Zufallsernte
Pechschwarzer Winter. Seit wir nur noch zu dritt waren, kamen wir mit den Vorräten länger aus. Der Gedanke verlieh jedem Bissen einen bitteren Geschmack. Mein Körper war vergiftet. Ein eingetrockneter Klecks Roggenbrei, wo mein Herz sitzen sollte. Einsame Schreie im Wald. Kummergekrümmter Rücken. Das Patschen ihrer nackten Füße auf den Dielen. Ehe ich mich’s versah, entfuhr mir ein Klagelaut. Als riefe ich in den Wind. Es ließ sich nicht rückgängig machen. Jetzt war ich nicht mehr ihre Mutter. Für die Kleine war ich nur noch eine Erinnerung, die allmählich verblassen und in einem Bach aus Zeit davontreiben würde.
Hatte ich noch Erinnerungen an meine Eltern? Meine Mutter war blond und ihr Name Tiril gewesen, so viel wusste ich. Mein Vater hatte Moll geheißen, und nach Mutters Tod hatte er mich zu Wehmutter Brita gebracht. Er wollte auswandern, glaube ich, wer weiß, ob er es wirklich tat. Seine Stimme war rau und dunkel gewesen, die von Wehmutter Brita hell und sanft, obwohl sie Geschwister waren. Dachte ich an meine Eltern, tauchten vor meinem inneren Auge kaum Bilder auf – würde die Kleine sich auch so verschwommen an mich erinnern, wie an eine Gestalt im Nebel? Wollte ich, dass sie sich an mich erinnerte, wäre es nicht leichter für sie, wenn sie mich vergaß?
Niemand hat uns ein Leben ohne Trauer versprochen.
Ohne den Atem der Kleinen an meinem Ohr ging die Nacht anders in die Morgendämmerung über. Beim Frühstück senkten wir die Köpfe nach althergebrachter Tradition. Du hast leicht gelispelt, Roar, seit jenem Tag fehlten dir Zähne im Oberkiefer, und die Wörter fielen auseinander, wenn sie dir über die Lippen kamen. Durch die Fenster drang Kälte herein, und ich sah, wie deine Muskeln steif wurden – wir mussten mehr Moos sammeln, um die Ritzen abzudichten. Du hast dir mit einer Hand den schmalen Nacken massiert und mich dabei angesehen, dir den Pullover unters Kinn gezogen, aber du warst so groß geworden, dass er der Kälte einen Streifen Haut an deinem Bauch preisgab. Tone Amalie wickelte sich oft den ganzen Tag in ihre Schlafdecke ein.
Morgens ging ich durch den Wald zur Arbeit und war durchgefroren, wenn ich am Rävbacka-Hof ankam. Sobald ich den Waldbauern erblickte, erstarrte ich, meist mit einem Eimer, einem Besen oder einem Korb in der Hand, und dachte daran, was die Kräuter in meinem Holzkästchen vollbringen könnten. Wenn sie denn noch reichten. Aber ich hatte ja euch, ich musste für euch sorgen. Deshalb ging ich jeden Morgen nach Rävbacka, und er kam zu uns nach Frieden. Unzählige Male stapfte ich in meinen eigenen Fußspuren durch den Schnee, während der eisige Wind mir ins Gesicht peitschte und schneller durch meine ausgestopften Schuhe drang, als mein Blut die Füße wärmen konnte. Im Dorf abgewandte Rücken. Blicke. Nachbarn, Scharfrichter. Als wüssten sie, was die sonderliche Frau mit der Singsangsprache getan hatte. Und was nicht schmerzhafter hätte sein können, tat noch mehr weh. Mein Atem gefror in der Luft, als stürbe mit jedem Ausatmen ein kleines Stück von mir.
Kleine, meine Kleine.
Wenn ich mich auf den Halbwegsstein stelle und den Hals recke, kann ich fast bis zu der Wegbiegung sehen, wo ich mit ihr entlanggegangen bin.
Manchmal stand ich dort, aber statt der Kleinen sah ich nur die Leute aus dem Dorf mit ihren irrlichternden Augen. Ich wollte die Steinchen in meinen Schuhen loswerden, all die verurteilenden Blicke abschütteln. Die Leute starrten mich an, oder: Taten sie das wirklich? Vielleicht nahmen sie nur im Vorbeigehen Notiz von mir, der Eigenbrötlerin, dem seltsamen Vogel. Willkommen im Dorf der verstohlenen Blicke, wo die Fenster den Himmel und die Menschen sich ineinander spiegeln.
»Sei nicht traurig, Mutter«, sagtest du zu mir. »Wir holen die Kleine zurück, wenn sie größer und schneller ist.«
Vor jedem Hof und jeder Kate roch die Luft nach Frost und Schornsteinrauch. Nach Zuhause, Wärme und Kaminfeuer. Auch ich hatte ein Zuhause, aber was würden wir am Abend essen? Die Eimer und Säcke in der Vorratskammer waren fast leer, und wir konnten nicht mehr in den Dorfladen gehen. Ich wusste, welche Antwort mich dort erwartete:
»Die Schulden sind noch nicht abbezahlt.«
Manchmal fragte ich trotzdem. Ohne Erfolg. Jedes Mal die gleiche Antwort. Wenn ich am Risland-Hof vorbeikam, roch ich Kerzen, Kaffee und Zimt, doch mehr als den Duft konnten wir uns nicht leisten.
