Sonny streckte sich auf dem Bett aus, die Hände im Nacken gefaltet und die Beine übereinandergelegt. Durch die offene Zimmertür konnte er in die Küche hinüberschauen, wo an der Wand über einer Badewanne mit Klauenfüßen eine Uhr hing. Tom hatte die Einrichtung des Apartments sparsam genannt, und dieses Wort ging Sonny im Kopf herum, während er darauf wartete, dass die Minuten bis Mitternacht verstrichen. In der Mitte des Ziffernblattes standen, in derselben schwarzen Druckschrift wie die Ziffern selbst, die Worte Smith & Day. Der Minutenzeiger machte alle sechzig Sekunden einen kleinen Satz, und der Stundenzeiger kroch immer weiter auf die Zwölf zu. Sparsam bedeutete so viel wie »kaum Möbel und nur spärlich eingerichtet«. Das traf es gut. Eine billige Kommode, die zur Wohnung gehörte, war das einzige andere Möbelstück im ganzen Zimmer. In der Küche standen zwei weiße Stühle und ein Tisch mit einer Schublade, die weiße Platte einbrennlackiert und rot gefasst. Auch der Griff der Schublade war rot. Sparsam … Mehr brauchte er nicht. Seine Mutter kümmerte sich um seine Wäsche, er badete zu Hause (er betrachtete die Wohnung seiner Eltern noch immer als sein Zuhause), und er nahm nie irgendwelche Mädchen mit hierher, sondern ging lieber zu ihnen oder schob eine schnelle Nummer auf der Rückbank des Wagens.
Ihm blieben noch fünf Minuten, bevor er aufbrechen musste. Er ging ins Bad und musterte sich im Spiegel des Arzneischränkchens. Er trug ein dunkles Hemd, schwarze Chinos und schwarze Nat-Holman-Turnschuhe. Fast schon eine Uniform. Er hatte entschieden, dass sie, wenn sie ein Ding drehten, alle das Gleiche anziehen sollten. Das erschwerte es, sie voneinander zu unterscheiden. Dabei mochte er Turnschuhe gar nicht. Er fand, dass sie damit noch mehr wie kleine Jungs aussahen, und das konnten sie nun überhaupt nicht gebrauchen, denn der Älteste von ihnen war achtzehn. Cork war jedoch der Meinung, dass sie in Turnschuhen schneller laufen konnten, und so trugen sie eben Turnschuhe. Cork war eins siebzig groß und brachte etwa sechzig Kilo auf die Waage, aber es gab keinen, der sich mit ihm anlegen wollte, auch Sonny nicht. Er war unerbittlich, und Sonny hatte selbst miterlebt, wie er einen Typen mit einem harten rechten Haken bewusstlos geschlagen hatte. Außerdem war er verdammt klug. In seiner ganzen Wohnung standen Kisten voller Bücher herum. Er war schon immer so gewesen, eine Leseratte, seit sie zusammen in die Grundschule gegangen waren.
Sonny nahm eine dunkelblaue Jacke von einem Haken an der Wohnungstür. Er schlüpfte hinein, fischte eine Wollmütze aus der Tasche und zog sie sich über seinen dichten Haarschopf. Als er noch einmal einen Blick auf die Uhr warf, war es genau Mitternacht. Rasch trabte er die Treppe zur Mott Street hinunter. Ein Dreiviertelmond spähte durch ein Loch in der Wolkendecke und tauchte die Mietskasernen mit ihren Backsteinfassaden und schwarzen Feuertreppen in blasses Licht. Sämtliche Fenster waren dunkel, und es sah nach Regen aus. An der Ecke Mott und Grand warf eine Laterne einen Lichtkreis auf das Pflaster. Sonny ging darauf zu, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass er auf der Straße alleine war, schlüpfte er in das Gewirr von Gassen und folgte ihnen über die Mulberry zur Baxter, wo Cork hinter dem Steuer eines schwarzen Nash mit aufgesetzten Scheinwerfern und breitem Trittbrett auf ihn wartete.
Sobald Sonny neben ihn auf den Vordersitz gerutscht war, fuhr Cork langsam los. »Sonny Corleone«, sagte er und sprach Sonnys Nachnamen wie ein muttersprachlicher Italiener aus, was ihm offenbar großen Spaß machte. »Was für ein scheißlangweiliger Tag. Wie lief’s bei dir?« Er war genauso angezogen wie Sonny, wobei seine Mütze seine blonden Locken nur unzureichend bedeckte.
»Genauso«, sagte Sonny. »Bist du nervös?«
»Ein wenig«, erwiderte Cork. »Aber das müssen die anderen nicht wissen, okay?«
»Für wen hältst du mich?« Sonny versetzte Cork einen Schubs und deutete dann die Straße hinauf zur nächsten Ecke, wo die Romeros – Vinnie und Angelo – auf der untersten Stufe einer Treppe auf sie warteten.
Cork fuhr rechts ran und gab sofort wieder Gas, kaum waren die beiden Jungs hinten reingesprungen. Vinnie und Angelo waren Zwillinge, und Sonny musste sehr genau hinschauen, um sie auseinanderzuhalten. Vinnie trug sein Haar ganz kurz geschnitten und sah dadurch männlicher aus, während Angelo es sich stets zu einem Scheitel kämmte. Jetzt hatten sie Mützen auf, und Sonny erkannte Angelo nur an den wenigen Strähnen, die ihm in die Stirn fielen.
»Himmel«, sagte Cork und schaute in den Rückspiegel. »Ich kenn euch Vögel jetzt schon mein Leben lang, aber wenn ihr so angezogen seid, hab ich keine Ahnung, wer wer ist.«
Vinnie sagte: »Ich bin der Klügere«, und Angelo sagte: »Ich seh besser aus«, dann lachten beide. »Hat Nico die Knarren bekommen?«, fragte Vinnie.
»Ja.« Sonny nahm seine Mütze ab, strich sich das Haar glatt und mühte sich dann, sie wieder ordentlich darüberzuziehen. »Haben uns einen Haufen Moos gekostet.«
»Sie sind’s wert«, meinte Vinnie.
»Hey, du bist an der Gasse vorbeigefahren!« Sonny hatte nach hinten geschaut. Jetzt wandte er sich zu Cork um und schubste ihn.
»Wo?«, fragte Cork. »Und hör mit der Schubserei auf, du Schafskopf!«
»Vor der Wäscherei.« Sonny deutete auf die Schaufensterscheibe von Chick’s Laundry. »Bist du blind?«
»Von wegen blind«, erwiderte Cork. »Ich war abgelenkt.«
»Stugots’!« Sonny schubste Cork erneut, und beide mussten lachen.
Cork drückte den Schalthebel nach hinten und fuhr rückwärts in die Gasse. Dann drehte er Motor und Scheinwerfer aus.
»Verdammte Scheiße, wo stecken die nur?«, sagte Angelo, doch in dem Augenblick öffnete sich eine verzogene Tür, die auf die Gasse hinausging, und Nico Angelopoulos trat zwischen übervollen Mülleimern auf das von Abfällen übersäte Pflaster, Stevie Dwyer dicht hinter ihm. Nico war etwas kleiner als Sonny und trotzdem größer als alle anderen. Er war dünn und hatte den sehnigen Körper eines Läufers. »Little« Stevie dagegen war klein und stämmig. Beide schleppten sie schwarze Seesäcke, die sie sich über die Schulter geworfen hatten. Ihnen war anzusehen, dass die Taschen ziemlich schwer waren.
Nico stieg vorne ein. »Wartet nur, bis ihr diese Dinger seht.«
Stevie hatte seine Tasche auf dem Boden des Wagens abgestellt und war bereits damit beschäftigt, sie zu öffnen. »Beten wir, dass diese MPs kein Haufen Schrott sind.«
»Ein Haufen Schrott?«, entgegnete Cork.
»Wir haben sie nicht getestet. Ich hab diesem dämlichen Griechen gesagt …«
»Ach, halt die Klappe«, fuhr Nico Stevie an. Zu Sonny sagte er: »Was hätten wir denn tun sollen – in meinem Zimmer herumballern, während die Leutchen unter uns Arthur Godfrey zuhören?«
»Da wären wohl ein paar Nachbarn wach geworden«, sagte Vinnie.
»Hoffentlich sind die kein Ausschuss«, sagte Stevie. »Sonst können wir sie uns gleich in den Hintern stecken.«
»Das ist ungefähr so komisch wie ein brennendes Waisenhaus«, brummte Cork.
»Es sollte nicht komisch sein«, erwiderte Stevie.
Nico zog eine der Knarren aus seinem Seesack und reichte sie Sonny, der die Maschinenpistole am Schaft hielt und dann die Hand um den auf Hochglanz polierten Holzgriff legte, der sich unten am Lauf befand. Der Griff hatte Vertiefungen für die Finger, und das Holz fühlte sich warm und fest an. Das runde schwarze Magazin in der Mitte der Waffe, ein paar Zentimeter vor dem Abzugsbügel, erinnerte Sonny an eine Filmdose. »Hast du die von Vinnie Suits in Brooklyn?«, fragte er Nico.
»Ja, klar. Wie du gesagt hast.« Die Frage schien Nico zu überraschen.
Sonny wandte sich zu Little Stevie um. »Dann ist das kein Ausschuss«, sagte er. Und zu Nico: »Meinen Namen habt ihr nicht erwähnt, oder?«
»Heilige Scheiße«, sagte Nico. »Hab ich mich plötzlich in ein Rindvieh verwandelt? Niemand hat deinen Namen erwähnt oder sonst was in der Richtung.«
»Wenn mein Name irgendwem rausrutscht«, sagte Sonny, »sind wir erledigt.«
»Ja, ja, ja.« Cork ließ den Wagen an und fuhr aus der Gasse hinaus. »Steckt die Dinger weg, sonst bekommen wir noch Ärger mit den Bullen.«
Sonny ließ die MP in dem Seesack verschwinden. »Wie viele Magazine haben wir?«
»Jeweils zwei pro Knarre«, sagte Nico.
»Ihr Flaschen kommt damit klar?«, fragte Sonny die Zwillinge.
»Ich weiß, wie man abdrückt«, sagte Angelo.
»Klar. Wieso nicht?«, pflichtete ihm Vinnie bei.
»Na, dann mal los.« Sonny stupste Cork an. Der Nash wurde schneller, und Sonny beugte sich nach hinten. »Wie gehabt. Es kommt drauf an, möglichst schnell zu sein und möglichst viel Lärm zu machen, damit sie nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. Wir warten, bis der Laster beladen ist. Ein Wagen wird vorausfahren, einer hinterher. Sobald der vordere Wagen vorbei ist, setzt Cork vor den Laster. Vinnie und Angelo, ihr springt raus und ballert rum. Schießt möglichst hoch. Wir wollen niemand umbringen. Nico und ich nehmen uns das Führerhaus vor und kümmern uns um Fahrer und Beifahrer. Stevie behält das Heck des Lasters im Auge, falls da jemand ist.«
»Aber da ist doch bestimmt niemand, oder?«, fragte Stevie. »Als ihr die Sache ausbaldowert habt, ist doch hinten keiner mitgefahren, oder?«
»Nein, nur die Schnapskisten«, sagte Sonny. »Aber man weiß ja nie, also halt die Augen offen.«
Stevie nahm eine MP aus dem Seesack und wog sie in den Händen. »Das werde ich. Ehrlich gesagt hoffe ich sogar, dass da jemand hinten drin ist.«
»Steck das weg«, befahl ihm Cork. »Du wirst niemand eine Bleivergiftung verpassen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«
»Keine Sorge. Ich baller nur in die Luft.« Stevie grinste breit.
»Hör auf das, was Cork gesagt hat.« Sonny ließ seinen Blick eine Weile auf Stevie ruhen und fuhr dann fort, den Plan zu erklären. »Sobald wir den Laster haben, düsen wir die Gasse runter. Cork folgt uns, während Vinnie und Angelo weiter Radau machen.« Zu den Romeros sagte er: »Wenn sie versuchen, uns zu folgen, dann schießt auf die Reifen und den Motorblock.« Wieder an alle gewandt, fuhr er fort: »Die ganze Sache müsste in einer Minute vorbei sein. Rein und raus, und verdammt laut. Klar?«
»In Ordnung«, sagten die Romero-Brüder.
»Denkt daran«, sagte Sonny. »Die wissen nicht, was los ist. Wir schon. Die werden völlig verwirrt sein.«
»So verwirrt wie ein hungriger Säugling in einem Zimmer voller Stripperinnen«, sagte Cork. Als niemand lachte, murmelte er: »Herrgott! Wo ist denn euer Humor geblieben?«
»Konzentrier du dich aufs Fahren, Corcoran«, sagte Stevie.
»Herrgott«, sagte Cork noch einmal, und dann herrschte Schweigen.
Sonny nahm eine Maschinenpistole aus dem Seesack. Seit Wochen träumte er von dieser Nacht – seit er gehört hatte, wie Eddie Veltri und Fat Jimmy, zwei von Tessios Kumpanen, die Transaktion beiläufig erwähnt hatten. Viel hatten sie nicht gesagt, aber es reichte Sonny, um sich zusammenzureimen, dass es sich bei der Lieferung um kanadischen Whisky handelte, den sie am Kai von Canarsie abladen würden und der für Giuseppe Mariposa bestimmt war. Der Rest war einfach. Er hing zusammen mit Cork am Hafen herum, bis sie zwei Achtzylinder-Hudson entdeckten, die am Pier neben einem langen Ford-Kleinlastwagen parkten, dessen Ladefläche mit einer blauen Plane abgedeckt war. Ein paar Minuten später kamen zwei schnittige Schnellboote durch das Wasser gepflügt. Sie legten am Pier an, und ein halbes Dutzend Ganoven begann, Kisten von den Booten zum Laster zu schleppen. Zwanzig Minuten später war der Laster beladen, und die Boote rasten wieder davon. Mit den Bullen gab es keine Probleme. Mariposa hatte sie in der Tasche. Das war an einem Dienstagabend gewesen, und am nächsten Dienstag lief das Gleiche ab. Er und Cork schauten sich die Transaktion noch ein weiteres Mal an, und jetzt waren sie bereit. Unwahrscheinlich, dass sie irgendwelche Überraschungen erleben würden. Die Chancen standen gut, dass sich niemand zur Wehr setzen würde. Wer wollte schon wegen einer lumpigen Ladung Fusels sein Leben riskieren?
