, dann hätte sie jetzt auch nur ein Pflaster.« Pilly drückte mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn und zog ihn wieder weg, als hätte sie eine heiße Herdplatte berührt.

»Du kannst nichts dafür, dass sie unbedingt aufs Dach wollte.«

»Ich habe ihr aber gesagt, wo der Zug langsamer wird.«

»Das ist bestimmt nur ein harmloser Streich.«

Martin griff nach den Schultern seiner Tochter und hockte sich vor sie auf die Steine. Er war nicht gut in solchen Gesprächen. Im Blick des Brandkommissars hatte etwas Schweres gelegen, und Martin hatte sofort gewusst, dass das Mädchen längst geborgen worden war.

Den Rest des Wegs nahm er Pilly an die Hand wie früher, wenn er mit ihr zu den Eichen spaziert war, weil sonst nichts half. Zu Hause beugte sie sich sofort über die Schienen der Reichsbahn und suchte nach dem Fehler im Gleisplan, doch auch Martin konnte sich die Rechtskurve nicht erklären, die der Zug an der beschriebenen Stelle genommen hatte. Er kannte die Streckennetze der Altmärker Haupt- und Nebenbahnen auswendig. Mit den Gebietsreformen war alles, sogar die Bahn im ehemaligen Bezirk Magdeburg, unberechenbar geworden.

Pilly suchte im Karton mit der Aufschrift Dieselhydraulik nach dem richtigen Modell.

»Guck mal nach DR 171/172. Das ist der Nachfolger der VT 2.09. Die Reihe kam aus dem Bautzener Werk.« Martin wusste nicht, was er sonst sagen sollte. »Der wurde später dann im Waggonbau Görlitz produziert. Seit Januar heißen die 771 und 772.«

»Kannst du einfach mitsuchen?«

Er atmete zweimal tief durch und versuchte sich zu akklimatisieren. »Da ist er doch schon.« Er stellte den Schienenbus auf den richtigen Modellabschnitt und wollte sich nicht vorstellen, wie Bergmanns Tochter von dessen Dach gestürzt war.

»Es gibt eine alte Strecke, die am Schuttkontor vorbeiläuft.«

»Wir sind an den Hallen vorbeigefahren!«

»Die ist aber eigentlich seit Jahren nicht mehr in Betrieb.«

Pilly rupfte die Schienen am linken Ende des Modellbretts zwischen Salzwedel und Oebisfelde auseinander und versuchte, die Teile an der Ostseite des Orts zu verlegen.

»Ich brauche ein Kurventeil. Schnell!«

Martin knirschte mit den Zähnen und pflückte eins aus der Schleife der Harzer Schmalspurbahn.

»Das passt nicht! Das passt alles überhaupt nicht zusammen!«, schrie Pilly und trat zu. Sie stampfte den gesamten Ort in den Erdboden. Die Kasernen stürzten in sich zusammen, und vor ihnen knickten die Straßenlaternen auf halber Höhe ab, ließen ihre Köpfe wie vom Blitz getroffene Bäume hängen. Das Hauptgebäude des Betonwerks bekam die Risse, die es inzwischen ohnehin besaß, Krämerbrücke, Zwinger und Völkerschlachtdenkmal flogen hoch in den Schweriner Bezirk. Pilly zerlegte die Reichsbahn ab Erfurt so weit nach Norden, dass nur der Rasende Roland seinen alten Fahrplan beibehalten konnte.

»Die Kleine kommt nächste Woche unter die Erde«, sagte Waltraut, lüftete die Küche und kippte zwei Konserven Ravioli in einen Topf. »Einen schönen Grabstein hat er sich ausgesucht. Sieht fast so aus wie dein Greppiner Klinker.«

