Sean zupfte ein abgeplatztes Stück gelbe Farbe von der Wand und wartete, bis die Dampflokomotive, die über die Schienen auf der Eleventh Avenue klapperte, vorbei war. Dann klopfte er noch einmal an Kellys Tür. Während der letzten Stunden war er mit der Straßenbahn durch die Stadt gefahren, weil er nicht nach Hause gehen und Willie und Donnie gegenübertreten wollte. Die ganze Nacht konnte er sich jedoch nicht so herumtreiben – und sie hatten ihm ja auch gesagt, er solle verschwinden, oder etwa nicht? Trotzdem, er wollte sie jetzt noch nicht sehen. »Kelly«, rief er durch die geschlossene Tür. »Ich weiß, dass du da bist. Ich hab dich von der Straße aus am Fenster gesehen.« Er drückte ein Ohr an die Tür und hörte eine Matratze knarren, dann klirrte Glas gegen Glas. Vor seinem geistigen Auge sah er den toten Luca Brasi vor seiner Wohnungstür am Boden liegen, und er fragte sich, ob Donnie dem Schweinehund wirklich den Schwanz abgeschnitten hatte. Luca Brasi, den eigenen Schwanz ins Maul gestopft – ein Bild für die Götter! Sean strich sich mit den Fingern durchs Haar und legte die Hand auf die Pistole in seiner Tasche, als ihm einfiel, was Willie gesagt hatte: Ab morgen sind sämtliche Makkaronis der Stadt hinter unseren irischen Ärschen her … »Kelly«, sagte er flehentlich. »Jetzt komm schon. Dein Bruder steht hier draußen!«
Als die Tür schließlich aufging, trat er einen Schritt zurück und hob die Hände vors Gesicht. »Gütiger Himmel«, sagte er in die Dunkelheit hinein.
»Tja«, flüsterte Kelly, »du wolltest mich sehen, Sean. Hier bin ich.« Mit der einen Hand hielt sie die Tür auf, mit der anderen stützte sie sich am Rahmen ab. Ihre Augen waren beide blau, ihre Wangen angeschwollen, und auf ihrer Stirn zog sich eine rote Schnittwunde bis unter ihr Haar. Sie trug ein Paar hellrote Schuhe und ein weißes Männerhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Der Größe nach gehörte es offenbar Luca – die Hemdzipfel reichten ihr bis zu den Waden. »Herrgott noch mal, Sean, heul hier nicht rum ja? So schlimm ist es nicht.«
Sean ließ die Arme sinken und biss sich auf die Lippen, während er sie eingehend musterte. »Heilige Mutter Maria«, sagte er. »Kelly.«
Kelly grinste spöttisch und verzog dann das Gesicht – anscheinend tat ihr selbst diese Bewegung weh. »Was willst du, Sean? Ich dachte, die Familie hätte mit mir abgeschlossen.«
»Du weißt, dass das nicht meine Idee war.« Er warf an ihr vorbei einen Blick in das Apartment. »Kann ich reinkommen?«
Kelly ließ den Blick über ihr Zimmer schweifen, als hätte es sich plötzlich in etwas Einladendes verwandelt. »Klar. Willkommen in meinem Palast.«
Sean trat ein und suchte nach einem Platz, um sich hinzusetzen. Kelly hatte keinen Küchentisch und keine Stühle, nicht einmal eine richtige Küche, nur eine Spüle und ein paar Schränke mit einem angedeuteten Türbogen, der die Küchenzeile vom Schlafzimmer trennte. Dort stand ein kleines Bett mit einem wackligen Nachttisch und vor dem Fenster, das auf die Eleventh Avenue hinausging, ein großer Polstersessel. Auf dem Sessel stapelten sich bis zu den Armlehnen Zeitschriften und Kleider. Auch der Boden war mit allem möglichen Kram bedeckt, und Sean versetzte dem Zeitschriftenstapel einen beiläufigen Tritt. Die Gesichter von Hollywoodstars starrten ihn an: Jean Harlow, Carol Lombard, Fay Wray. Als er sich umwandte, hatte sich Kelly gegen die geschlossene Tür gelehnt und beobachtete ihn. Ihr Hemd stand halb offen, und er konnte mehr von ihren Brüsten sehen, als ihm lieb war. »Mach doch mal die Knöpfe zu, Kelly, ja?« Er deutete auf ihren Ausschnitt.
Kelly zog das Hemd zu und fummelte an den Knöpfen herum, kam jedoch nicht weiter damit.
»Ach, Kelly«, sagte Sean. »Bist du jetzt schon zu besoffen, um dir dein Hemd zuzuknöpfen?«
»Ich bin nicht besoffen«, erwiderte Kelly mit gedämpfter Stimme, als würde sie mit sich selbst reden und nicht mit Sean.