Als sie in Hafennähe waren, schaltete Cork die Scheinwerfer aus und fuhr wie geplant eine Gasse entlang. Er nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen weiterrollen, bis sie den Pier im Blick hatten. Der Lastwagen und die Hudsons parkten genau dort, wo sie auch in den letzten drei Wochen geparkt hatten. Sonny kurbelte sein Fenster herunter. Ein paar elegant gekleidete Typen lehnten am vorderen Kotflügel des Wagens, der ihnen am nächsten stand, rauchten und plauderten, zwischen sich einen Weißwandreifen mit Chromfelgen. Zwei weitere Gestalten saßen im Führerhaus des Fords. Dem Aussehen nach waren das Hafenarbeiter, sie trugen Wollmützen und Windjacken. Der Fahrer hatte sich, die Hände auf dem Lenkrad und den Kopf im Nacken, die Mütze über die Augen gezogen. Der Typ auf dem Beifahrersitz rauchte eine Zigarette und blickte auf das Wasser hinaus.
»Sieht so aus, als würden zwei Hafenarbeiter den Laster fahren«, sagte Sonny zu Cork.
»Gut für uns«, erwiderte Cork.
»Leichte Beute«, fügte Nico etwas nervös hinzu.
Stevie tat so, als würde er mit der MP herumballern, flüsterte »ratatat« und grinste. »Ich bin Baby Face Nelson.«
»Du meinst wohl Bonnie und Clyde«, entgegnete Cork. »Und du bist Bonnie.«
Die Romero-Brüder lachten. Vinnie deutete auf Angelo und sagte: »Er ist Pretty Boy Floyd.«
»Wer ist der hässlichste Gangster der Welt?«, fragte Angelo in die Runde.
»Machine Gun Kelly«, erwiderte Nico.
»Das bist du«, sagte Angelo zu seinem Bruder.
»Haltet die Klappe«, fuhr Cork sie an. »Habt ihr mich verstanden?«
Kurz darauf hörte Sonny das Brummen von Schnellbootmotoren.
»Das sind sie«, sagte Cork. »Jetzt geht’s los, Jungs.«
Sonny hielt seine MP umklammert, den Finger am Abzug, und versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen. »Che cazzo!«, sagte er schließlich und schob sie in den Seesack zurück. Dann zog er eine Pistole aus seinem Schulterholster und richtete sie auf das Dach.
»Gute Idee.« Cork holte eine Pistole aus der Jackentasche und legte sie neben sich auf den Sitz.
»Ist mir auch lieber.« Nico warf seine Maschinenpistole ebenfalls auf den Sitz und zog eine .38er aus einem Schulterholster. »Da kannst du ja gleich ein Kleinkind mit dir rumschleppen.«
Sonny schaute zu den Romeros nach hinten. »Kommt bloß nicht auf dumme Gedanken. Euch und die MPs brauchen wir.«
»Mir gefällt meine Schreibmaschine aus Chicago.« Stevie schob den Lauf durch das Fenster und tat so, als schieße er.
Am Kai stiegen vier Männer aus den Schnellbooten. Die beiden gutgekleideten Ganoven schlenderten hinüber und wechselten ein paar Worte mit ihnen. Einer von ihnen blieb am Rand des Piers stehen und überwachte, wie die Boote entladen wurden, während der andere neben dem Laster Stellung bezog. Zwanzig Minuten später schlossen die Hafenarbeiter die Heckklappe des Lasters und sicherten sie mit einer Kette, während die Schnellboote die Motoren anwarfen und auf die Jamaica Bay hinausglitten.
»Also los«, sagte Cork.
Als sich der vordere Wagen, dicht gefolgt von dem Ford und dem zweiten Hudson, in Bewegung setzte, ließ Cork den Motor aufheulen.
»Einen Moment noch«, sagte Sonny zu Cork. Und an die anderen gewandt: »Schnell und laut!«
Als der vordere Hudson um den Laster herumfuhr und sich an die Spitze des Konvois setzte, spiegelte sich das Licht seiner Scheinwerfer einen Augenblick lang im schwarzen Wasser unterhalb der Anlegestelle. Dann geschah alles, wie Sonny es geplant hatte, schnell und sehr laut. Cork trat aufs Gas, und der Nash machte einen Satz und kam vor dem Ford zum Stehen, während Vinnie, Angelo und Stevie aus dem Wagen sprangen und in den Himmel schossen. Gerade hatte noch völlige Stille geherrscht, und jetzt veranstalteten sie ein Feuerwerk wie am Nationalfeiertag. Sonny schwang sich auf das Trittbrett des Ford, riss die Tür auf und zerrte den Fahrer heraus. Bis er hinter dem Steuer saß, war Nico bereits auf den Beifahrersitz gerutscht und brüllte: »Los! Los! Los!« Falls jemand das Feuer erwiderte, bekam Sonny nichts davon mit. Der Fahrer des Ford hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und die Beine unter die Arme genommen. Hinter sich hörte Sonny eine MP knattern, wahrscheinlich Little Stevie. Aus den Augenwinkeln sah er jemanden ins Wasser hechten. Die Hinterreifen des Hudson, der vor ihnen angehalten hatte, waren zerschossen, und seine lange Motorhaube deutete leicht nach oben; seine Scheinwerfer waren auf die dunklen Wolken gerichtet. Angelo und Vinnie standen etwa fünf Meter voneinander entfernt breitbeinig da und drückten immer wieder den Abzug durch. Die MPs glichen wilden Tieren, die sich losreißen wollten. Sie tanzten einen Jig, und die Zwillinge tanzten mit ihnen. Irgendwie war der Ersatzreifen des vorderen Hudson von seinem Platz neben der Fahrertür abgefallen und rollte jetzt ziellos über den Kai. Der Fahrer war nirgends zu sehen, und Sonny vermutete, dass er unter dem Armaturenbrett kauerte. Bei der Vorstellung musste er laut lachen. Während er mit dem Laster in die Gasse einbog, warf er einen Blick in den Seitenspiegel und sah Vinnie und Angelo auf dem Trittbrett des Nash stehen. Mit der einen Hand hielten sie sich am Wagen fest, mit der anderen feuerten sie immer wieder über den Pier und auf die Bucht hinaus.
Sonny folgte der Route, die sie abgesprochen hatten, und nach wenigen Minuten befanden sie sich auf dem Rockaway Parkway. Dort herrschte nur leichter Verkehr, so dass Cork ihm problemlos folgen konnte. So weit, so gut. Die Schießerei hatten sie jedenfalls hinter sich. »Hast du gesehen, wie Stevie in den Laster gestiegen ist?«, fragte er Nico.
»Klar«, erwiderte Nico. »Und er hat ordentlich in der Gegend rumgeballert.«
»Sieht so aus, als hätte keiner einen Kratzer abbekommen.«
»Ganz nach deinem Plan«, sagte Nico.
Sonnys Herz schlug noch immer schnell, doch in Gedanken zählte er bereits das Geld. Die Ladefläche des Lasters war randvoll mit kanadischem Whisky. Plusminus dreitausend Dollar, schätzte er. Außerdem konnten sie noch den Laster verkaufen.
Nico schien seine Gedanken zu erraten. »Wie viel kriegen wir dafür, was meinst du?«
»Fünfhundert für jeden, hoffe ich«, sagte Sonny. »Kommt drauf an.«
Nico lachte. »Ich hab noch immer meinen Anteil von dem Überfall auf den Geldtransporter. Steckt in meiner Matratze.«
»Was’n los mit dir?«, fragte Sonny. »Findest du kein Mädchen, dem du das Geld hinterherwerfen kannst?«
»Da muss mir erst die Richtige über den Weg laufen.« Nico lachte über sich selbst und schwieg dann wieder.
Viele Mädchen sagten, Nico sehe aus wie Tyrone Power. Im letzten Jahr auf der Highschool hatte er etwas mit Gloria Sullivan am Laufen gehabt, aber dann hatten ihre Eltern ihr verboten, sich weiter mit ihm zu treffen, weil sie ihn für einen Italiener hielten. Vergeblich erklärte sie ihnen, dass er aus Griechenland stammte. Sie durfte ihn trotzdem nicht mehr sehen. Seither hielt sich Nico bei den Mädchen merklich zurück.
»Lass uns alle morgen Abend ins Juke’s Joint gehen und ordentlich auf die Pauke hauen«, schlug Sonny vor.
Nico lächelte, blieb ihm jedoch die Antwort schuldig.
Fast hätte Sonny Nico erzählt, dass er den größten Teil seiner Kohle von dem Überfall ebenfalls noch in seiner Matratze aufbewahrte. Die Sache mit dem Geldtransporter hatte ihnen über sieben Riesen eingebracht, etwas weniger als zwölfhundert für jeden – so viel, dass sie sich danach einige Monate lang bedeckt hielten. Wofür zum Teufel sollte Sonny die ganze Kohle auch ausgeben? Er hatte sich bereits einen Wagen und ein paar schicke Klamotten gekauft, und trotzdem hatte er immer noch ein paar tausend Dollar in bar herumliegen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, das Geld zu zählen, denn es bereitete ihm kein besonderes Vergnügen, es in Händen zu halten. Er stopfte es in seine Matratze, und bei Bedarf nahm er sich etwas davon. Der Überfall auf den Geldtransporter war ein großes Ding gewesen, er hatte wochenlang Pläne geschmiedet, und vor Aufregung war ihm dabei fast schwindelig gewesen. Als sie es schließlich durchgezogen hatten, war er sich vorgekommen wie an Heiligabend, als er klein gewesen war, aber das Aufsehen, das der Überfall hinterher erregt hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Am nächsten Tag hatten Schlagzeilen auf den Titelseiten des New York American und des Mirror geprangt, und alle Leute hatten wochenlang von nichts anderem geredet. Als Gerüchte die Runde machten, die Gang von Dutch Schultz hätte dahintergesteckt, war er erleichtert gewesen. Sonny dachte nicht gerne darüber nach, was wohl geschehen würde, wenn Vito ihm auf die Schliche käme. Manchmal überlegte er aber trotzdem, was er zu seinem Vater sagen würde. Jetzt mach mal halblang, Pa. Ich weiß nur zu gut, womit du dein Geld verdienst! Diese Unterhaltung war er in Gedanken schon mehr als einmal durchgegangen. Pa, ich bin erwachsen!, würde er sagen. Ich habe den Überfall auf den Geldtransporter geplant. Ich weiß, was ich tue! Ihm fielen immer tausend Dinge ein, die er sagen konnte – nur was sein Vater erwidern würde, wusste er nicht. Stattdessen sah er den Blick seines Vaters, der mehr als enttäuscht wirkte.
»Das lief wirklich wie am Schnürchen.« Nico hatte die ganze Zeit geschwiegen, während Sonny den Lastwagen durch die Bronx lenkte. »Hast du gesehen, wie der Typ vom Pier gesprungen ist? Scheiße!« Er lachte. »Der ist geschwommen wie Johnny Weissmuller!«
»Welcher war das?«, fragte Sonny. Inzwischen waren sie auf der Park Avenue, nur wenige Blocks von ihrem Ziel entfernt.
»Der Beifahrer«, sagte Nico. »Hast du ihn nicht gesehen? Er hat die Knarren gehört, und peng!, schon war er im Wasser!« Nico krümmte sich vor Lachen.
»Hast du die Romeros gesehen?«, fragte Sonny. »Die MPs haben ihnen ganz schön zu schaffen gemacht. Sie haben ein richtiges kleines Tänzchen aufgeführt.«
Nico nickte und stieß einen Seufzer aus. »Die Dinger haben einen ordentlichen Rückstoß. Vinnie und Angelo sind bestimmt grün und blau.«
Sonny bog in eine ruhige Seitenstraße ein. Vor einem Lagerhaus mit einer Rolltür aus Stahl fuhr er rechts ran. Cork hielt direkt hinter ihnen und stieg aus. »Überlass Cork das Reden«, sagte Sonny zu Nico. Er sprang auf die Straße, schlenderte zu Corks Nash und fuhr davon.
Angelo und Vinnie warteten auf dem Gehsteig. Cork kletterte auf das Trittbrett des Lastwagens und sagte zu Nico: »Neben dem Seiteneingang ist eine Klingel. Läute dreimal kurz, warte einen Moment und läute noch dreimal kurz. Dann kommst du wieder hierher.«
»Wie lautet das geheime Losungswort?«, fragte Nico.
»Himmel Herrgott noch mal, Nico«, sagte Cork mit nicht zu überhörendem irischen Akzent. »Jetzt beweg deinen Arsch, Nico! Ich bin müde.«
Nico läutete am Seiteneingang und lief dann zum Laster zurück. Cork hatte sich unterdessen hinters Steuer gesetzt. Nachdem es schon den ganzen Abend nach Regen ausgesehen hatte, fing es jetzt an zu nieseln, und Nico schlug, als er vorne um den Wagen herumging, den Kragen seiner Jacke hoch. Hinter ihm wurde das Rolltor langsam nach oben gezogen, und ein schwacher Lichtschein fiel auf die Straße. Luca Brasi stand, die Hände auf den Hüften, in der Mitte der Garage. Er war gekleidet, als wollte er ein vornehmes Restaurant besuchen, und das, obwohl es bald ein Uhr morgens war. Er war über eins achtzig groß, vielleicht eins fünfundachtzig, mit Oberschenkeln wie Telefonmasten. Brust und Schultern schienen ihm bis ans Kinn zu reichen, und sein wuchtiger Schädel wurde von einer vorgewölbten Stirn und tiefliegenden Augen beherrscht. Er sah aus wie ein Neandertaler, der sich in einem grauen Nadelstreifenanzug herausgeputzt hatte, einen schwarzen Fedora schräg auf dem Kopf. Hinter ihm standen, auf die ganze Garage verteilt, Vinnie Vaccarelli, Paulie Attardi, Hooks Battaglia, Tony Coli und JoJo DiGiorgio. Hooks und JoJo kannte Cork aus dem Viertel, die anderen vom Hörensagen. Als er klein gewesen war, waren sie die großen Jungs auf der Straße gewesen. Inzwischen mussten sie Ende zwanzig sein, wenn man bedachte, dass sich die Leute schon Geschichten über sie erzählt hatten, als er noch in den Kindergarten gegangen war. Luca Brasi war ein ganzes Stück älter, vielleicht Ende dreißig, so um den Dreh. Sie sahen alle aus, als wäre mit ihnen nicht zu spaßen. Die Hände in den Hosentaschen lehnten sie an Wänden oder Kistenstapeln, manche hatten eine Hand in der Jacketttasche oder beide Arme vor der Brust verschränkt. Sie trugen alle Homburgs oder Fedoras, mit Ausnahme von Hooks, der mit seinem karierten Porkpie aus der Reihe fiel.