Martin freute sich, dass sie sich daran erinnerte, wie gerne er die gelben Ziegelsteine am Magdeburger Hauptbahnhof hatte. Über zwei Wochen war er Bildaufnahmen durchgegangen, um sie seinem Modell originalgetreu aufzupinseln. Er wollte nicht über die Beerdigung reden, sondern Antworten auf die Fragen, die er sich immer wieder neu zurechtgelegt hatte, doch wie früher fehlten ihm in Waltrauts Gegenwart die Worte. Sie ließen sich nicht zu sinnvollen Sätzen verbinden oder zu Fragen zusammensetzen. Martins Mutter hatte immer mit Quacksalberweisheiten um sich geworfen, um seine Ehe zu flicken. Gib der Frau nicht zu viel Zucker, nimm ihr hin und wieder die Butter vom Brot, und wirf auf keinen Fall das Handtuch. Kurz vor seiner Hochzeit riet sie ihm, den Ochsen nicht hinter den Pflug zu spannen, und kurz vor Pillys Geburt, nicht derjenige zu sein, der mit dem Klammerbeutel gepudert ist. In ihrer Welt setzten sich Männer durch und ließen sich von ihren Frauen nicht mehr als nötig gefallen. Das stand im völligen Gegensatz zu der Ratgebersendung im Dritten, die Martin sich nur ansah, wenn er zufällig während ihrer Sendezeit aufwachte. Dort hatte einmal ein Experte behauptet, dass die moderne Frau sich bei der Partnerwahl für Männer entscheidet, die Gefühle zeigen und aussprechen können. Aber weil Martin den neuen Kanälen im Fernsehen so wenig traute wie früher seiner Mutter, saß er schweigend am Tisch wie immer, bewunderte Waltrauts perfekt geratene Beine, die in einen perfekt geratenen Rücken übergingen, und hoffte, die sinnvollen Sätze setzten sich von selbst zusammen. Waltraut würde heute nicht über die Aussichten dieser Ehe sprechen, sondern irgendwann damit rausrücken, dass sie das Kind mitnehmen möchte, und dann würde sie die Rahmenbedingungen verhandeln, schließlich die Scheidung. Martin beschloss, es wie der Kommissar in seiner Vorabendserie zu machen. Der kam immer zu seinen Antworten, ganz ohne Fragen zu stellen.

»Dem Kind hat eine Mutter gefehlt.« Er überließ Waltraut, ob sie die Aussage auf das verunglückte Kind vom Bergmann oder auf ihre Tochter beziehen wollte. Sie legte den Kochlöffel in die Spüle, zündete sich eine zweite Zigarette am Toaster an und setzte sich zurück auf ihren Platz am Fenster.

»Martin, ich weiß, worauf du hinauswillst. Tu’s nicht.« Sie inhalierte den Rauch durch die Zähne. »Ich bin damals nicht wegen, sondern für Pilly weggegangen. Das versteht ihr nur alle nicht.«

»Und du verstehst nicht, dass es uns nie um das Warum ging.«

Waltraut vernebelte die Zimmerdecke und fragte in den Rauch: »Bist du noch bei mir? Weil, wenn nicht, kann ich auch wieder gehen.«

Martin nickte und erwiderte: »Für dich ist alles neu, aber wir hier sind noch dieselben. Das musst du auch mal begreifen.«

Wie früher, wenn er mit Waltraut unter dem Juwel-Regenschirm im Platzregen spaziert war, reichte sie ihm die zweite Zigarettenhälfte und schwieg sich aus.

Als sich die Zweifel seiner Mutter auch in ihm verfestigt hatten und dadurch der Inhalt des Laternenkoffers immer weiter angewachsen war, hatte Martin an jedem zweiten Freitag im Monat vor Schichtbeginn einen Umweg über den Friedhof gemacht und hinter dem Gewächshaus der Gärtnerei gestanden. Er beobachtete Waltraut, die hinter den beschlagenen Scheiben die Trittflächen zwischen den Pflanztischen fegte und die Belüftungsfenster prüfte, bevor sie Richtung Kirchhof über den Staketenzaun des Rohlinglagers vom Steinmetz kletterte. Ihre Schritte klangen immer etwas zu fest. Immer etwas zu entschlossen. Martin war es nie darum gegangen, Ordnung bei den Fuchsschwestern herzustellen. Ihn interessierten die Anweisungen der höheren Werketage nicht und auch nicht das Programm der Kirchengruppe, die vom halben Ort ins Lächerliche gezogen wurde. Er wollte Waltrauts Gang entschlüsseln und ihrem Kuchenblick auf den Grund gehen. An einem viel zu langen Stammtischabend hatte er sich Schrauben-Hiller anvertraut, der sich mit komplizierten Frauen am besten auskannte. Um sicherzugehen, müsse man Stichproben nehmen, meinte der. Die Qualitätskontrolle einer Ehe unterscheide sich nicht von der einer Farblieferung.

