3. KAPITEL
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Chloe.“
Chloe setzte die Reisetasche ab und wandte sich Lucia zu, die sie fassungslos anstarrte. Chloe hatte sich entschieden, doch zur Ranch zurückzufahren, anstatt in aller Herrgottsfrühe durch die Dunkelheit zu irren. „Komm schon, Lou. So ernst ist es auch wieder nicht. Ich tue Ramsey Westmoreland einen Gefallen, dann tut er mir vielleicht auch einen.“
Lucia verdrehte die Augen. „Das wird er aber anders sehen. Dir ist klar, dass du nicht nur seine Privatsphäre verletzt, sondern überaus hinterlistig bist.“
„Das bin ich nicht.“
„Doch, bist du. Was meinst du, was los sein wird, wenn er erst die Wahrheit erfährt? Im Gegensatz zu dir lebe ich in dieser Stadt. Während du wieder im sonnigen Florida sein wirst, werde ich den Zorn der Westmorelands zu spüren bekommen. Die halten wie Pech und Schwefel zusammen, wenn einer von ihnen Ärger hat.“
Chloe verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihre beste Freundin vielsagend an. „Und speziell bei welchem der Westmorelands machst du dir Sorgen, dass er wütend auf dich sein könnte, Lucia?“
Chloe wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, als sie sah, wie nervös Lucia auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.“
Chloe hatte keine Lust, ihr das zu glauben. „Ach ja, richtig. Aus einem bestimmten Grund willst du nicht, dass ich mich mit den Westmorelands einlasse. Gib es zu. Welcher ist es?“
Widerwillig sah Lucia sie an und erwiderte leise: „Ramseys Bruder. Derringer.“
Verblüfft starrte Chloe sie an. Ihre Freundin sah derart verliebt aus, dass es fast schon wehtat, sie anzusehen. „Derringer Westmoreland? Seit wann denn das?“
Sie kannte Lucia seit ihrem ersten Collegejahr, aber der Name dieses Mannes war noch nie gefallen. Lucias Gesichtsausdruck nach zu urteilen, waren die Gefühle, die sie für diesen Mann empfand, jedoch sehr tief und nicht mehr neu.
Verhalten lächelnd antwortete Lucia. „Ich liebe ihn schon, seit ich zurückdenken kann.“
Das saß. „Und warum erfahre ich dann erst jetzt von ihm?“
Lucia zuckte die Schultern. „Weil es keinen Grund gab, von ihm zu erzählen. Schon in der Schule war ich verliebt in ihn. Allerdings war ich für ihn immer nur eine Freundin seiner Schwester. Ich dachte, dass ich ihn vergessen würde, als ich von zu Hause ausgezogen bin, um aufs College zu gehen. Aber als ich vor Jahren zurückgekommen bin, habe ich gemerkt, dass ich mich immer noch zu ihm hingezogen fühle.“
Lucias Augen begannen zu leuchten. „Letzten Monat sind wir uns über den Weg gelaufen und haben ein paar Worte miteinander gewechselt.“ Sie lächelte. „Und dann hat er mich gefragt …“
„Ob du mit ihm ausgehst?“, unterbrach Chloe sie aufgeregt.
„Schön wär’s. Er kam in das Malergeschäft meines Vaters, als ich gerade hinter der Ladentheke stand. Derringer bat mich, ihm einen Eimer Farbverdünner zu verkaufen.“
Chloe hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.
„Da ich jetzt weiß, was du für Derringer Westmoreland empfindest, werde ich Ramsey so schnell wie möglich aufklären. Allerdings möchte ich damit noch so lange warten, bis ich ihn so weit habe, dass er mir ebenfalls entgegenkommt. Ist das für dich okay?“
Lucia nickte. „Ich weiß, wie wichtig das Coverfoto von Ramsey Westmoreland und ein Artikel über ihn für dich sind.“
Chloe blickte Lucia an und lächelte. „Keine Sorge. Unterm Strich werden wir beide bekommen, was wir wollen.“
Ramsey sah von seiner Lektüre am Schreibtisch auf. Er überlegte, in die Küche zu gehen und sich den Rest des Pfirsichkuchens zu holen. Das Dessert war so köstlich gewesen, dass er Lust darauf bekam, wenn er nur daran dachte.
Aber das Wasser lief ihm noch bei einem ganz anderen Gedanken im Mund zusammen. Um genau zu sein, beim Gedanken an eine bestimmte Person. Chloe Burton. Sie sah so appetitlich aus. Er lehnte sich im Bürosessel zurück. Unwillkürlich musste er an einen knackigen Po in gut sitzenden Jeans und an wohlgeformte Brüste unter einer Seidenbluse denken. Das Bild, das vor seinem geistigen Auge auftauchte, erregte ihn.