»Heilige Scheiße«, sagte Nico bei dem Anblick. »Ich wünschte, Sonny wäre hier.«
Cork kurbelte das Fenster herunter und bedeutete Vinnie und Angelo, auf das Trittbrett zu steigen. »Lasst mich reden«, sagte er dann. Er ließ den Motor an und fuhr in die Garage.
Hooks und Tony schlossen das Tor, während Cork ausstieg und sich zu Vinnie und Angelo gesellte. Nico kam um den Laster herum und trat zu ihnen. Die Garage wurde von mehreren Hängelampen hell erleuchtet. Der Betonboden hatte Risse und war von Ölflecken übersät. Hier und dort standen Kisten und Kartons herum, aber im Wesentlichen war die Halle leer. Irgendwo über ihnen gurgelte Wasser durch Leitungsrohre. An der Rückwand der Garage war ein Verschlag mit einer Tür und einem Fenster abgetrennt worden, wahrscheinlich das Büro. Das Licht spiegelte sich in der weißen Jalousie, die vor dem Fenster hing. Luca Brasi ging zum Heck des Lastwagens, dicht gefolgt von seinen Leuten. Er ließ die Heckklappe herunter, schob die Plane beiseite und sah sich Stevie Dwyer gegenüber, der zwischen den Kisten kauerte und die MP auf ihn gerichtet hatte.
Luca zuckte nicht mit der Wimper, aber seine Männer griffen alle nach ihren Waffen. Cork sah, was los war, und schrie Stevie an, er solle um Himmels willen die Knarre weglegen.
»Scheiße, Mann«, sagte Stevie. »Dafür ist hier doch überhaupt kein Platz.«
»Dann richte sie auf den Boden, du beschissener Volltrottel!«, brüllte Hooks Battaglia.
Stevie zögerte einen Moment, ein Feixen im Gesicht, und ließ den Gewehrlauf dann sinken.
»Steig aus«, sagte Luca.
Stevie sprang von der Ladefläche, wobei er noch immer grinste und die Waffe schwang. Kaum war er auf dem Betonboden gelandet, packte ihn Luca mit einer fleischigen Pranke am Hemdkragen und riss ihm mit der anderen die MP aus der Hand. Während Stevie noch darum bemüht war, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, warf Luca die Waffe zu JoJo hinüber und versetzte ihm ansatzlos einen Faustschlag ins Gesicht. Stevie landete in Corks Armen, und als er versuchte, sich wieder aufzurappeln, gaben seine Beine nach, und Cork musste ihn festhalten.
Luca und seine Gang schauten schweigend zu.
Cork reichte Stevie an Nico weiter, der zusammen mit den anderen Jungs zu ihm getreten war. Zu Luca sagte er: »Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung getroffen. Wird’s jetzt Schwierigkeiten geben?«
»Nein, wird’s nicht«, erwiderte Luca. »Solange nicht noch irgendein anderer schwachköpfiger Ire seine Knarre auf mich richtet.«
»Das war keine Absicht«, sagte Cork. »Er wollte keinen Ärger.«
Hinter ihm brüllte Stevie: »Der verfluchte Makkaroni hat mir einen Zahn ausgeschlagen!«
Cork beugte sich zu ihm hinüber und sagte leise, aber doch so laut, dass alle es hören konnten: »Halt bloß das Maul. Sonst stopf ich es dir.«
Stevies Oberlippe war geplatzt und bereits dick angeschwollen. Sein Kinn war voller Blut, der Kragen seines Hemdes blutbefleckt. »Das trau ich dir glatt zu«, sagte er zu Cork, wobei in seinem Tonfall unmissverständlich mitschwang: Sie waren beide Iren, und Cork wandte sich gegen seinen Landsmann.
»Du Arschgesicht«, flüsterte Cork. »Halt jetzt einfach die Klappe und lass uns das hier durchziehen.«
Cork drehte sich um und bemerkte, dass Luca ihn eingehend musterte. »Wir wollen dreitausend«, sagte Cork. »Das ist alles kanadischer Whisky, vom Besten.«
Luca schaute zu dem Lastwagen hinüber und erwiderte: »Ich gebe euch tausend.«
»Das klingt mir nicht nach einem fairen Preis, Mr. Brasi.«
»Hör bloß mit dem ›Mr. Brasi‹-Scheiß auf, ja? Hier geht’s ums Geschäft. Ich heiße Luca. Und du Bobby, richtig?«
»Richtig.«
»Du hast eine hübsche Schwester. Eileen. Betreibt eine Bäckerei drüben an der Elften.«
Cork nickte.
»Siehst du«, sagte Luca. »Das ist das erste Mal, dass wir ein paar Worte miteinander wechseln, aber ich weiß alles über dich. Und weißt du auch, warum? Weil meine Jungs alles über dich wissen. Hooks und die anderen, sie haben für dich gebürgt. Sonst wären wir jetzt nicht hier. Kapiert?«
»Klar«, sagte Cork.
»Was weißt du über mich, Bobby?«
Cork sah Luca lange an, doch dessen Miene blieb verschlossen. »Nicht besonders viel. Fast gar nichts, wenn ich ehrlich bin.«
Luca blickte nach hinten, und seine Männer lachten. »Siehst du, so soll es auch sein. Ich weiß alles über dich. Du weißt nichts über mich.«
»Ein Riese ist trotzdem kein fairer Preis.«
»Nein. Ist es nicht.« Luca lehnte sich gegen die Ladefläche des Lastwagens. »Zweitausendfünfhundert wäre wahrscheinlich fair. Aber das Problem ist, dass ihr den Schnaps Giuseppe Mariposa gestohlen habt.«
»Das wussten Sie doch«, erwiderte Cork. »Ich habe Hooks und JoJo alles erzählt.«
»Das hast du.« Luca verschränkte die Arme vor der Brust. Die ganze Sache schien ihm Spaß zu machen. »Und JoJo und die Jungs haben schon zwei Mal Geschäfte mit dir gemacht, nachdem du Mariposa um ein wenig Schnaps erleichtert hast. Damit habe ich kein Problem. Ich kann Giuseppe nicht ausstehen.« Sein Blick schweifte zu seiner Gang. »Ich kann die meisten Leute nicht ausstehen.« Seine Männer grinsten breit. »Aber es hat sich rumgesprochen, dass Giuseppe über diese Sache ziemlich sauer ist. Er will wissen, wer ihm den Whisky klaut. Er möchte die Eier der Mistkerle auf einem Tablett serviert bekommen.«
»Die Jungs haben mir versprochen, dass Sie unsere Namen aus allem raushalten«, sagte Cork. »Das war so abgemacht.«
»Das weiß ich. Und ich halte Wort. Aber ich werde mich in absehbarer Zeit um Mariposa kümmern müssen. Er weiß, dass ich es bin, der seinen Whisky kauft. Also werde ich es mit ihm zu tun bekommen. Und deshalb muss ich an der Sache mehr verdienen.« Als Cork nicht gleich etwas sagte, fügte Luca hinzu: »Schließlich ist das Risiko für mich größer geworden.«
»Und was ist mit dem Risiko, das wir eingegangen sind?«, brüllte Stevie. »Auf uns ist schließlich geschossen worden!«
Ohne ihn anzuschauen, wies Cork ihn zurecht: »Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten.«
Luca schenkte Cork ein wohlwollendes Lächeln, als wüsste er nur zu gut, wie schwierig es war, einen solchen Trottel im Zaum zu halten. »Ich muss das Zeug erst einmal loswerden. Aber ich mach dir einen Vorschlag. Was hattet ihr mit dem Laster vor?«
»Wir haben einen Käufer, der ihn uns abnimmt.«
»Wie viel bekommt ihr dafür?« Luca schlenderte um den Lastwagen herum und begutachtete ihn eingehend. Es war ein neues Modell. Die Holzeinfassung der Ladefläche glänzte noch.
»Wissen wir noch nicht«, sagte Cork.
Nachdem er seinen Rundgang beendet hatte, blieb Luca vor Stevie Dwyer stehen. »Hat keine einzige Kugel abbekommen. Müssen echt miese Schützen gewesen sein.«
Stevie wandte den Blick ab.
»Ich gebe dir fünfzehnhundert dafür«, sagte Luca zu Cork. »Zusammen mit dem Riesen für den Schnaps sind das die zweieinhalbtausend, die ihr haben wolltet.«
»Wir wollten dreitausend haben. Nur für den Schnaps.«
»Also gut. Dreitausend.« Luca legte Cork eine Hand auf die Schulter. »Du verhandelst hart.«
Cork warf seinen Freunden einen raschen Blick zu und drehte sich dann wieder zu Luca um. »Gut, dann eben dreitausend.« Er war froh, die Sache hinter sich zu haben.
Luca deutete auf Vinnie Vaccarelli. »Gib ihnen das Geld.« Er legte Cork einen Arm um die Schulter und führte ihn nach hinten zu seinem Büro. »Mr. Corcoran ist gleich wieder da. Ich möchte etwas mit ihm bereden.«
»Ihr wartet einen Block weiter auf mich«, sagte Cork zu Nico.
Luca trat als Erster in das Büro und schloss hinter Cork die Tür. Der Raum war mit einem Teppich ausgelegt, ein Rosenholzschreibtisch mit Papierstapeln bedeckt. Zwei große Polstersessel standen dem Schreibtisch gegenüber, und an den Wänden, die aus unverputztem Beton bestanden, war ein halbes Dutzend schwarzer Stühle aufgereiht. Fenster nach draußen gab es keine. Luca deutete auf einen der Polstersessel und forderte Cork auf, Platz zu nehmen. Er ging um den Schreibtisch herum, holte eine Kiste Medalist-Zigarren hervor und bot Cork eine an.
Cork bedankte sich und steckte die Zigarre in seine Hemdtasche.
»Hör zu«, sagte Luca und zog sich einen Stuhl heran. »Du und deine Kumpels, ihr seid mir scheißegal. Ich möchte nur, dass ihr euch über ein paar Dinge im Klaren seid. Erstens: Der Kerl, dem ihr das Zeug klaut – wenn der rausfindet, dass ihr das wart, macht er euch alle einen Kopf kürzer.«
»Deshalb arbeiten wir ja auch mit Ihnen zusammen«, sagte Cork. »Solange Sie uns da raushalten, läuft alles gut.«
»Bist du dir sicher, dass euch niemand erkannt hat?«
»Woher denn? Letztes Jahr sind wir noch auf die Highschool gegangen.«
Luca schwieg einen Moment lang und blickte Cork an. »Du bist ein schlaues Kerlchen«, sagte er dann. »Aber du bist auch ganz schön dickköpfig, und ich bin nicht deine Mutter. Ich war euch gegenüber ehrlich. Wenn ihr so weitermacht, landet ihr im Hudson. Und ich? Ich kann Mariposa nicht ausstehen und hab auch keine Angst vor ihm. Wenn ihr ihn weiter ausnehmen wollt, arbeite ich gern mit euch zusammen. Aber von jetzt an rede ich nur noch mit dir. Von den anderen Visagen will ich keine mehr sehen, schon gar nicht den Scheißkerl mit der Knarre. Sind wir uns da einig?«
»Klar.« Cork stand auf und reichte Luca die Hand.
Luca hielt ihm die Tür auf. »Noch ein guter Rat, Corcoran. Schmeißt die verdammten Turnschuhe weg. Das ist nichts für Profis.«
»Okay, machen wir.«
Luca deutete Richtung Seitentür. »Lass sie einen Spalt offen.« Mit diesen Worten verschwand er wieder im Büro.
Hooks stand mit den anderen auf der Straße und hörte Paulie Attardi zu, der einen Witz erzählte. Sie rauchten Zigaretten und Zigarren. Cork hielt sich etwas abseits und wartete. Seine Kumpels waren nirgendwo zu sehen. Die Laterne an der Ecke war kaputt, und das einzige Licht kam aus der offenen Seitentür. Der Regen war einem kalten Nebel gewichen. Nachdem der Witz zu Ende war und alle gelacht hatten, trank Paulie einen Schluck aus einem silbernen Flachmann und reichte ihn herum.
Hooks löste sich aus dem Kreis und drückte Cork kräftig die Hand. Ohne ihn loszulassen, führte er ihn weg von den anderen. »Und, wie war der Boss zu dir?«
»So furchteinflößend finde ich ihn gar nicht«, antwortete Cork. »Aber er ist schon ein ziemlicher Riese, das ist wohl wahr.«
Hooks schwieg einen Augenblick. Obwohl er wahrscheinlich fast dreißig war, hatte er noch immer ein Babyface. Ein paar kastanienbraune Locken schauten unter der Krempe seines Porkpie hervor. »Was hat er dir gesagt?«
»Er hat mir ein paar Ratschläge gegeben.«
»Ach ja?« Hooks steckte eine Hand in den Gürtel seiner Jacke. »Wahrscheinlich auch, dass du auf dich aufpassen sollst, weil Mariposa dich umbringt, wenn er dich kriegt?«
»Etwas in der Art.«
»Etwas in der Art.« Hooks legte Cork die Hand auf den Rücken und schob ihn in eine dunkle Ecke. »Ich will dir mal was verraten, schließlich war Jimmy einer meiner engsten Freunde. Als Allererstes: Luca Brasi ist ein gottverdammter Psychopath. Du weißt, was das ist?«
Cork nickte.
»Tatsächlich?« Hooks wirkte überrascht. »Bist du sicher?«
»Ja, ich weiß, was ein Psychopath ist.«
»Na schön. Also, Luca Brasi ist ein Psychopath. Versteh mich nicht falsch. Ich kenn ihn, seit ich vierzehn bin, und ich würde meinen rechten Arm für ihn geben, aber wahr ist wahr. In diesem Geschäft ist es keine schlechte Sache, ein Psychopath zu sein. Aber du musst dir darüber im Klaren sein, dass er nur nett zu dir war, weil er Mariposa hasst. Er findet es großartig, dass ihr Joe ärgert. Vor allem, seit sich in der ganzen Stadt herumspricht, dass Joe auf hundertachtzig ist. Wie soll ich es ausdrücken …« Hooks hob kurz den Blick, als suche er nach den richtigen Worten. »Weil Luca der Mittelsmann ist und jeder es weiß und weil Joe noch immer nichts dagegen getan hat, glauben jetzt alle, dass Luca … dass Luca jemand ist, mit dem man sich besser nicht anlegt. Sogar Mariposa lässt ihn in Ruhe. Kapiert? Und ihr, ihr tut ihm also einen Gefallen.«
»Wo ist dann das Problem?«, wollte Cork wissen.