»Nee, deine Finger kommen nur nicht mit den Knöpfen klar.« Sean trat zu ihr und knöpfte ihr das Hemd zu, als wäre sie ein kleines Mädchen. »Schau dich doch an, Kelly!« Tränen traten ihm in die Augen.
»Wann wirst du endlich erwachsen, Sean?« Kelly stieß ihn von sich weg und legte sich wieder ins Bett. Sie zog sich eine rote Decke bis über die Taille und schob sich ein Kissen unter den Kopf. »Jetzt bist du also hier …« Sie beugte sich vor, als wollte sie ihn fragen, was er wollte.
Sean räumte den Sessel frei und schob ihn neben das Bett. »Kelly«, sagte er und ließ sich auf den Sessel sinken, als wäre er völlig erschöpft. »Schwesterchen, so kannst du doch nicht leben.«
»Nicht? Soll ich zu euch zurück und wieder für euch kochen und putzen? Wie ein Dienstmädchen nach eurer Pfeife tanzen? Nein danke, Sean. Bist du deshalb hergekommen? Um mich nach Hause zurückzuholen?«
»Nein, deshalb bin ich nicht hier. Ich mach mir Sorgen um dich. Schau dich doch an!« Er lehnte sich zurück, wie um sie besser betrachten zu können. »Du siehst aus, als gehörst du ins Krankenhaus, und stattdessen liegst du rum und besäufst dich.«
»Ich bin nicht betrunken«, erwiderte sie. Auf dem Nachttisch neben ihr stand eine fast volle Flasche Roggenwhisky und ein leeres Glas. Sie schenkte sich ein, und Sean riss ihr das Glas aus der Hand, bevor sie es an die Lippen führen konnte.
»Was willst du, Sean? Sag mir, was du willst, und dann lass mich in Ruhe.«
»Warum bleibst du bei jemand, der dich prügelt wie einen Hund?« Sean stellte das Glas auf den Nachttisch. Da bemerkte er das kleine Fläschchen mit den schwarzen Pillen und nahm es in die Hand. »Und was ist damit?«
»Ich hab’s verdient«, sagte Kelly. »Du weißt doch gar nicht, was passiert ist.«
»Du klingst wie Mom, wenn Dad sie mal wieder verdroschen hat.« Er schüttelte die Pillen und sah sie fragend an.
»Die hat Luca mir besorgt«, sagte sie und nahm ihm das Fläschchen aus der Hand. »Wegen der Schmerzen.« Sie ließ zwei schwarze Pillen in ihre Hand rollen, steckte sie sich in den Mund und spülte sie mit Whisky hinunter.
»Kelly, ich bin nicht hier, um dich nach Hause zu holen. Donnie würde das sowieso nicht zulassen.«
Kelly ließ sich auf das Bett zurücksinken und schloss die Augen. »Warum dann?«
»Schau mich an«, sagte Sean. »Ich bin hier, weil ich dir sagen wollte, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst.«
Kelly lachte und drehte sich auf die Seite. »Du bist ein großes Kind, Sean O’Rourke. Schon immer gewesen.« Sie strich ihm über die Hand und schloss wieder die Augen. »Geh jetzt und lass mich schlafen. Ich bin müde. Ich brauch meinen Schönheitsschlaf.« Kurz darauf wich die Anspannung aus ihrem Körper und sie war eingenickt.
»Kelly«, sagte Sean. Als sie nicht antwortete, legte er ihr die Finger auf den Hals. Ihr Pulsschlag war kräftig und regelmäßig. »Kelly«, sagte er noch einmal. Er nahm eine der Pillen aus der Plastikflasche, betrachtete sie eingehend und tat sie dann wieder zurück. Auf der Flasche war kein Etikett. Er strich Kelly die Haare aus der Stirn – die Schnittwunde war lang und verlief fast bis zum Scheitel. Obwohl sie mit Schorf überzogen war und hässlich aussah, war sie offenbar nicht tief. Er deckte Kelly zu, zog ihr die Schuhe aus und stellte sie ordentlich neben das Bett. Als er die Wohnung verließ, vergewisserte er sich, dass er die Tür ins Schloss gezogen hatte.
Auf der Straße blies vom Hudson ein rauher Wind herüber. Sean schlug den Kragen seiner Jacke hoch und eilte nach Hause, stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und marschierte die Treppe hinauf. In der Küche saß seine Mutter am Tisch, die Comicseite des New York American vor sich ausgebreitet. Sie war schon immer eine zerbrechliche Frau gewesen, aber mit den Jahren war sie hager geworden, und vor allem der Anblick ihres Halses war nur schwer zu ertragen – die Sehnen und Hautlappen sahen aus wie der Hals eines Huhns. Wenn sie über einen Comic lächeln musste, leuchteten ihre Augen jedoch immer noch wie früher. Seans Vater war nirgendwo zu sehen; wahrscheinlich lag er im Bett, eine Flasche Whisky auf dem Nachttisch und ein Glas in der Hand. »Mom«, sagte Sean, »wo sind Willie und Donnie?«
Seine Mutter blickte von der Zeitung auf. »Krazy Kat«, sagte sie, wie um ihr Grinsen zu erklären. »Die Jungs sind oben auf dem Dach. Treiben irgendwelchen Schabernack mit den dummen Vögeln. Bei dir alles in Ordnung, Sean? Du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen.«
»Nee, alles in Ordnung, Mom.« Sean legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Wange. »Ich hab kurz bei Kelly vorbeigeschaut.«
»Aha. Und wie geht’s ihr?«
»Trinkt immer noch zu viel.«
»Sicher«, brummte seine Mutter und wandte sich wieder der Comicseite zu, als wäre damit alles gesagt.