Verdammt.
Vielleicht wäre ein Bier jetzt doch besser als ein Stück Kuchen. Also stand er auf und machte sich auf den Weg in die Küche. Einen kurzen Moment später lehnte er am Kühlschrank und trank einen Schluck kühles Bier. Als er seinen Blick durch die Küche schweifen ließ, fiel ihm auf, wie still es war. Normalerweise genoss er die Stille, doch aus irgendeinem Grund hielt er sie an diesem Abend nicht besonders gut aus.
Während er auf den Steinboden starrte, dachte er an seinen Großvater Raphael Westmoreland. Dieser hatte über achtzehnhundert Morgen Land am Stadtrand von Denver besessen. An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatte jeder Westmoreland einhundert Morgen geschenkt bekommen. Das war der Grund, warum er, seine Brüder und seine Cousins so dicht nebeneinander wohnten. Sein ältester Cousin Dillon hatte zusätzlich die Shady Tree Ranch, den Familiensitz der Familie Westmoreland, geerbt. Das imposante Haus war auf über einhundert Morgen Land errichtet worden. Alle wichtigen Familienfeste fanden dort statt. Seit Dillon mit Pamela verheiratet war, kamen die Westmorelands wieder häufiger zusammen, um zu feiern oder Zeit miteinander zu verbringen.
Als es an der Tür klopfte, sah Ramsey auf und warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war schon fast elf. Allerdings hatten sich seine Geschwister oder Cousins noch nie davon abhalten lassen, zu später Stunde vorbeizuschauen. Kopfschüttelnd ging er zur Tür. Wahrscheinlich war es seine Schwester Megan, die von ihrer Schicht als Narkoseärztin im Krankenhaus kam.
Ohne zu fragen, wer draußen war, riss er die Eingangstür weit auf. Vor ihm auf der Veranda stand Chloe Burton mit Gepäck in der Hand. Er war so überrascht, sie zu sehen, dass es ihm die Sprache verschlug.
Er sah, dass sie nervös auf der Unterlippe kaute. Auch wenn ihn dieser Anblick alles andere als kaltließ, war es doch etwas anderes, das ihn faszinierte. Ihr Outfit. Sie trug einen aufreizenden Minirock und darunter bedauerlicherweise ein Paar Leggins. Er hätte alles dafür gegeben, ihre nackten Beine zu sehen. Was für ein Jammer. Trotzdem sah sie immer noch verflucht sexy aus. Und zwar so sehr, dass er sich am liebsten auf sie gestürzt hätte. Jetzt hatte er ein Problem.
„Ich weiß, ich habe zwar gesagt, ich komme erst morgen früh wieder. Aber ich hielt es für klüger, doch hier zu übernachten. Schließlich habe ich eine Menge vorzubereiten, wenn die Männer schon um fünf Uhr frühstücken. Also … da bin ich.“
Ja, da war sie. Und obwohl er sich wünschte, dass es nicht so wäre, wirbelten unanständige Gedanken durch sein Hirn. Er versuchte hartnäckig, nicht auf das klopfende Gefühl zu achten, das eine bestimmte Gegend seines Körpers peinigte. Ebenso wenig versuchte er, auf das Pochen seines Herzens zu hören. Aber es gelang ihm nicht.
Sie starrte ihn an, er starrte sie an, und plötzlich wurde er von einem Begehren der heftigsten Art gepackt. Wahrscheinlich hätte er seiner Intuition folgen und die Agentur anrufen sollen, um nach Ersatz für den nächsten Morgen zu fragen. Doch etwas in ihm hatte sich geweigert. Nur ungern gestand er sich ein, dass er sich darauf gefreut hatte, sie wiederzusehen. Jetzt, wo sie wirklich vor ihm stand, war er allerdings völlig überfordert.
Fragend blickte Chloe ihn an. „Bitten Sie mich jetzt rein, oder soll ich die ganze Nacht hier draußen bleiben?“
In diesem Augenblick musste er schließlich doch lächeln. Sie war ja fast so schlimm wie Bailey mit ihrem losen Mundwerk. Und doch konnte er nicht anders, als immer wieder ihre Lippen anzusehen. Sein Atem ging plötzlich heftiger, als sie sich mit der Zungenspitze die Unterlippe befeuchtete.
Auf die Hitze, die sich daraufhin in ihm ausbreitete, versuchte er nicht zu achten. „Natürlich müssen Sie das nicht“, sagte er, nahm ihr das Gepäck ab und trat zur Seite.