»Mindestens vier Eimer, Martin«, hatte Hiller gelallt. »Man darf nie nur einen Eimer pro Palette öffnen.«

Martin brauchte eine Weile, bis er verstand, was damit gemeint war, und stellte ihr danach nicht mehr nur an den Kirchenfreitagen nach, sondern auch an den Dienstagen, an denen sie sich mit Frau Bandau bei Riesels zum Mokka traf. Er machte sich Notizen, wann welche Dinge in den Transporter geräumt wurden und an welchen Tagen sie in die Kantine zu ihrer Schwester fuhr. Die grellen Nachtschichten dehnten sich ins Unerträgliche, weil er sich tagsüber verausgabte, anstatt wie seine Kollegen vorzuschlafen. Einmal nickte er am Band kurz ein und wachte gerade rechtzeitig auf, bevor es ihn unter die Stanzen zog. Doch der Laternenkoffer enthielt trotzdem keine Hinweise auf die Gründe für Waltrauts Kuchenblick oder ihren entschlossenen Gang. Er brachte in Erfahrung, dass sie ihren Mokka mit Kondenssahne trank und immer dann in die Kantine ging, wenn Eli frischen Fisch anlieferte. Tagsüber schob sie Mittagsblumen oder Kranzrohlinge aus Weide und Clematis in den Wagen, die Orchideen für den Handel unter der Tischkante verließen das Gewächshaus erst nach Einbruch der Dunkelheit. Betrat Waltraut ein Gebäude, war Martin davon überzeugt, sie würde es im nächsten Moment mit dem Mann verlassen, für den sie ihre Reisetasche packte, doch jedes Mal kam sie allein wieder heraus. Selbst Schrauben-Hiller war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob es diesen Mann außerhalb von Martins Fantasie überhaupt gab. Schnaps mache paranoid, hatte er gesagt und dreimal nachgeschenkt. In seiner letzten Notiz schrieb Martin, dass Zielperson W. J. die Beteiligung an in Verbindung mit der Kirchengemeinde stehenden Konspirationstreffen nicht nachzuweisen sei. Lediglich die zweckentfremdete Nutzung der Räumlichkeiten für die Aufzucht von Grabfloristik in der Straße des Aufbaus 4–​6 könne als gesichert gelten. Nach Waltrauts letztem Abschied hatte Martin einen Umschlag fertig gemacht und war durch einen scharfen Novemberwind ins Werk gelaufen. Er warf ihn ins Postfach des Genossen, und die Bögen trafen stumpf auf Metall, wie seine Steine die Flanken des Nachbarhundes.

Als Waltraut nach dem Essen durch die Wohnung wanderte, beobachtete Martin, wie sie nicht nach Dingen Ausschau hielt, die sich in ihrer Abwesenheit verändert hatten oder gleich geblieben waren. Sie sprach auch nicht von Scheidung und erläuterte auch nur kurz die Rahmenbedingungen, sollte sich Pilly dazu entschließen, mit ihr mitzugehen. Er versuchte die Worte Umzug, Besuchsrecht und Unterhalt in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, während Waltraut den erfreulichen Zustand der Vorhänge und das Arrangement der Efeututen im Bücherregal kommentierte, das er in der neuen Kaufhalle in einer Illustrierten gesehen hatte. Ihre Hände griffen etwas zu entschlossen nach den Dingen, die sie nicht in der Ehe zurücklassen wollte. Sie riss ihre Bücher wie Pflaster aus den Fächern, und Martin atmete tief durch. Er versuchte, sich nicht an den Lücken zu stoßen, die sie in den nach Größe und Farbe sortierten Reihen hinterließ, und schaltete den Fernseher ein.

Auf einem der neuen Sender lief die Wiederholung seines Vorabendkrimis. »Schauen Sie in den Spiegel, und dann haben Sie Ihren Beweis«, raunte der Kommissar dem Täter zu. Waltraut verteilte die Dinge auf dem Boden der Kiste, die Martin vor Tagen so sorgfältig ausgeräumt hatte, und er erschrak, wie viel Platz darin noch war. Ein weiteres Leben hätte in den Karton gepasst, ein neues, das man nicht anfangen wollte, dachte er.

»Kannst du dir das vorstellen? Mir passt keine der Blusen mehr!«, rief Waltraut aus dem Schlafzimmer, und Martin rief zurück, dass sich das gut treffe, weil für die Vietnamesen vor allem Kleiderspenden dringend benötigt würden.