Auf dem Dach traf Sean Willie und Donnie dabei an, wie sie neben dem Taubenschlag auf Strohballen hockten. Der Boden des Käfigs, der aus Holz und Hühnerdraht zusammengeschustert war, war mit frischem Stroh ausgelegt. Donnie und Willie saßen nebeneinander, rauchten und ließen den Blick über die Dächer schweifen. Der Wind blähte ihre Jacken und brachte ihre Haare durcheinander. Sean ließ sich ihnen gegenüber auf dem Rand des Daches nieder. »Und? Habt ihr’s durchgezogen?«
»Der Bastard hatte Glück«, erwiderte Donnie. »Er hatte seine ganze verfluchte Gang dabei.«
»Ich hab ein paar von ihnen erwischt«, sagte Willie.
»Was denn? Habt ihr euch eine Schießerei mit denen geliefert?«
Donnie sah Willie an und nickte. »Dein Bruder ist ein verdammter Idiot.«
Willie grinste. »Ich bin ein bisschen wütend geworden.«
»Wir waren schon auf dem Dach und wollten abhauen, und da sagt dein verrückter Bruder plötzlich, ich soll ihm meine Pistole geben. Also geb ich sie ihm, und bevor ich kapier, was los ist, spielt er den beschissenen Cowboy.«
»Ich wollte den Bastard umbringen!«
»Und, hast du ihn erwischt?«, fragte Sean.
Willie schüttelte den Kopf und zog verbissen an seiner Zigarette. »Ich hab gesehen, wie er uns auf dem Dach nachgerannt ist. Da war ich schon außer Sicht auf dem nächsten Dach, auf der Feuertreppe – aber der Kerl ist so riesig, den kannst du nicht übersehen.« An Donnie gewandt fügte er hinzu: »Ich bin sicher, dass er das war.«
»Wirklich schade«, sagte Sean.
»Ich hab mindestens zwei von denen getroffen«, sagte Willie. »Ich hab sie jaulen hören, und dann sind sie zu Boden gegangen.«
»Meinst du, du hast sie getötet?«
»Hoffentlich.« Willie ließ seine Zigarette auf die Teerpappe fallen und trat sie aus. »Ich hasse diese verdammten Makkaronis, alle miteinander.«
»Und was jetzt?« Sean zog seine Pistole aus der Tasche und legte sie neben sich auf den Dachsims. »Ist Luca jetzt hinter uns her?«
»Nein. Noch nicht, jedenfalls«, sagte Willie. »Ich war im Halbdunkel und hatte mir die Mütze ins Gesicht gezogen. Der hat keine Ahnung, wer da auf ihn geballert hat.«
»Noch nicht?«, fragte Sean. Er beugte sich vor, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten.
Donnie stand auf und setzte sich, Willie gegenüber, neben Sean. »Wirklich Pech, dass wir ihn nicht erwischt haben. Jetzt wird alles nur noch schwieriger.«
»Scheiß drauf«, sagte Willie.
»Du willst es noch mal versuchen?«, fragte Sean.
»Er oder wir, Sean.« Donnie drehte sich um und schaute auf die Straße hinunter, wo ein Auto hupte, weil McMahons Karren mit Metallschrott ihm den Weg versperrte. »Pete Murray und die Donnellys halten zu uns. Und Little Stevie und Corr Gibson auch.« Er nahm Seans Pistole zur Hand und betrachtete sie eingehend. »Den Makkaronis werden wir schon beibringen, dass wir uns nicht mit dem Dreck zufriedengeben, den sie uns übrig lassen – angefangen mit Luca Brasi.« Er reichte Sean seine Pistole.
Sean steckte sie wieder zurück in die Jackentasche. »Ich bin dabei«, sagte er. »Diesem Bastard muss jemand das Maul stopfen!«
Donnie zündete sich noch eine Zigarette an. Er wandte dem Wind den Rücken zu und legte die hohle Hand um das Streichholz. Willie und Sean kramten beide auch Zigaretten heraus und beugten sich zu Donnies Streichholz hinüber. Dann hingen sie alle ihren Gedanken nach, während der Wind um sie herum ächzte und pfiff.