„Sehr nett, vielen Dank“, entgegnete sie und betrat das Haus.
Jede Zelle in Ramseys Körper spielte verrückt, als er hinter ihr herging und ihren Duft tief einatmete. Was immer sie für ein Parfum trug, es wirkte wie ein Aphrodisiakum und brachte sicherlich jeden Mann um den Verstand.
Sie drehte sich um und blickte ihn an. „Und wo ist mein Zimmer?“
Er lächelte. „Oben. Bitte folgen Sie mir.“ Ein Teil von ihm wünschte sich, sie in sein Schlafzimmer zu führen anstatt ins Gästezimmer. Verflucht, jetzt könnte er noch ein Bier vertragen.
Während sie zur zweiten Etage hinaufgingen, sagte sie: „Nett hier.“
Er blickte über die Schulter. „Sie haben das doch alles schon gesehen.“
Erstaunt sah Chloe ihn an. „Nein, habe ich nicht. Als ich heute Morgen das Haus betreten habe, hatte ich keine Zeit herumzuschnüffeln. Schließlich wurde ich in der Küche gebraucht.“
Er fragte sich, ob sie die Wahrheit sagte. Als er sich erneut umblickte, sah er, wie sie einen neugierigen Blick in die Zimmer warf, an denen sie vorbeigingen. Insgesamt hatte er fünf Gästezimmer mit eigenen Badezimmern. Seine Schwester Gemma kümmerte sich begeistert um die Innenausstattung des Hauses.
„Entschuldigen Sie, war nicht so gemeint“, sagte er.
Als sie zu ihrem Gästezimmer kamen, trat er zur Seite, um ihr den Vortritt zu lassen. Ein Blick in ihr Gesicht verriet ihm, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Es gefiel ihr. Das hieß also, sie liebte Spitze, Rüschen und Pastellfarben. Während sie in der Mitte des Zimmers stand und sich beeindruckt umsah, legte er ihr Gepäck auf dem Bett ab.
Eigentlich wollte er ihr eine gute Nacht wünschen und gehen. Doch etwas in ihrem Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. Sie schien völlig begeistert zu sein. Das war verständlich, denn Gemma hatte bei der Einrichtung ganze Arbeit geleistet. Er gab gerne zu, dass seine Schwester wirklich ein Händchen dafür hatte.
Gemma hatte nie etwas anderes als Innenarchitektin werden wollen. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie sie ihm Vorhänge für seinen allerersten Wagen – einen großen roten Chevy – genäht hatte. Da war sie acht Jahre alt gewesen. Um ihre Gefühle nicht zu verletzen, hatte er die Vorhänge ins Rückfenster geschoben, damit seine Freunde sie nicht entdeckten.
„Wer immer dieses Zimmer eingerichtet hat, hat großartige Arbeit geleistet“, sagte Chloe und blickte zu Ramsey hinüber.
Chloe bemerkte, dass er sie genauso intensiv ansah, wie er es schon am Morgen getan hatte. Er wurde auch nicht unsicher, als sie seinen Blick erwiderte. Sie gab es nur ungern zu, aber etwas geschah gerade zwischen ihnen. Ein eindeutiges Zeichen dafür war die Hitze, die durch ihren Körper pulsierte. Sie brauchte sich nichts vorzumachen, sie reagierte auf ihn.
Während sie ihn betrachtete, stellte sie erleichtert fest, dass sie nicht die Einzige war, die die Wirkung dieses Moments spürte. Er war ebenfalls erregt. Und zwar sehr. Er hatte keine Chance, es vor ihr zu verbergen, geschweige denn es zu versuchen. Sie ließ ihren Blick langsam wieder nach oben schweifen und sah ihn an. Im Funkeln seiner dunklen Augen lag etwas Atemberaubendes. Es war das Versprechen exzessiver und lustvoller Nächte, in denen er ihr mit leidenschaftlichen Küssen auf ihre Lippen, ihren Oberkörper und die Oberschenkel süße Freuden bescheren würde. Bei dem Gedanken daran, dass all diese Verheißungen, die in seinem Blick lagen, wahr werden könnten, stockte ihr der Atem.
Doch neben all diesen Versprechen war da war noch etwas anderes. Eine Art Warnung. Er gab ihr auch zu verstehen, dass sie sich in Acht nehmen und ihn besser nicht reizen sollte.
„Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie auspacken können“, erklärte er schließlich. Das gefährliche Knistern, das die ganze Zeit in der Luft gelegen hatte, war schlagartig verschwunden.