»Das Problem ist, Bobby, dass wir alle wegen euch ins offene Messer laufen.« Hooks hielt einen Augenblick inne, um seine Worte besser wirken zu lassen. »Luca, dem ist das scheißegal. Aber mir nicht, Bobby. Verstehst du?«
»Nicht ganz.«
»Dann will ich es mal so ausdrücken: Lasst die Finger von Sachen, die Mariposa gehören. Und wenn ihr ihm noch mal was klaut, dann bleibt uns damit vom Leib. Kapierst du es jetzt?«
»Klar«, sagte Cork. »Aber wieso hast du so plötzlich deine Meinung geändert? Bisher wolltest du …«
»Ich wollte dem kleinen Bruder von Jimmys Frau einen Gefallen tun. Mariposa liegt mit den LaContis im Clinch, also dachte ich mir, wenn da ein paar Kisten Fusel auf der Strecke bleiben, merkt das eh niemand. Und wenn doch, geben sie LaConti die Schuld. Aber so ist es nicht gelaufen. Joe weiß, dass er beklaut wird. Er ist stinksauer, und irgendjemand muss dafür bezahlen. Im Moment kennt dich kein Mensch. Wenn du so schlau bist, wie ich mir hab sagen lassen, dann sorg dafür, dass es so bleibt.« Hooks trat einen Schritt zurück und breitete die Arme aus. »Deutlicher kann ich es nicht mehr ausdrücken. Nimm deinen Grips zusammen. Lass die Finger von Mariposa. Aber egal, was du machst, halt dich von uns fern.«
»Okay«, sagte Cork. »Klar. Aber was ist, wenn Luca zu mir kommt? Wenn er …«
»Das wird nicht passieren«, fiel ihm Hooks ins Wort. »Keine Sorge.« Er zog eine Schachtel Luckys aus der Jackentasche und bot Cork eine an. Cork nahm sie, und Hooks gab ihm und sich Feuer. Hinter ihm verschwanden die anderen Mitglieder von Lucas Gang einer nach dem anderen wieder in der Garage. »Wie geht’s Eileen?«, fragte er. »Jimmy war ein famoser Kerl. Wie geht’s der Kleinen? Wie heißt sie noch mal?«
»Caitlin«, antwortete Bobby. »Ihr geht’s gut.«
»Und Eileen?«
»So weit in Ordnung. Allerdings nimmt sie nicht mehr alles so locker wie früher.«
»Kein Wunder, schließlich hat sie ihren Mann verloren, bevor sie dreißig wurde. Richte ihr einen Gruß von mir aus. Ich halte noch immer Ausschau nach dem Hurensohn, der Jimmy umgebracht hat.«
»Das war ein Aufruhr«, sagte Bobby.
»Bullshit«, erwiderte Hooks. »Ich meine, ja, es war ein Aufruhr, aber trotzdem hat ihn einer von Mariposas Schlägern umgebracht. Richte deiner Schwester einfach aus, dass Jimmys Freunde ihn nicht vergessen haben.«
»Mach ich.«
»Also gut.« Hooks sah sich um und fragte: »Wo sind deine Kumpels hin?«
»Die warten an der nächsten Ecke auf mich. Die Laterne ist hinüber, deshalb sieht man sie nicht.«
»Hast du einen Fahrer, der dich abholt?« Als Cork ihm die Antwort schuldig blieb, lachte Hooks und klopfte ihm auf die Schulter, bevor er in der Garage verschwand.
Cork schlenderte langsam den Gehsteig entlang, bis er vor sich in der Dunkelheit Stimmen hörte. Als er die nächste Ecke erreichte, sah er zwei Zigaretten rot aufleuchten, und bald erkannte er Sonny und Nico, die auf einer wackeligen Holztreppe saßen. Die meisten Fenster in dem Mietshaus hinter ihnen waren dunkel. Der Nebel hatte sich wieder in Nieselregen verwandelt, und an Nicos Mütze hingen Wassertropfen. Sonny war barhäuptig. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte das Regenwasser ab.
»Was sitzt ihr hier im Regen herum?«, fragte Cork.
»Wir hatten keine Lust mehr, uns Stevies Geschwafel anzuhören«, sagte Nico.
»Er ist nicht damit zufrieden, wie es gelaufen ist.« Sonny stand auf und wandte dem Wagen, der auf der anderen Straßenseite geparkt war, den Rücken zu. »Er ist der Meinung, dass sie uns über den Tisch gezogen haben.«
»Stimmt ja auch.« Cork schaute an Sonny vorbei über die Straße. In dem Wagen bewegte sich die rote Glut mehrerer Zigaretten, zeichnete Kreise und Schleifen in die Luft. Die Fenster standen einen Spalt offen, und Rauch umwaberte das regennasse Dach. »Der Laster war fast neu. Dafür hätten wir leicht ein paar Riesen mehr kriegen müssen.«
»Und?« Sonny stand die Frage ins Gesicht geschrieben: Warum haben wir das nicht?
»Was willst du machen?«, fragte Cork. »Die Bullen rufen?«
Sonny lachte, und Nico sagte: »Brasi hat nicht ganz unrecht. Schließlich muss er sich mit Mariposa herumschlagen. Ich geb mich lieber mit weniger Geld zufrieden und bleib am Leben.«
»Er erzählt auch bestimmt niemand von uns?«, fragte Sonny.
»Ja, klar«, erwiderte Cork. »Lass uns ins Trockene gehen.«
Kaum hatte Sonny die Wagentür geschlossen und den Motor angelassen, sagte Stevie Dwyer: »Hast du mit ihm über das Geld geredet?« Die anderen Jungs schwiegen, neugierig auf das, was Sonny zu sagen hatte.
»Worüber sollte er denn mit mir reden, Stevie?« Cork saß vorne und musste sich umdrehen, um Stevie in die Augen zu blicken.
Sonny legte den Gang ein und fuhr los. »Was regst du dich denn so auf?«, fragte er Stevie.
»Was ich mich aufrege?« Stevie riss sich die Mütze vom Kopf und schlug sie sich klatschend aufs Knie. »Wir sind über den Tisch gezogen worden, das regt mich auf! Der Laster war allein schon drei Riesen wert!«
»Klar, wenn du ihn regulär verkaufen könntest. Aber wer kauft schon einen Wagen ohne Papiere?«
»Ganz abgesehen davon«, fügte Nico hinzu, »dass du dir eine Kugel in den Rücken einhandelst, wenn dich die falschen Leute mit ihm herumfahren sehen.«
»Da hast du wohl recht«, meinte Sonny.
Cork zündete sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster herunter. »Das war schon in Ordnung«, sagte er zu Stevie. »Schließlich hatte Luca alle Karten in der Hand. Sonst würde uns doch niemand den Fusel von Mariposa abkaufen. Niemand. Und das weiß er. Er hätte uns einen Dollar fünfzig bieten können, und wir hätten ja sagen müssen.«
»Ach, Bullshit.« Stevie pappte sich die Mütze auf den Kopf und ließ sich auf den Sitz zurückfallen.
»Du bist doch bloß sauer, weil dir Luca eine in die Fresse gehauen hat«, sagte Cork.
»Yeah!«, brüllte Stevie, wobei sich seine Stimme zu überschlagen drohte. »Und wo zum Teufel waren da meine Kumpels?« Mit weit aufgerissenen Augen blickte er von einem zum anderen. »Wo zum Teufel wart ihr!«
Angelo, der wahrscheinlich der Stillste von ihnen war, wandte sich Stevie zu. »Was hätten wir denn tun sollen? Uns mit denen auf eine Schießerei einlassen?«
»Ihr hättet mir beistehen können!«, sagte Stevie. »Ihr hättet was tun können!«
Cork schob sich die Mütze in den Nacken und kratzte sich am Kopf. »Jetzt hör aber auf, Stevie. Denk doch mal ein bisschen nach.«
»Du kannst mich mal!«, fauchte Stevie. »Du verdammter Schweinepriester hast wohl einen Narren an den Makkaronis gefressen!«
Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Dann fingen alle außer Stevie gleichzeitig an zu lachen. Sonny schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad und brüllte: »Du verdammter Schweinepriester, du! Komm her!« Er packte Cork an der Schulter und schüttelte ihn.
Vinnie Romero versetzte Cork einen Schlag auf die Schulter. »Du verdammter Makkaroni!«
»Lacht ihr nur«, sagte Stevie und drückte sich an die Tür.
Die anderen folgten seiner Aufforderung, und der Wagen wurde von lautem Gelächter geschüttelt, während er die Straße entlangfuhr. Nur Stevie schwieg. Und auch Nico, der plötzlich an Gloria Sullivan und ihre Eltern denken musste, war das Lachen vergangen.
Vito blätterte in einem Stapel Blaupausen für das Anwesen auf Long Island. Während er sich die Grundrisse anschaute, lockerte er seine Krawatte – vor seinem geistigen Auge sah er bereits die Möbel, die in jedem Zimmer seines Hauses stehen würden. Im Garten hinter dem Haus wollte er Blumenbeete anlegen lassen und daneben einen Gemüsegarten. In Hell’s Kitchen hatte er, als er gerade in das Geschäft mit dem Olivenöl eingestiegen war, im winzigen Hinterhof des alten Mietshauses einen Feigenbaum großgezogen, der einige Jahre schön gediehen war, bevor ihn starker Frost umgebracht hatte. Seine Freunde hatten sich jahrelang gefreut, wenn er ihnen frisch gepflückte Feigen mitgebracht hatte, und sie waren erstaunt gewesen, wenn er ihnen erzählte, dass sie hier in der Stadt wuchsen, in seinem Hinterhof. Oft kam der eine oder andere mit zu ihm nach Hause, und dann zeigte er ihnen den Feigenbaum, dessen braune Äste und grüne Blätter dicht an der roten Backsteinmauer sprossen, die den Hinterhof umschloss. Die Wurzeln gruben sich tief in den Boden, reckten sich den Winter über dem Keller und der Wärme der Heizung entgegen. Er hatte im Hinterhof einen kleinen Tisch mit ein paar Klappstühlen aufgestellt, und Carmella brachte hin und wieder eine Flasche Grappa und etwas Brot und Olivenöl herunter und vielleicht etwas Käse und Tomaten – was eben da war – und richtete ihren Gästen eine Kleinigkeit zu essen. Oft setzte sie sich zu ihnen, manchmal zusammen mit den Kindern, und während diese im Hof spielten, hörte sie Vito aufmerksam zu, wenn er seinen Nachbarn einmal mehr erklärte, wie er den Baum jeden September nach der Ernte mit Jute umwickelte und mit einer Plane abdeckte, damit er den nahenden Winter überstand.
Sogar im Herbst und Winter schaute er nach der Arbeit oft zuerst im Hinterhof vorbei, um nach dem Feigenbaum zu sehen. Dort war es ruhig, und obwohl der Hinterhof allen Mietern zugänglich war, hatten die Nachbarn ihn seiner Familie überlassen, ohne dass er sie darum gebeten hätte. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er in Hell’s Kitchen gewohnt hatte – mit dem Klappern der Güterzüge, dem Lärm der Automotoren, den Lumpensammlern und Eisverkäufern, den Hausierern und Messerschleifern, die zu den Fenstern hinaufbrüllten –, nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er in jenem lauten Teil der Welt gelebt hatte, hatte jemand anderer an seinem Tisch neben dem Feigenbaum gesessen. Im August, wenn die ersten Früchte vollwangig unter grünen Blättern hingen, stellte er morgens immer eine Holzschale voll saftiger Feigen auf den ersten Treppenabsatz, und wenn sie am späten Vormittag leer war, nahm Carmella die Schale mit in ihre Küche hinauf. Die erste Feige des Jahres behielt er jedoch für sich. Mit einem Küchenmesser schnitt er dann durch die mahagonifarbene Haut in das hellrosarote Fleisch. In Sizilien wurde diese Feigenart »Tarantella« genannt. Hinter seinem Elternhaus hatte sich ein Obstgarten mit Feigenbäumen befunden, ein ganzer Wald, und wenn die ersten Früchte reif gewesen waren, hatten er und sein älterer Bruder Paolo die Feigen wie Süßigkeiten in sich hineingestopft.
Vito erinnerte sich gerne an seine Kindheit. Er konnte die Augen schließen, dann sah er sich als kleinen Jungen, wie er frühmorgens, kurz nach Tagesanbruch, seinem Vater hinterherlief, wenn dieser auf die Jagd ging, den Kolben und den Lauf seiner Lupara über der Schulter. Wie oft hatten sie an dem aus grobem Holz gefertigten Tisch gegessen, sein Vater stets am Kopf der Tafel, seine Mutter am anderen Ende, er und Paolo einander gegenüber, hinter Paolo eine Tür mit einer Glasscheibe und wiederum dahinter der Garten und die Feigenbäume. Er musste sich anstrengen, um sich die Gesichtszüge seiner Eltern ins Gedächtnis zu rufen, und nicht einmal an Paolo konnte er sich in aller Deutlichkeit erinnern, obwohl er ihm damals in Sizilien wie ein Hundewelpe auf den Fersen geblieben war. Ihr Bild war im Laufe der Jahre verblasst, und auch wenn er sich sicher war, dass er sie sofort erkennen würde, kämen sie von den Toten zurück und stünden vor ihm, waren seine Erinnerungen an sie doch verschwommen. Aber hören konnte er sie. Er hörte seine Mutter, wie sie ihn immer wieder gedrängt hatte, er möge sprechen – Parla, Vito! Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil er so schweigsam gewesen war, und den Kopf geschüttelt, wenn er zur Erklärung nur mit den Schultern gezuckt und Non so perché gesagt hatte. Er hörte die Stimme seines Vaters, wie er ihm abends oft Geschichten erzählt hatte, vor dem Feuer. Er hörte, wie Paolo über ihn lachte, als er einmal beim Abendessen eingeschlafen war. Er wusste noch sehr genau, wie er die Augen aufgemacht hatte, den Kopf auf dem Tisch neben dem Teller, von Paolos Lachen geweckt. Er hatte viele solche Erinnerungen. Oft saß er, wenn ihn seine Arbeit wieder gezwungen hatte, eine hässliche Gewalttat zu begehen, in seinem winzigen Hinterhof, im kalten New York in Amerika, und dachte an seine Familie in Sizilien zurück.