Manchmal brachte der Waldbauer Reste mit, die meisten so verschimmelt, dass er den Fraß nicht mal seinen Schweinen geben mochte. Rindenbrösel in meinem schönen grünen Marmormörser, der nach Arbeit lechzte, aber nutzlos auf dem Küchentisch stand. Überall hielt ich Ausschau nach gefrorenen Blättern und essbaren Pflanzen, und einmal pflückte ich einen ganzen Korb voll Zapfen. Wenn die Eichhörnchen sich davon ernährten, könnten wir es dann nicht auch? Ich ließ mich am Küchentisch nieder und zerstieß einen Zapfen nach dem anderen. War der Mörser immer so schwer gewesen? Oder hatte ich ihn mit Verzweiflung gefüllt? Die Zeit verging, und mein Arm schmerzte. Doch solang ich die elenden Brösel auch kochte, das Wasser im Kessel blieb farblos. Wir tranken den Aufguss trotzdem, aber wozu? Wir aßen Krähenbeeren, Blätter, gekochtes Gras. Aßen alles, was wir in die Finger bekamen. Der Wald gab uns viel, aber nicht genug, und vor meinen Augen zerfielt ihr zu fahler Asche. Der Hunger war wie ein unablässiges Geräusch, begleitet von Magenkrämpfen. Ich wusste, was mir bevorstand und dass ich daran ersticken würde. Jeder Tag war von dem Gedanken durchdrungen, als bohrte sich eine Tannennadel immer tiefer in meinen Fuß. Von gefrorenen Blättern allein konnten wir nicht leben.
Wir brauchten richtiges Essen.
Ich hab das alles nicht durchgemacht, damit wir an einem leeren Kessel verrecken.
Noch am selben Abend stahl ich ein Stück Brot vom Wagen eines Bauern, ohne mich dafür zu schämen – ich verbarg es unter meinem Schultertuch, weichte es in warmem Wasser auf und gab es euch in winzigen Portionen. Ein erbärmliches Stückchen Brot. Kaum im Mund, war es auch schon verschwunden. Ich selbst ließ meine Scheibe nicht mal in Wasser aufquellen, riss jeden Bissen mit den Zähnen ab und zermahlte das Brot wie ein wildes Tier.
Bei dem einen Mal blieb es nicht. Alles hing jetzt an mir. Ich durfte nicht zulassen, dass es so endete. Wehmutter Brita hatte es auch ohne Mann geschafft. Und sie hatte an mich geglaubt, sich meiner angenommen, mich ausgebildet, mir ihr Wissen und ihre Heilkräuter anvertraut – nicht ohne Folgen, aber trotzdem. Ein Visier aus Entschlossenheit vor meinem Gesicht. Ich spürte ein wildes Tier in mir, das mit jedem Tag an Größe und Stärke gewann. Lieber den Spatz in der Hand … Ich musste an die Wut und die Leere vor acht Jahren denken, als wir einen Sommer und einen Winter lang nichts zu essen gehabt hatten, an die Angst und die Verzweiflung, die mir in Augen, Poren und Mund gedrungen war, wie ein Sandsturm in einer Eiswüste. Nie wieder aufgeben. Entweder das wilde Tier – oder der Tod. Wenn ich es freiließ, würden wir bis zum Frühjahr überleben.
Sobald du aus der Schule kamst, legtet ihr euch ins Bett, um Kälte und Hunger zu überlisten. Du sahst zu, wie ich aufstand, deine Augen waren in ihre Höhlen gesunken, wo auch deine Seele wohnte, und Tone Amalie wimmerte im Schlaf.
»Schlaf, Roar, ich besorg uns etwas zu essen.«
Du hast gelächelt und die Augen geschlossen.
Ich ging weit, obwohl meine Schuhe schon nach wenigen Minuten voller Eiswasser waren. Ich sagte mir, dass die Kälte auch ein Schutz war, schließlich kettete sie den Waldbauern an seinen Hof. Aber wohin sollte ich gehen? Kein Ort, wo man mich kannte oder wo viele Männer waren, und nicht zu armen Leuten, die hatten es schwer genug. Meine Hand prickelte, und meine Finger wurden taub, dann das Gleiche in der anderen Hand. Erfriert man schneller, wenn man Hunger leidet oder trauert?