Chloe nickte. Ihre Fähigkeit zu sprechen schien ihr völlig abhandengekommen zu sein.
„Gute Nacht, Chloe. Ich sehe Sie dann morgen früh.“
Sie stand einfach nur da und starrte ihm nach, nachdem er den Raum verlassen hatte.
Jetzt führte kein Weg mehr daran vorbei. Chloe muss wieder verschwinden, dachte Ramsey, als er Stunden später nervös durch sein Zimmer tigerte. Das, was vorhin im Gästezimmer geschehen war, war absolut unangebracht gewesen. Aber was noch viel schlimmer war: Es irritierte ihn maßlos. Er hätte einfach auf sie zugehen und sie an sich reißen können. Hätte ihr einen leidenschaftlichen Kuss geben und sein Verlangen stillen können. Dieses quälende Verlangen. Die Vorstellung, wie ihre Zungen sich umspielten und er sie fest im Arm hielt, ließ ihn vor Erregung erzittern.
Woher, zum Teufel, kam diese Lust, die ihn nahezu willenlos machte? Die seinen Körper und seinen Verstand überwältigte und ihn an nicht ganz jugendfreie Dinge denken ließ? Er holte tief Luft und nahm sich vor, die Situation sachlich zu betrachten. Erst mal musste er herausfinden, wie es so weit hatte kommen können. Ihm war die erotische Spannung, die von Beginn an zwischen ihnen geherrscht hatte, nicht entgangen. Schon bei ihrer allerersten Begegnung hatte sein Blut förmlich zu kochen begonnen. Jede Nervenfaser, jeder Muskel hatten auf sie reagiert.
Während des Lunchs war es ihm ähnlich ergangen. Callum und die anderen Männer hatten natürlich bemerkt, dass er sie angestarrt hatte. Und weil ihm dieses Verhalten gar nicht ähnlich sah, hatten sie vermutlich gedacht, dass er als Boss Anspruch auf sie erhob. Tat er das denn?
Aufstöhnend fuhr er sich durchs Haar und fluchte still vor sich hin. Während er hier gegen seine Erregung ankämpfte und ruhelos umherlief, lag sie wahrscheinlich schon unter ihrer Decke und schlummerte.
Von allen vier Brüdern war er derjenige, der sich von Frauen nicht so schnell beeindrucken ließ. Seine Geschwister befürchteten mittlerweile, dass er seine Zeit lieber seinen Schafen als der Suche nach einer neuen Liebe widmete. Wenn er an die letzten Jahre dachte, in denen er sich ausschließlich auf die Schafzucht konzentriert hatte, stimmte das wahrscheinlich sogar.
Oft genug hatte er seinen Brüdern und Cousins erklärt, dass Danielle McKay, die ihn vor dem Altar hatte stehen lassen, nicht der Grund war, warum er darauf verzichtete, Frauen mit ins Bett zu nehmen. Wirklich traurig an der ganzen Sache mit Danielle war eigentlich nur, dass seine Familie sie gemocht hatte. Zumindest bis sie erfahren hatte, warum Danielle sich für ein „Es tut mir leid“ anstatt für ein „Ja, ich will“ entschieden hatte.
Kurz nach dem Desaster hatte Danielle ihm eine Affäre gestanden, durch die sie schwanger geworden war. Immerhin hatte sie die Größe gehabt, die Hochzeit abzublasen. Seine Familie wusste bis heute nicht, dass er Danielle das Eheversprechen nicht aus Liebe, sondern bloßem Pflichtgefühl gegeben hatte. Wirklich geliebt hatte er sie nicht. So gesehen hatte er Glück im Unglück gehabt.
Ramsey holte tief Luft und seufzte. Theoretisch wäre die Erinnerung an Danielle das beste Mittel gewesen, um seine Erregung abklingen zu lassen. Doch nichts dergleichen geschah. Also hatte der Gedanke an Chloe eine wesentlich stärkere Wirkung als der an Danielle. Danielle hätte es niemals geschafft, ihn ohne eine einzige Berührung so zu entflammen.
Leise fluchend legte Ramsey sich schlafen. Der nächste Tag würde sehr anstrengend werden. Denn seine neugierige Familie bombardierte ihn bereits jetzt mit Fragen über die hübsche neue Köchin. Die Nachricht über sie hatte die Runde gemacht. Wahrscheinlich wurden bereits Wetten darüber abgeschlossen, wie lange es noch dauern mochte, bis sie bei ihm einzog.
Für ihn war das keine Frage. Denn schließlich war sie schon wieder so gut wie draußen. Er war fest entschlossen, die Agentur anzurufen und einen Ersatz für sie anzufordern.