Allerdings gab es auch Erinnerungen, die er am liebsten aus seinem Gedächtnis verbannt hätte. Am schlimmsten war das Bild von seiner Mutter, wie sie mit ausgebreiteten Armen nach hinten geschleudert wurde, während der Widerhall ihrer letzten Worte noch immer in der Luft hing: Lauf, Vito! Auch die Beerdigung seines Vaters würde er nie vergessen. Er war an der Seite seiner Mutter gegangen, ihren Arm um seine Schulter, dann waren plötzlich Schüsse gefallen, und die Träger hatten den Sarg seines Vaters fallen lassen und waren auseinandergelaufen. Ihm stand noch in aller Deutlichkeit vor Augen, wie seine Mutter über Paolos Leiche kniete – Paolo, der der Leichenprozession in einigem Abstand oben auf den Hügeln gefolgt war –, dann verschmolzen die Bilder miteinander: In einem Moment kniete seine Mutter noch weinend über Paolo, im nächsten schritt er den Kiesweg zu Don Ciccios Villa hinauf, links und rechts von wunderschönen bunten Blumen gesäumt. Seine Mutter sah nichts von alledem, sondern hielt seine Hand umklammert und zog ihn weiter. Don Ciccio saß an einem Tisch, auf dem eine Schale mit Orangen und eine Glaskaraffe mit Wein standen. Der Tisch war klein, rund und aus Holz, mit vier dicken Beinen. Der Don war ein stämmiger Mann mit einem Schnurrbart und einem Leberfleck auf der rechten Wange. Er trug eine Weste über einem weißen, langärmeligen Hemd, das im hellen Schein der Sonne leuchtete. Die Streifen auf der Weste verliefen schräg nach innen und bildeten ein V. Eine goldene Uhrkette hing zwischen den Westentaschen und bildete über seinem Bauch einen Halbkreis. Hinter ihm befanden sich zwei große Steinsäulen und ein kunstvoll verzierter schmiedeeiserner Zaun, und dort stand auch einer von mehreren Leibwächtern mit einem Gewehr über der Schulter. An all das erinnerte er sich mit großer Deutlichkeit – wie seine Mutter um das Leben ihres einzigen verbliebenen Sohnes bettelte, wie der Don sie abwies, wie seine Mutter sich blitzschnell hinkniete und ein Messer unter dem schwarzen Kleid hervorzog, wie sie es Don Ciccio an den Hals hielt, und an ihre letzten Worte: Lauf, Vito! Und an den Schuss, der sie mit ausgebreiteten Armen nach hinten geschleudert hatte.
Diese Erinnerungen hätte er am liebsten aus seinem Gedächtnis verbannt. Hin und wieder träumte er davon, nach Sizilien zurückzukehren und Don Ciccio wie ein Schwein abzustechen. Ciccio war noch immer am Leben und residierte in seiner Villa in der Nähe des Dorfes Corleone. Er war noch immer der Don. Vor vierzehn Jahren, als Vito sich für sein derzeitiges Leben entschieden hatte, indem er Don Fanucci, ein anderes fettes Schwein, ermordet hatte, das der Meinung gewesen war, es könnte sein kleines Stück New York wie ein Dorf in Sizilien regieren, hatten Vitos Freunde ihn für furchtlos gehalten, für einen Mann, der seinen Feinden gegenüber keine Gnade kannte. Er ließ sie in dem Glauben, damals wie heute. In gewisser Hinsicht entsprach es auch der Wahrheit. Allerdings hatte er Fanucci von dem Augenblick an töten wollen, als er ihm das erste Mal begegnet war, und die Entschlusskraft dazu hatte er gefunden, als er begriff, wie er von Fanuccis Tod profitieren konnte. Er hatte nie auch nur die geringste Angst empfunden. Er hatte Fanucci in einem dunklen Korridor vor seiner Wohnung aufgelauert. Die Musik und der Lärm des Feuerwerks zur Feier des heiligen Januarius wurden durch die Backsteinmauer des Mietshauses gedämpft. Er hatte ein weißes Handtuch um den Lauf seiner Pistole gewickelt, und das Handtuch ging in Flammen auf, kaum hatte er den ersten Schuss abgefeuert, Fanucci direkt ins Herz. Fanucci riss seine Weste auf, als wollte er nach der anstößigen Kugel suchen, und Vito schoss erneut, dieses Mal mitten ins Gesicht. Die Kugel hinterließ lediglich ein kleines rotes Loch in der Wange des dicken Mannes. Als er schließlich zu Boden ging, wickelte Vito das brennende Handtuch von der Pistole, steckte Fanucci den Lauf in den Mund und feuerte ihm einen letzten Schuss ins Gehirn. Angesichts von Fanuccis in sich zusammengesackter Gestalt empfand er nichts außer Dankbarkeit. Sein Verstand mochte nicht begreifen, warum er das Gefühl hatte, die Morde an seiner Familie gerächt zu haben, aber sein Herz begriff das nur zu gut.
So fing alles an. Der Nächste, den Vito tötete, war Don Ciccio selbst. Er kehrte nach Sizilien zurück, in sein Heimatdorf Corleone, und stach ihn ab wie ein Schwein.
Jetzt befand sich Vito im Arbeitszimmer seiner weiträumigen Wohnung, selbst ein Don, und begutachtete Blaupausen eines Anwesens, das er bauen wollte. Unten stritten sich Fredo und Michael wieder einmal. Vito zog sein Jackett aus und hängte es über die Lehne seines Schreibtischstuhls. Als das Geschrei verstummte, konzentrierte er sich wieder auf die Grundrisse. Dann schrie Carmella ihre Söhne an, und die beiden verteidigten sich lauthals. Vito schob die Blaupausen beiseite und machte sich auf den Weg in die Küche. Bevor er die Treppe halb hinuntergestiegen war, hörte das Geschrei auf. Bis er die Küche erreichte, saßen Michael und Fredo still am Tisch. Michael las in einem Schulbuch, und Fredo tat nichts, sondern saß nur mit gefalteten Händen da. Während Carmella besorgt zuschaute, packte Vito beide Jungen an den Ohren und zog sie mit sich ins Wohnzimmer. Fredo hatte angefangen, »Papa! Papa!« zu schreien, sobald Vito ihn nur berührte, während Michael wie gewöhnlich schwieg.
»Papa!«, sagte Fredo. »Michael hat mir einen Nickel aus der Jackentasche geklaut!« Er hatte bereits Tränen in den Augen.
Vito sah Michael an. Sein jüngster Sohn erinnerte ihn daran, wie er selbst als Junge gewesen war. Allem Anschein nach spielte er am liebsten alleine und er sprach nur wenig.
Michael erwiderte den Blick seines Vaters und schüttelte den Kopf.
Vito gab Fredo eine Ohrfeige und umfasste sein Kinn.
»Aber er war doch in meiner Tasche!«, schrie Fredo wutentbrannt. »Und jetzt ist er weg!«
»Und deshalb beschuldigst du deinen Bruder, ein Dieb zu sein?«
»Aber der Nickel ist doch weg, oder nicht, Papa?«
Vito umfasste Fredos Kinn noch etwas fester. »Ich frage dich noch einmal. Beschuldigst du deinen Bruder, ein Dieb zu sein?« Als Fredo nur den Blick abwandte, ließ Vito ihn los und sagte: »Entschuldige dich bei Michael.«
»Tut mir leid«, sagte Fredo halbherzig.
Hinter ihnen ging die Wohnungstür auf, und Sonny trat in die Diele. Er trug einen Overall, und seine Stirn und sein Kinn waren ölverschmiert. Carmella, die von der Küche aus zugeschaut hatte, sah Vito an.
Vito befahl den Jungen, auf ihr Zimmer zu gehen und erst wieder zum Abendessen herunterzukommen – für Fredo eine Strafe, während Michael sowieso in seinem Zimmer geblieben wäre und gelesen hätte. Als Sonny das Wohnzimmer betrat, sagte Vito: »Bist du wieder den ganzen weiten Weg von der Bronx gekommen, um ein Bad zu nehmen?«
»Ich hab auch nichts dagegen, mal wieder was Ordentliches zwischen die Zähne zu bekommen, wenn ich schon mal da bin«, erwiderte Sonny. »Außerdem muss ich das Bad bei mir mit den anderen teilen, Pa.«
Carmella kam ins Zimmer und legte ihre Schürze ab. »Schau dich nur an. Du bist ja ganz voller Öl!«
»Das bleibt nicht aus, wenn man in einer Werkstatt arbeitet, Ma.« Sonny beugte sich zu ihr hinab und schloss sie in die Arme. »Ich geh mich waschen«, sagte er und schaute zu Vito hinüber.
»Bleibst du zum Abendessen?«, fragte Carmella.
»Gerne, Ma. Was gibt es denn?«, fragte er von der Treppe.
»Kalbfleisch alla parmigiana.«
»Brauchst du eine Speisekarte?«, spottete Vito. »Falls dir das Essen nicht schmeckt?«
»Mir schmeckt alles, was Mama kocht«, entgegnete Sonny. »Hab ich recht, Ma?« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er die Treppe hinauf.
Nachdem Sonny verschwunden war, wechselten Carmella und Vito einen vielsagenden Blick.
»Ich rede mit ihm«, sagte Vito leise und erhob sich aus seinem Sessel. Er warf einen Blick auf die Uhr in seiner Westentasche und sah, dass es kurz vor sechs war. Auf dem Weg zur Treppe schaltete er das Radio an und drehte am Empfang, bis er einen Nachrichtensender gefunden hatte. Er hörte einen Moment lang zu und suchte dann weiter, fand jedoch keine italienische Oper. Die Nachrichten hatten sich um das Wahlbündnis, um Reformer und den neuen Kandidaten für das Bürgermeisteramt gedreht, einen neapolitanischen pezzonovante. Nach einer Pepsodent-Werbung hörte Vito kurz der Amos ’n’ Andy-Show zu – lange genug jedenfalls, um mitzubekommen, dass der »Kingfish« Andy mal wieder irgendwelchen Ärger beschert hatte. Dann schaltete er den Apparat aus und ging hoch zu Sonnys Zimmer. Er klopfte einmal, und Sonny öffnete die Tür einen Spalt, spähte hindurch und machte sie dann ganz auf. »Pa!«, sagte er, offensichtlich überrascht darüber, dass sein Vater an seiner Tür klopfte. Sein Oberkörper war nackt, und er hatte sich ein Handtuch über die Schulter geworfen.
»Na?«, sagte Vito. »Kann ich reinkommen?«
»Klar«, erwiderte Sonny und trat beiseite. »Was hab ich ausgefressen?«
Sonnys Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet: An einer Wand stand ein Bett mit einem Kreuz über dem hölzernen Kopfbrett, auf einer Kommode eine leere Kristallschale, und vor den beiden Fenstern hingen dünne weiße Musselinvorhänge. Vito setzte sich aufs Bett und bedeutete Sonny, die Tür zu schließen. »Zieh dir ein Hemd an. Ich möchte kurz mit dir reden.«
»Worüber denn, Pa?« Sonny griff nach seinem zerknitterten Hemd, das auf der Kommode lag, und schlüpfte hinein. »Ist irgendwas passiert?«
Vito klopfte neben sich auf das Bett. »Setz dich hierher. Deine Mutter macht sich Sorgen um dich.«
»Wegen des Geldes«, entgegnete Sonny, als würde ihm jetzt erst klar, was los war.
»Das ist richtig. Sie macht sich Sorgen wegen des Geldes. Fehlen dir nicht fünfzig Dollar? Du vergisst fünfzig Dollar in einer Hosentasche und du fragst sie nicht einmal danach?«
»Pa, Mama hat das Geld doch Tom gegeben.« Sonny setzte sich neben Vito auf das Bett. »Tom hat mir alles erzählt. Wenn ich geglaubt hätte, dass mir fünfzig Dollar fehlen, hätte ich die ganze Stadt auf den Kopf gestellt. Aber ich weiß, wo das Geld ist, was ist also das Problem?«
»Wie kommst du zu einem Fünfzigdollarschein, Sonny? Das ist mehr, als du in zwei Wochen verdienst.«
»Pa, ich hab doch fast keine Ausgaben! Die meiste Zeit esse ich hier. Meine Miete ist billig.«
Vito faltete die Hände im Schoß und wartete.
»Himmel!« Sonny sprang auf und wandte Vito den Rücken zu, bevor er sich wieder umdrehte. »Okay. Ich hab am Samstagabend in Greenpoint mit ein paar Polen Poker gespielt.« Er hob ein wenig die Stimme, um sich zu rechtfertigen. »Nur so zum Spaß, Pa! Normalerweise verlier oder gewinn ich ein paar Dollar … Dieses Mal hab ich richtig viel gewonnen.« Sonny verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein kleines Pokerspiel am Samstagabend …«
»Das machst du also mit dem Geld, das du verdienst? Du spielst Poker mit einem Haufen Polacken?«
»Ich pass schon auf mich auf«, sagte Sonny.
»Du passt schon auf dich auf.« Vito deutete auf das Bett, damit Sonny sich wieder setzte. »Sparst du wenigstens etwas? Hast du ein Konto eröffnet, wie ich dir gesagt habe?«
Sonny ließ sich neben Vito auf das Bett fallen und blickte zu Boden.
»Also nicht.« Vito kniff Sonny in die Wange, und Sonny wich vor ihm zurück. »Hör mir gut zu, Santino. In der Automobilindustrie verdienen die Leute ein Vermögen. In den nächsten zwanzig, dreißig Jahren …« Vito öffnete die Handflächen, um anzudeuten, dass alles möglich war. »Wenn du hart arbeitest, kann ich dir hier und da ein wenig helfen, und wenn du erst so alt bist wie ich, hast du mehr Geld, als ich mir je erträumt habe.« Er legte Sonny die Hand aufs Knie. »Aber du musst hart arbeiten. Du musst die Branche von Grund auf kennenlernen. Dann kannst du später jemand einstellen, der sich um mich kümmert, wenn ich nicht mehr alleine auf die Toilette komme.«
Sonny lehnte sich gegen das Kopfbrett. »Schau mal, Pa. Ich weiß nicht, ob ich dafür geeignet bin.«
»Für was?«, fragte Vito, selbst darüber erstaunt, wie verärgert er klang.
»Dafür, jeden Tag wie der letzte Idiot zu schuften. Ich arbeite acht bis zehn Stunden, was Leo fünfzig Dollar einbringt, und er zahlt mir fünfzig Cent. Das ist doch was für Dummköpfe, Pa.«
»Willst du vielleicht gleich den Boss spielen? Hast du das ganze Werkzeug gekauft oder Leo? Zahlst du die Miete oder Leo? Steht auf dem Schild draußen Leos Werkstatt oder Santinos Werkstatt?« Als Sonny ihm die Antwort schuldig blieb, fügte Vito hinzu: »Schau dir Tom an, mein Sohn. Er hat ein Konto, auf dem er ein paar hundert Dollar gespart hat. Außerdem hat er den ganzen Sommer über gearbeitet, um etwas zum Schulgeld beizusteuern. Tom weiß, was es bedeutet, sich anzustrengen und etwas aus sich zu machen.« Vito packte Sonny am Kinn und zog ihn zu sich heran. »Wenn du was werden willst, musst du hart arbeiten! Vergiss das nie, Santino!« Als Vito vom Bett aufstand, war sein Gesicht ganz rot. Er öffnete die Zimmertür und drehte sich noch einmal zu seinem Sohn um. »Ich will nie wieder hören, dass Arbeit etwas für Idioten ist, capisc’? Nimm dir ein Beispiel an Tom, Santino.« Er warf seinem Sohn einen letzten wütenden Blick zu und ging dann hinaus. Die Tür ließ er offen.
Sonny ließ sich aufs Bett zurückfallen. Er schlug mit der Faust über seinem Kopf in die Luft, als wäre dort Toms Gesicht. Was würde sein Vater wohl sagen, wenn er wüsste, dass sein geliebter Tom mit einer irischen Hure vögelt? Das hätte Sonny nur zu gerne gewusst. Hatte Tom sich doch tatsächlich mit Luca Brasis Puppe eingelassen! Wenn das nur mal keinen Ärger gab. Sonny musste grinsen, und schon war seine Wut verflogen. Pa stellte Tom immer als Vorbild hin – Tom tut dies, Tom tut das. Trotzdem bestand nie der geringste Zweifel daran, wem Vito Corleones Liebe und Loyalität galten. Sonny war sein ältester Sohn. Mehr musste ein Italiener nicht wissen.
Sonny war sowieso nie lange wütend auf Tom. In seinem Herzen würde Tom immer der kleine Junge bleiben, der auf einem Stuhl mit nur drei Beinen gesessen hatte, auf der Straße vor dem Haus, in dem er gewohnt hatte, zwischen den ganzen Möbeln, die der Vermieter hinausgeworfen hatte. Toms Mutter war ein Jahr zuvor am Suff gestorben, dann war vor ein paar Wochen sein Vater verschwunden. Bald darauf kamen die katholischen Wohlfahrtsorganisationen, um ihn und seine Schwester abzuholen, aber Tom hatte sich davongemacht, bevor sie ihn kriegen konnten. Wochenlang schlug er sich bei den Zügen herum, schlief in den Güterwaggons und bekam von den Bahnbullen den Hintern versohlt, wenn sie ihn erwischten. Die Leute in der Gegend wussten das und beruhigten sich damit, dass sein Vater schon wieder auftauchen würde, wenn er genug gesoffen hatte, aber Toms Vater tauchte nicht wieder auf, und eines schönen Morgens räumte der Vermieter die Wohnung aus und schmiss alle Möbel auf die Straße. Am Nachmittag war alles fort, bis auf einen dreibeinigen Stuhl und irgendwelchen nutzlosen Kram. Als das alles passierte, war Sonny elf Jahre alt. Tom war ein Jahr älter als Sonny, aber er bestand nur aus Haut und Knochen, und wer ihn sah, hielt ihn meist für zehn. Sonny dagegen wirkte eher wie vierzehn.
An jenem Nachmittag war Michael ihm nachgelaufen. Damals war er sieben oder acht gewesen, und sie hatten bei Nina’s an der Ecke Lebensmittel eingekauft. Michael entdeckte Tom zuerst und zupfte an der Hose seines Bruders. »Sonny«, sagte er. »Schau mal.« Sonny wandte sich um und sah einen Jungen mit einem Sack über dem Kopf, der auf einem dreibeinigen Stuhl saß. Johnny Fontane und Nino Valenti, zwei ältere Jungs aus der Gegend, hockten ein paar Häuser weiter auf einer Treppe und rauchten Zigaretten. Sonny überquerte die Straße, und Michael zupfte ihn am Hemd. »Wer ist das?«, fragte er. »Warum hat er einen Sack über dem Kopf?« Sonny wusste, dass das Tom Hagen war, sagte aber nichts. Er blieb vor Johnny und Nino stehen und fragte, was los sei.
»Das ist Tom Hagen«, sagte Johnny. Johnny war ein schlanker, gutaussehender Bursche mit einem dichten Schopf dunkler Haare, die er sich in die Stirn gekämmt hatte. »Er glaubt, dass er blind wird.«
»Blind?«, fragte Sonny. »Warum das?«
»Seine Mutter ist gestorben«, erwiderte Nino, »und sein Vater …«
»Das weiß ich alles«, fiel ihm Sonny ins Wort. Zu Johnny sagte er: »Warum meint er, dass er blind wird?«
»Woher soll ich das wissen, Sonny? Frag ihn doch.« Dann fügte er hinzu: »Seine Mutter ist blind geworden, bevor sie gestorben ist. Vielleicht denkt er, er hat sich angesteckt.«
Nino lachte, und Sonny sagte: »Du hältst das wohl für witzig, was, Nino?«
»Kümmer dich nicht um Nino«, meinte Johnny. »Der spinnt manchmal.«
Sonny trat einen Schritt auf Nino zu, und Nino hob die Hände. »Hey, Sonny. Ich hab das nicht böse gemeint.«
Michael zupfte Sonny erneut am Hemd. »Komm schon, Sonny. Lass uns nach Hause gehen.«
Sonny ließ seinen Blick noch einen Moment auf Nino ruhen, dann ging er davon, Michael ihm nach. Vor Tom blieb er stehen und sagte: »Was machst du denn da, du Blödmann? Warum hast du dir einen Sack über den Kopf gezogen?« Als Tom nicht antwortete, hob er den Sack ein Stück hoch und sah, dass Tom sich einen schmutzigen Verband um die Augen gewickelt hatte. Dort, wo er sein linkes Auge bedeckte, hatte sich eine Kruste aus Eiter und getrocknetem Blut gebildet. »Was zum Teufel ist los, Tom?«
»Ich werde blind, Sonny!«, sagte Tom.
Damals kannten sie sich noch so gut wie gar nicht. Sie hatten sich ein- oder zweimal unterhalten, nichts weiter – trotzdem entging Sonny der flehentliche Tonfall von Toms Stimme nicht, als wären sie schon ihr ganzes Leben lang dicke Freunde gewesen und Tom würde ihn nun um Hilfe bitten. So, wie Tom Ich werde blind, Sonny! sagte, klang es, als hätte er bereits jegliche Hoffnung aufgegeben.
»V’fancul’!«, murmelte Sonny. Er drehte sich auf dem Gehsteig ein Mal im Kreis, als wollte er Zeit gewinnen, um nachzudenken. Dann reichte er Michael die Lebensmittel, schloss die Arme um Tom, hob ihn samt Stuhl in die Höhe und trug ihn die Straße entlang.
»Was machst du da, Sonny?«, wollte Tom wissen.
»Ich bring dich zu meinem Vater«, antwortete Sonny.
Und das tat er auch. Während Michael ihnen mit weit aufgerissenen Augen folgte, trug er Tom in das Haus, wo sein Vater und Clemenza sich gerade im Wohnzimmer miteinander unterhielten. Er ließ den Stuhl vor seinem Vater auf den Boden krachen. Vito, der dafür berühmt war, dass er nie die Fassung verlor, sah aus, als würde er in Ohnmacht fallen.
Clemenza zog Tom den Sack vom Kopf und wich, als er den Eiter und das Blut sah, einen Schritt zurück. »Wer ist das?«, fragte er Sonny.
»Das ist Tom Hagen.«
Carmella kam ins Zimmer und legte Tom sanft die Hand auf die Stirn. Sie neigte seinen Kopf leicht nach hinten, um sein Auge besser zu sehen. »Infezione«, sagte sie zu Vito.
Vito flüsterte ihr zu: »Hol Doktor Molinari.« Es klang, als wäre seine Kehle ausgetrocknet.
»Was machst du da, Vito?«, fragte Clemenza.
Vito hob die Hand und bedeutete ihm zu schweigen. Zu Sonny sagte er: »Wir kümmern uns um ihn. Ist das ein Freund von dir?«
Sonny dachte ganz kurz nach und erwiderte: »Ja, Pa. Er ist wie ein Bruder für mich.«
Damals wie heute wusste er nicht, warum er das gesagt hatte.
Vitos Blick ruhte eine halbe Ewigkeit auf Sonny, als versuchte er, in das Herz seines Sohnes zu blicken. Dann legte er Tom einen Arm um die Schulter und führte ihn in die Küche. In jener Nacht und während der nächsten fünf Jahre, bis er aufs College ging, teilte sich Tom ein Zimmer mit Sonny. Sein Auge heilte. Er nahm zu. Während der ganzen Schulzeit gab er Sonny Nachhilfe, versuchte ihm möglichst viel beizubringen, und wenn das nichts half, ließ er ihn eben abschreiben.
Tom tat sein Bestes, um Vito zufriedenzustellen – aber nichts, was er tat, würde ihn jemals zu Vitos Sohn machen. Und nichts, was er tat, würde jemals seinen richtigen Vater zurückbringen. Deshalb konnte Sonny auch nicht allzu wütend auf ihn werden. Er würde nie vergessen, wie er da mit dem Sack über dem Kopf auf dem dreibeinigen Stuhl gesessen hatte und Ich werde blind, Sonny! gesagt hatte.
Aus der Küche drang Carmellas Stimme zu ihm herauf. »Santino! Das Essen ist fast fertig! Wie kommt es, dass ich noch kein Badewasser einlaufen höre?«
»Ich bin in zehn Minuten unten, Ma!«, rief Sonny zurück. Er sprang vom Bett und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Dann holte er einen Bademantel aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Er musste sich recken, um an eines der oberen Fächer zu gelangen, wo er eine Hutschachtel versteckt hatte. Er öffnete sie, nahm den neuen, weichen, blauen Fedora heraus und setzte ihn auf. Vor der Kommode kippte er den Spiegel leicht nach hinten und musterte sich eingehend. Nachdem er sich die Krempe in die Stirn gezogen und ihn etwas nach rechts gerückt hatte, lächelte er breit. Schließlich warf er den Hut in die Schachtel zurück und verstaute sie wieder im Schrank.
»Santino!«, rief Carmella erneut.
»Schon unterwegs, Ma!«, erwiderte Sonny und eilte zur Tür hinaus.
Kurz nach Mitternacht war das Juke’s randvoll mit gelackten Typen in Smoking und Zylinder, mit schicken Frauen in Seide und Pelzen. Auf der Bühne hatte der Posaunist sein Instrument deckenwärts gerichtet, während er mit einer Hand den Zug und mit der anderen den Dämpfer tanzen ließ. Zusammen mit dem Rest der Band gab er eine jazzige Version von »She Done Him Wrong« zum Besten. Der Schlagzeuger hatte sich auf seinem Thron so weit vorgebeugt, dass es aussah, als berührte sein Gesicht die Snare; er ließ die Stöcke wirbeln und war völlig in seiner Klangwelt versunken. Auf der Tanzfläche drängten sich die Paare aneinander, lachten und schwitzten, und hier und dort blitzte ein Flachmann auf. Kellner mit vollen Tabletts eilten durch den weitläufigen Raum und brachten Essen und Getränke zu den zahlreichen Tischen und den elegant gekleideten, gutbetuchten Gästen.
Sonny und Cork tranken schon seit Stunden, und Vinnie, Angelo und Nico standen ihnen in nichts nach. Stevie war nicht aufgetaucht, obwohl sie sich im Juke’s verabredet hatten, um zu feiern. Vinnie und Angelo trugen beide einen Smoking. Anfangs hatte Angelo die Haare noch ordentlich nach hinten gekämmt, aber je länger die Nacht andauerte und je mehr sie tranken, umso mehr Strähnen fielen ihm in die Stirn. Nico und Sonny trugen zweireihige Anzüge mit breiten Revers und Satinkrawatten – Nicos Krawatte war hellgrün und Sonnys blau, passend zu seinem neuen Fedora. Die meisten Frauen im Juke’s waren Mitte zwanzig oder älter, aber das hinderte die Jungs nicht daran, mit ihnen zu tanzen, und inzwischen waren sie alle verschwitzt und nicht wenig angetrunken. Sie hatten die Kragen geöffnet und die Krawatten gelockert, und sie lachten laut über die Witze, die sie einander erzählten. Cork, der in seinem Tweedanzug mit einer Weste und einer Fliege am unauffälligsten angezogen war, hatte dafür am meisten getrunken. »Himmel«, sagte er, als würden das nicht alle bemerken, »ich hab einen im Tee, Gentlemen!« Er legte den Kopf auf den Tisch.
»Einen im Tee«, wiederholte Sonny, dem das gefiel. »Vielleicht täte dir eine Tasse Kaffee gut!«
Cork setzte sich ruckartig auf. »Kaffee?« Er zog einen Flachmann aus der Tasche. »Wo ich noch erstklassigen kanadischen Malt-Whisky hab?«
»Hey, du irischer Tagedieb«, sagte Nico. »Wie viele Flaschen hast du für dich beiseitegeschafft?«
»Ach, halt doch die Klappe«, erwiderte Cork, »du verdammter Schweinepriester!«
Seit dem Überfall war Stevies Ausspruch immer wieder zitiert worden, und auch jetzt wurde er mit allgemeinem Gelächter belohnt. Vinnie Romero verstummte jedoch unvermittelt, als er sah, wie Luca Brasi den Club betrat. »Hey, Jungs«, sagte er zu den anderen, »schaut mal da drüben.«
Luca trug einen Frack und Hosen mit Nadelstreifen, und er war in Begleitung von Kelly O’Rourke gekommen. Am Aufschlag seiner Jacke prangte eine weiße Ansteckblume. Kelly schmiegte sich in einem enganliegenden, auf einer Seite schulterfreien Abendkleid an ihn. Eine herzförmige Diamantnadel hielt den gebauschten Stoff des Kleides über ihrer Hüfte zusammen, so dass es wie eine Schärpe wirkte. Sie folgten dem Oberkellner zu einem Tisch in der Nähe der Bühne. Als Luca Cork und die Jungs bemerkte, nickte er ihnen kurz zu, sagte etwas zu dem Oberkellner und führte Kelly dann zu ihrem Tisch hinüber. »Sieh mal einer an«, sagte er, »wenn das nicht die Turnschuhbande ist.«
Die Jungs standen alle auf, und Luca schüttelte Cork die Hand. »Und wer ist diese Verbrechervisage?«, fragte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Sonny.
»Der da?«, sagte Cork und versetzte Sonny einen Schubs. »Ach, die Flasche hängt nur hier rum und schnorrt Drinks von uns.«
»Hey!« Sonny kratzte sich am Kopf und versuchte, betrunkener zu wirken, als er war. »Was heißt denn ›Turnschuhbande‹?«
»Vergiss es«, erwiderte Cork. »Nicht der Rede wert.« An Luca gewandt sagte er: »Wer ist die schnieke Puppe?«
»Was interessiert dich das?«, sagte Luca und tat so, als versetzte er Cork einen Kinnhaken.
Kelly stellte sich vor und sagte: »Ich bin Lucas Mädchen.«
»Glückspilz«, sagte Cork zu Luca.
Kelly legte die Arme um Luca und lehnte sich an ihn, den Blick auf Sonny gerichtet. »Hey. Bist du nicht mit diesem Collegejüngelchen befreundet, Tom Irgendwas?«
»Was für ein Collegejüngelchen?«, fragte Luca, ohne Sonny die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.
»Na, so ein Jüngelchen eben«, erwiderte Kelly. »Was denn, Luca? Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein? Du weißt, dass ich dein Mädchen bin.« Sie legte den Kopf an seine Schulter.
»Ich bin auf niemand eifersüchtig, Kelly. Da kennst du mich besser.«
»Klar kenn ich dich besser.« Kelly schmiegte sich noch enger an ihn. »Na«, sagte sie an Sonny gewandt, »kennst du ihn jetzt oder nicht?«
»Tom Irgendwas?«Sonny ließ eine Hand in seiner Jacketttasche verschwinden, und ihm entging nicht, dass Luca seiner Bewegung mit den Augen folgte. »Ja, ich kenn einen Collegestudenten namens Tom.«
»Dann richte ihm doch aus, dass er sich mal melden soll«, sagte Kelly.
»Ach ja?«, sagte Luca, und mit einem Blick in die Runde: »Weiber!« Als bestünde zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis über Frauen. »Gehen wir, Puppe.« Er legte Kelly den Arm um die Taille und zog sie fort vom Tisch.
Kaum waren sie außer Hörweite, sagte Nico zu Sonny: »Verdammt, was sollte das denn?«
»Yeah, Sonny«, wollte auch Cork wissen, »woher kennt die Tom?«
Sonny ließ den Blick durch den Club schweifen und sah, dass Luca zu ihm herüberschaute. »Lasst uns verdammt noch mal von hier verschwinden.«
»Himmel Herrgott«, sagte Cork und schaute zum Ausgang hinüber. »Du zuerst. Denk daran: Wir kennen dich gar nicht.«
»Wir behalten Luca im Auge«, sagte Angelo.
Sonny stand auf, ein breites Lächeln auf den Lippen, und Cork schüttelte Sonny die Hand, als würde er sich von einem Bekannten verabschieden. Sonny sagte: »Ich warte im Wagen auf dich.«
Sonny bahnte sich langsam einen Weg zur Garderobe. Hin und wieder blieb er stehen, ließ sich absichtlich Zeit. Er wollte nicht, dass Luca den Eindruck hatte, er laufe davon. Eine Zigarettenverkäuferin in Netzstrümpfen und mit einer Pillbox auf dem Kopf kreuzte seinen Weg, und er bat sie um eine Schachtel Camels. »Sie sollten es mal mit Luckys probieren«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Die schmecken besser und sind auch noch gesund.«
»Klingt großartig«, erwiderte Sonny und ließ sich auf das Spiel ein. »Dann gib mir eine Schachtel, Puppe.«
»Bedienen Sie sich«, sagte sie, reckte ihre Brüste vor und hielt ihm das Tablett hin. »Sie sind so rund, so fest, so wohlgeformt.«
Sonny warf einen Quarter auf das Tablett. »Stimmt so.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln und schlenderte davon. Sonny blickte ihr hinterher. Vor der Bühne beugte sich Luca, in ein ernstes Gespräch mit Kelly vertieft, über den Tisch. Er sah nicht glücklich aus. »Tom«, flüsterte Sonny vor sich hin, »ich bring dich um.« Er holte Hut und Mantel und ging auf die Straße hinaus.
Der Eingang des Juke’s befand sich an der 126. West, in der Nähe der Lenox Avenue. Sonny blieb vor einer Werbetafel stehen, wickelte die Luckys aus und zündete sich eine an. Auf der Tafel wurde für Cab Calloway und sein Orchester geworben, die »Minnie the Moocher« spielten. Sonny summte »Hi di hi di hi« und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Es war noch immer Herbst, aber der Wind war bereits winterlich kalt. Hinter ihm öffnete sich die Tür des Clubs, und Musik drang auf die Straße hinaus. Ein grauhaariger Mann, der einen schwarzen Überzieher mit einem Pelzkragen trug, trat heraus und zündete sich eine Zigarre an. »Was für ein Krach!«, sagte er zu Sonny, und Sonny nickte, erwiderte jedoch nichts. Kurz darauf kam ein hagerer junger Kerl in einem Wollpullover aus dem Club. Er warf dem Typen im schwarzen Überzieher einen raschen Blick zu, und die beiden gingen zusammen davon.
Sonny folgte ihnen, bis er bei seinem Wagen war. Dann setzte er sich hinters Steuer, kurbelte das Fenster herunter und streckte sich, so gut es eben ging. Sein Kopf drehte sich ein wenig, aber als Kelly ihn nach Tom gefragt hatte, war er sofort wieder nüchtern gewesen. Vor seinem geistigen Auge sah er Kelly, wie sie den Vorhang aufzog und auf die Straße hinunterblickte. Sie hatte nur ganz kurz dort gestanden, bis Tom hinter ihr aufgetaucht war und den Vorhang zugezogen hatte, aber das hatte genügt – Sonny hatte ihren traumhaft schönen Körper gesehen, so weiß und rosafarben. Und die roten Haare! Sie hatte ein rundliches Gesicht mit roten Lippen und leicht schrägen Augenbrauen, und selbst auf die Entfernung, über die breite Eleventh Avenue hinweg und durch die Fensterscheibe, hatte er an ihr etwas zu erkennen geglaubt, das Wut ausstrahlte.
Sonny fragte sich, wie gefährlich diese Kelly O’Rourke wirklich war. Er schob sich den Hut in den Nacken und kratzte sich am Kopf. Verdammt, was hatte sie nur vor? Wahrscheinlich wollte sie Luca eifersüchtig machen. Aber warum Tom? Woher wusste sie, dass er Tom kannte? Und woher kannte sie ihn überhaupt? Wirklich merkwürdig. Frauen waren auch so schon schwer genug zu verstehen, aber das Mädchen schoss den Vogel ab. Wenn Pa davon Wind bekam, Madon’! Dann wollte er nicht in Toms Haut stecken. Pa hatte Pläne für jedes seiner Kinder. Tom sollte Rechtsanwalt werden und in die Politik gehen. Sonny sollte sich als Industrieller einen Namen machen. Michael und Fredo und Connie waren noch nicht so alt, dass ihre Zukunft festgelegt worden wäre, aber das würde noch kommen. Alle mussten das werden, was Pa von ihnen erwartete. Nur dass sich Sonny nicht mehr lange für Leo abplagen würde, so oder so. Er musste einen Weg finden, wie er mit seinem Vater reden konnte. Sonny wusste, was er tun wollte und worin er gut war. Es war noch kein Jahr her, dass er seine Gang gegründet hatte, und er hatte bereits einen Wagen, schicke Klamotten und einige Riesen unter der Matratze.
»Hey!« Cork klopfte auf der Beifahrerseite gegen das Fenster und sprang neben Sonny auf den Vordersitz.
»Minchia!« Sonny rückte seinen Hut gerade, der ihm fast vom Kopf gerutscht wäre, als er vor Schreck zusammengefahren war.
Die hinteren Türen gingen auf, und die Romero-Brüder und Nico stiegen ein. »Was war das denn?«, fragte Nico.
Sonny drehte sich um, so dass er die Rückbank im Blick hatte. »Das werdet ihr nicht glauben«, sagte er und erzählte ihnen die ganze Geschichte mit Tom und Kelly.
»Heilige Scheiße!«, sagte Vinnie. »Tom hat dieses Prachtweib gevögelt!«
»Wenn Luca das herausfindet …«, sagte Cork.
»Dann kann ihn nicht mal dein Vater retten«, ergänzte Nico.
»Was will sie damit nur erreichen?«, fragte Sonny an Cork gewandt. »Wenn sie das Luca erzählt, geht der ihr doch wahrscheinlich genauso an die Gurgel.«
»Wahrscheinlich?«, sagte Angelo. »Ich würde darauf wetten.«
»Und?« Sonny sah noch immer Cork an.
»Woher soll ich das wissen?« Cork ließ sich auf seinem Sitz zurücksinken und schob sich den Hut über die Augen. »Was für ein verdammter Mist.« Er schwieg eine Weile, und die anderen folgten seinem Beispiel. Alle warteten, ob ihm nicht vielleicht etwas einfiel. »Ich bin zu betrunken, um darüber nachzudenken«, sagte er schließlich. »Sonnyboy, tu deinem Freund Cork einen Gefallen und fahr ihn nach Hause, okay?«
»Also gut, Gentlemen …« Sonny setzte sich aufrecht hinter das Steuer. Er dachte daran, die Jungs zu ermahnen, ja niemandem etwas von Tom und Kelly zu erzählen, entschied dann aber, dass es unnötig war. Von den dreien hatte Nico die größte Klappe, und er redete kaum mehr als drei Worte mit irgendjemandem außerhalb der Gang. Das war auch einer der Hauptgründe, warum er sie ausgesucht hatte. Die Zwillinge waren dafür bekannt, dass sie nur miteinander redeten, und das nicht gerade viel. Cork war zwar ein Schwätzer, aber er war klug und zuverlässig. »Dann fahr ich jetzt mal unsere Prinzessin nach Hause.«
»Besser, wir ziehen für eine Weile die Köpfe ein, was?«, fragte Nico.
»Klar«, erwiderte Sonny. »Wie immer, wenn wir etwas durchgezogen haben. Wir haben es nicht eilig.«
Vinnie klopfte Sonny auf die Schulter und glitt aus dem Wagen. Angelo sagte: »Bis bald, Cork«, und folgte seinem Bruder. Nico setzte einen Fuß auf den Gehsteig und wies mit einer Kopfbewegung auf Cork. »Bring den verdammten Schweinepriester gut nach Hause.«
»Himmel«, sagte Cork. »Die könnten sich auch mal was anderes einfallen lassen.«
Sonny lenkte den Wagen in die 126. Straße. »Scheiße«, sagte er, »ich muss morgen arbeiten.«
Cork lehnte sich an die Tür und warf seinen Fedora neben sich auf den Sitz. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der bei einem Schulausflug eingeschlafen war. Das Hutband hatte seinen Haaren eine seltsame Form verliehen. »Hast du die Titten von dem Mädel an der Garderobe gesehen? Ich wär am liebsten da reingesprungen und so lange geschwommen, bis ich absaufe.«
»Geht das wieder los.«
Cork warf seinen Hut nach Sonny. »Was denn? Nicht allen laufen die Weiber so nach wie dir. Muss man eben seine Phantasie bemühen.«
Sonny warf den Hut zu Cork zurück. »Mir laufen die Weiber nicht nach.«
»Erzähl keinen Blödsinn. Wie viele hast du diese Woche schon flachgelegt? Komm schon, Sonny. Deinem Kumpel Cork kannst du es verraten.« Als Sonny schwieg, sagte Cork: »Und die Mieze am Tisch neben uns? Herrgott. Die hatte einen Arsch wie ein Schlachtschiff!«
Jetzt musste Sonny doch lachen. Dabei wollte er nicht, dass Cork wieder mit den Weibern anfing.
»Wo fährst du mich hin?«, fragte Cork.
»Nach Hause. Hast du doch gesagt.«
»Nee.« Cork warf seinen Hut hoch, um ihn auf seinem Kopf landen zu lassen. Als er sein Ziel verfehlte, versuchte er es erneut. »Ich will nicht zu mir nach Hause. Ich hab seit einer Woche nicht mehr abgespült. Bring mich zu Eileen.«
»Es ist nach ein Uhr, Cork. Du wirst Caitlin wecken.«
»Caitlin schläft wie eine Tote. Ich will nur Eileen wecken, und die hat nichts dagegen. Sie liebt ihren kleinen Bruder.«
»Klar«, sagte Sonny. »Sonst hat sie ja niemand mehr.«
»Erzähl keinen Mist«, erwiderte Cork. »Sie hat doch Caitlin. Und auf die Stadt verteilt rund fünfhundert Corcorans, mit denen sie entweder nahe oder entfernt verwandt ist.«
»Wenn du meinst.« Sonny hielt an einer roten Ampel, beugte sich über das Lenkrad, um einen Blick in die Nebenstraßen zu werfen, und fuhr dann weiter.
»Braver Junge«, brummte Cork. »Immer schön an die Verkehrsregeln halten.«
»Eileen hat schon öfter gesagt, dass du der Einzige bist, der ihr noch geblieben ist.«
»Iren übertreiben gerne.« Cork schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Denkst du manchmal darüber nach, dass einer von uns getötet werden könnte, Sonny? Du weißt schon, wenn wir ein Ding drehen?«
»Nein, wir sind alle kugelsicher.«
»Klar, aber denkst du darüber wirklich nie nach?«
Sonny machte sich keine Sorgen, dass er oder einer seiner Jungs getötet werden könnte. So, wie er alles plante, und wenn jeder genau das tat, was er tun sollte, dürfte es keine Schwierigkeiten geben. Er sah zu Cork hinüber. »Ich mach mir mehr Sorgen um meinen Pa. Ich hab mitbekommen, dass er Ärger mit Mariposa hat.«
»Nee«, sagte Cork, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. »Dafür ist dein Vater zu klug, und außerdem hat er eine gottverdammte Armee, die ihn beschützt. Ich hab mir sagen lassen, dass Mariposas Gang aus einem Haufen Vollidioten besteht, die nicht mal einen Türknauf gefickt kriegen.«
»Wie kommst du nur immer auf so einen Quatsch?«
»Ich hab eben Phantasie! Weißt du noch, in der achten Klasse? Mrs. Hanley? Mit einem Gesicht wie ein aufgeplatzter Kohlkopf? Die hat mich immer am Ohr gepackt und gefaucht: ›Da ist wohl mal wieder die Phantasie mit dir durchgegangen, Bobby Corcoran!‹«
Sonny hielt vor der Bäckerei Corcoran. Er blickte zu den Wohnungen über dem Laden hinauf, wo wie erwartet alle Fenster dunkel waren. Sie standen an der Ecke 43. Straße und Eleventh Avenue, direkt unter einer Laterne. Neben der Bäckerei erhob sich hinter einem schmiedeeisernen Zaun ein zweistöckiges Mietshaus aus rotem Backstein. Zwischen den Gitterstäben wuchs Unkraut, und der kleine Vorgarten rechts und links der steinernen Eingangstreppe war von Unrat übersät. Fenster und First waren mit Granit eingefasst, was dem Gebäude früher bestimmt ein helles, einladendes Aussehen verliehen hatte, aber inzwischen war der Granit nachgedunkelt, verwittert und verschmutzt. Cork schien es nicht eilig zu haben auszusteigen, und Sonny hatte auch nichts dagegen, noch ein wenig herumzuhängen.
»Hast du mitbekommen, dass Nicos Vater seinen Job verloren hat?«, fragte Cork. »Wenn Nico nicht wäre, müssten sie ins Armenhaus.«
»Und was erzählt Nico ihnen, woher das Geld stammt?«
»Sie fragen nicht. Hör zu, ich hab auf den richtigen Moment gewartet, dir das zu erzählen: Hooks möchte nicht, dass wir Mariposas Leute noch mal überfallen. Und wenn doch, sollen wir nicht mehr Luca als Mittelsmann benutzen.«
»Wieso das?«
»Zu gefährlich. Mariposa ist offenbar stinksauer.« Cork blickte auf die Straße und dann wieder zu Sonny. »Dann werden wir wohl eine Bank ausrauben oder jemand entführen müssen.«
»Wir entführen niemand«, erwiderte Sonny. »Bist du völlig bescheuert?« Als Cork nicht antwortete, fügte er hinzu: »Überlass das Planen mir. Ich lass mir schon was einfallen.«
»Gut, aber wart nicht zu lange damit. Ich komm schon klar, aber wenn die Romeros keine Kohle verdienen, landet die ganze Familie auf der Straße.«
»Himmel, sind wir das gottverdammte Arbeitsamt?«
»Irgendjemand muss ja was tun, damit sich die Wirtschaft erholt.«
Sonny und Cork sahen einander an, dann lachten beide laut los. »Wir sind der New Deal«, sagte Sonny.
Cork schob sich den Hut über die Augen. »Herrgott, bin ich besoffen.«
Sonny seufzte. »Ich muss mit Pa reden. Diese Plackerei in der Werkstatt bringt mich noch um.«
»Was willst du ihm denn erzählen?«, fragte Cork mit dumpfer Stimme – der Hut war ihm über das Gesicht gerutscht. »Dass du ein Gangster werden willst?«
»Ich bin ein Gangster«, sagte Sonny, »und er ist es auch. Mit dem Unterschied, dass er so tut, als sei er ein ganz normaler Geschäftsmann.«
»Das ist er doch auch. Er betreibt die Firma Genco Pura Olive Oil.«
»Aber klar doch. Und jeder Lebensmittelladen in der ganzen Stadt sollte besser bei ihm einkaufen oder sich eine Feuerversicherung zulegen.«
»Okay, dann ist er eben ein skrupelloser Geschäftsmann.« Cork setzte sich auf und schob sich den Hut zurück auf den Kopf. »Aber welcher erfolgreiche Geschäftsmann ist das nicht?«
»Ja, schon klar. Aber was für Geschäftsleute verdienen ihr Geld mit illegaler Lotterie, Sportwetten, Kreditwucher und wo Pa sonst noch die Finger drin hat? Warum muss er immer so tun, als wäre er etwas, das er nicht ist?« Sonny ließ sich gegen die Lehne zurückfallen und sah Cork an, als erwartete er tatsächlich eine Antwort. »Dabei landet doch jeder, der sich mit ihm anlegt, im Hudson. Wenn ihn das nicht zu einem Gangster macht, weiß ich auch nicht.«
»Für mich gibt es eh keinen Unterschied zwischen einem Geschäftsmann und einem Gangster.« Cork grinste Sonny an, und seine Augen funkelten verschmitzt. »Hast du die Romeros mit den Knarren gesehen? Heilige Scheiße!« Er hob die Hände, als würde er eine MP halten, und schrie: »Das ist deine letzte Chance, Rico! Stellst du dich freiwillig, oder müssen wir dich raustragen?« Er tat so, als feuerte er eine Salve ab, hüpfte auf seinem Sitz herum und krachte gegen das Armaturenbrett und die Beifahrertür.
Sonny stieg lachend aus. »Na los. Ich muss in ein paar Stunden bei der Arbeit sein.«
Cork schaffte es auf den Gehsteig, bevor er den Kopf hob und etwas Unverständliches brummte. Dann taumelte er gegen den Wagen zurück, brüllte »Scheiße!«, rannte zum Garten neben der Bäckerei hinüber, hielt sich an zwei Gitterstäben fest und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Über der Bäckerei ging ein Fenster auf, und Eileen streckte den Kopf heraus. »Himmel Herrgott noch mal«, sagte sie. Sie hatte das gleiche glatte, rotblonde Haar wie ihr Bruder, nur dass sie es lang trug. Im Schein der Straßenlampen wirkten ihre Augen tiefschwarz.
Sonny breitete die Arme aus, als wollte er sagen: Was soll ich machen? »Er wollte, dass ich ihn hierher fahre«, rief er, wobei er sich bemühte, nicht gleich die ganze Nachbarschaft zu wecken.
»Bring ihn rauf«, sagte Eileen und schloss das Fenster.
»Alles okay.« Cork richtete sich auf und atmete tief durch. »Schon besser.« Als Sonny ihm helfen wollte, hob er abwehrend die Hand.
Sonny schaute zu, wie Cork sich abmühte, erst den richtigen Schlüssel zu finden und ihn dann ins Schlüsselloch zu stecken. »Cazzo! Wie viel hast du denn getrunken?«
»Mach mir einfach die verdammte Tür auf, ja, Kumpel? Wenn das geschafft ist, komm ich schon alleine klar.«
Sonny nahm Cork den Schlüssel aus der Hand und schloss die Tür auf. »Die Wohnungstür ist bestimmt auch verriegelt.«
»Aye, gut möglich«, brummte Cork.
»Na, dann mal los.« Sonny legte Cork den Arm um die Taille und führte ihn die Treppe hinauf.
»Du bist ein guter Kumpel, Sonny Corleone«, sagte Cork viel zu laut.
»Brüll nicht so rum. Du weckst noch das ganze Haus.«
Eileen hörte, wie die beiden Jungs die Treppe heraufstolperten, und öffnete die Tür zu Caitlins Zimmer einen Spaltbreit, um einen Blick hineinzuwerfen. Das Kind schlief tief und fest, in den Armen eine ausgefranste gelbbraune Giraffe, die sie »Boo« nannte, wieso, wusste kein Mensch. Caitlin hatte sich kurz nach Jimmys Tod mit dem Plüschtier angefreundet, und in den Jahren seither hatte sie es immer mit sich herumgeschleppt. Sein Fell war inzwischen völlig verfilzt, die Farben waren verblasst, und es war kaum noch als Giraffe erkennbar – aber was konnte der weiche gelbbraune Stoffklumpen mit dem langen Hals, der von einem Kind umklammert wurde, schon anderes sein als eine Giraffe?
Eileen zog Caitlin die Quiltdecke bis zum Hals hoch und strich ihr durchs Haar.
In der Küche spülte sie die Kaffeekanne aus und holte eine Büchse Maxwell House aus dem Schrank. Als die Tür hinter ihr aufging und Sonny in die Küche trat, wobei er Cork fast tragen musste, drehte sie sich um und stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr beide. Schaut euch doch mal an.«
»Ach, Schwesterchen.« Cork löste sich von Sonny und bemühte sich, aufrecht zu stehen. »Mir geht’s gut.« Er nahm den Hut ab und drückte die Faust hinein.
»Ihr seht auch wirklich großartig aus«, bemerkte Eileen.
»Wir haben nur ein bisschen gefeiert«, erwiderte Sonny.
Eileen musterte ihn mit kaltem Blick. An Cork gewandt sagte sie: »Siehst du das?«, und deutete auf eine Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. »Die habe ich für dich aufgehoben.« Dann sah sie Sonny an. »Für euch beide.«
Cork trat vorsichtig an den Tisch, beugte sich über die Zeitung und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Bild eines elegant gekleideten jungen Mannes, der auf der Straße lag. Offenbar hatte ihm jemand eine Kugel in den Kopf gejagt. Ein kreisrunder Strohhut lag auf dem Gehsteig neben ihm. »Ach, das ist der Mirror«, sagte Cork. »Die suchen sich immer was Sensationelles.«
»Klar«, sagte Eileen. »Und mit dir hat das rein gar nichts zu tun, was?«
»Ach, Schwesterchen«, sagte Cork und drehte die Zeitung um.
»Komm mir nicht mit ›Schwesterchen‹. Du weißt genau, was ich meine.« Eileen drehte die Zeitung wieder auf die Vorderseite. »In genau solche Sachen bist du verwickelt. Und genau so wirst du enden.«
»Ach, Schwesterchen.«
»Und ich werde dir nicht eine Träne nachweinen, Bobby Corcoran.«
»Ich geh dann mal besser.« Sonny stand mit dem Hut in der Hand neben der Tür.
Eileen wandte sich zu ihm um, und ihr Blick wurde etwas weicher. »Ich setze frischen Kaffee auf«, sagte sie und machte sich an der Spüle zu schaffen.
»Nee«, sagte Cork, »nicht für mich. Ich bin völlig fertig.«
»Ich muss morgen früh arbeiten«, sagte Sonny.
»Na schön«, sagte Eileen. »Dann mach ich eben mir welchen. Nachdem ihr mich aus dem Bett geholt habt«, sie warf Cork einen vorwurfsvollen Blick zu, »kann ich jetzt eh nicht mehr schlafen.«
»Ach, Schwesterchen. Ich wollte doch nur Caitlin sehen und mit ihr frühstücken.« Cork ließ den Tisch los, an dem er sich mit beiden Händen festgehalten hatte, machte einen Schritt Richtung Spüle und stolperte. Sonny fing ihn gerade noch auf, bevor er zu Boden ging.
»Himmel Herrgott«, sagte Eileen, und zu Sonny: »Bring ihn ins hintere Zimmer, ja? Das Bett ist gemacht.«
»Danke, Schwesterchen. Mir geht’s gut.« Cork rückte seinen Hut gerade, der ihm in den Nacken gerutscht war, als er das Gleichgewicht verloren hatte.
»Gut«, sagte Eileen. »Schlaf dich erst mal aus, Bobby. Dann kannst du in Ruhe mit uns frühstücken.«
»In Ordnung«, sagte Cork. »Nacht, Eileen.« Zu Sonny: »Ich komm schon klar. Hau ruhig ab. Wir quatschen morgen weiter.« Vorsichtig machte er einen Schritt auf Eileen zu, küsste sie auf die Wange – was sie regungslos hinnahm –, ging ins Hinterzimmer und schloss die Tür.
Sonny wartete, bis er hörte, wie Cork sich aufs Bett fallen ließ, dann trat er zu Eileen an die Spüle und legte die Arme um sie.
Hastig schob sie ihn von sich fort. »Bist du verrückt?«, flüsterte sie. »Mit meinem Bruder in einem Zimmer und meiner Tochter im anderen? Hast du völlig den Verstand verloren, Sonny Corleone?«
»Ich bin verrückt nach dir, Puppe«, flüsterte Sonny.
»Psst«, zischte sie. Dabei sprachen sie bereits sehr leise. »Geh jetzt bitte. Geh nach Hause.« Mit diesen Worten schob sie ihn zur Tür.
»Wie immer am Mittwoch?«, fragte Sonny im Flur.
»Klar.« Eileen schaute sich rasch im Treppenhaus um und küsste Sonny dann flüchtig auf den Mund. »Jetzt hau schon ab. Und fahr vorsichtig.«
»Mittwoch«, flüsterte Sonny.
Eileen sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterstieg. Er hielt den Hut in der Hand und nahm zwei Stufen auf einmal. Er war groß und breitschultrig, mit hinreißenden schwarzen Locken. Auf dem unteren Treppenabsatz blieb er stehen und setzte den Hut auf, der im Schein der Straßenlaterne, der durch die Scheibe in der Haustür fiel, bläulich schimmerte. In dem Moment sah Sonny aus wie ein Filmstar: attraktiv und geheimnisvoll. Ganz eindeutig nicht wie ein siebzehnjähriger Junge, ein Freund ihres kleinen Bruders, den sie kannte, seit die beiden in kurzen Hosen herumgerannt waren. »O Gott«, flüsterte sie bei sich, während Sonny auf die Straße verschwand. Sie wiederholte es, draußen im Treppenhaus, und fügte dann hinzu: »Steh mir bei«, bevor sie die Wohnungstür schloss und verriegelte.