Nach einer geschlagenen Stunde gelangte ich an einen von Obstbäumen umstandenen Hof, den ich nie zuvor bemerkt hatte, von der Straße aus führte eine schmale Birkenallee zum Eingang. Im Stall blökte Vieh. Das Haus war frisch gestrichen. Ich sah die Familie durch ein Fenster, helle Gesichter beim Abendbrot. Der Schein eines Kaminfeuers erinnerte mich daran, wie sehr ich fror. In der Küche brannten Kerzen, weil die Familie sich welche leisten konnte. Hälsingland-Bauern wie aus dem Bilderbuch, bestimmt duftete das ganze Haus nach Sahnesoße. Aber ich war nicht zum Schauen hier. Wie ein streunender Hund schlich ich an den Gebäuden entlang, bis ich fand, was ich suchte: das Vorratshaus.
Bei jedem Ausatmen spie ich Wolken in die Luft, wie eine Drachenmutter auf der Suche nach Futter. Auf dem Hof herrschte völlige Stille. Der Türriegel war kalt an meinen Fingern. Drinnen waren die Regale mit Einmachgläsern vollgestellt, an einer Wand hingen Würste. Natürlich musste die Familie auch essen, aber ein, zwei Würste konnten sie doch sicher entbehren. Ich nahm zwei Stück herunter und steckte sie mir in den Ausschnitt. Holzkisten voller Kartoffeln, Rüben und Früchte sowie ein Regal mit Käse. Die Kartoffelkiste war nur zur Hälfte gefüllt, doch Äpfel und Birnen waren in Hülle und Fülle gelagert, vielleicht, um sie zu einem Getränk fürs Weihnachtsessen zu verarbeiten. Bestimmt würden die Früchte bald ins warme Haus getragen und dort ein paar Tage in Wasser ziehen, bis es gelblich-braun war. Dann: sieben, erhitzen, Zucker und Hefe hinzufügen, gären lassen – trinken. Mein Magen verkrampfte sich. Ich betrachtete die Früchte einen Moment lang. Dann stopfte ich mir sechs Äpfel und ein paar Birnen in die Bluse, ihr Kinder könntet mehrere Tage davon essen und so das Weihnachtsfest überleben. Außerdem griff ich nach einem hart gebackenen Brotlaib mit einem Loch in der Mitte. Länger wagte ich nicht zu bleiben. Ich verriegelte die Tür von außen und schlich geduckt durch die Dunkelheit zwischen den Gebäuden. Langsam, vorsichtig. Dann, als ich die letzte Hausecke erreicht hatte, nahm ich die Beine in die Hand und rannte quer über das Feld.
Ich spürte ein Stechen in der Brust. Aus Reue oder ein Muskelkrampf? Vermutlich aus Angst, denn wenn mich jemand sah, würde man mich nach Tronka schicken oder mir noch Schlimmeres antun. Das Brot einer anderen Frau in der Hand. Die Kleider vollgestopft mit gestohlenen Früchten. Jetzt nur nicht stolpern oder fallen, immer schön das Gleichgewicht halten, einen Fuß vor den anderen setzen, durch die Schneewehen hindurch und die eisige Wand aus Wind und Flocken. Fast hatte ich die Straße erreicht. In einer Stunde würde ich aus zwei schönen Äpfeln Mus für eure hungrigen Mägen kochen.
Nein!
Noch war ich nicht außer Sichtweite. Plötzlich fiel ein Licht in die Nacht, irgendwo auf dem Hof war eine Tür geöffnet worden, und ich wandte mich um, erstarrte, meine gefrorenen Finger glitten von der Bluse. Ehe ich mich sammeln konnte, plumpste eine Frucht zu Boden. Ich hörte sie hinter mir über die verharschte Schneedecke kullern. Das Geräusch erzeugte ein Echo. Ich musste mich beeilen! Die eisige Kruste knirschte unter meinen Füßen. Wie konnte Schnee so laut sein? Hörte ich Schritte hinter mir? Hatten sie mich entdeckt, den Drachen, der sie bestohlen hatte? Bei jedem Atemzug drückte sich mein Bauch gegen das kalte Diebesgut. Ich wagte nicht, stehen zu bleiben und auf Stimmen oder schnelle Männerschritte zu lauschen. Warum atmete ich so laut?
Endlich auf der Straße, hielt ich nicht eine Sekunde inne. Erst lief ich in die falsche Richtung, damit meine Schritte sie nicht nach Frieden führten, falls es in der Nacht keinen Neuschnee gab. Mein Herz pochte mir in den Ohren. Mit brennender Lunge lief ich fast einen ganzen Kilometer die Straße hinunter und dann in den Wald, heimwärts. Zwischen den Bäumen war die Luft noch kälter. Meine Zähne klapperten. Irgendwo in der Ferne kläfften Hunde. In einer Hand hielt ich den Brotlaib, während ich die andere im Fäustling ballte, und trotzdem biss mir die Kälte in die Finger. Auf den letzten Kilometern steckte ich mir die Hände abwechselnd unter die Achseln.
Als ich Frieden erreichte, waren meine Hände und Zehen längst taub. Ihr schlugt kurz die Augen auf und saht mich an, schlieft aber rasch wieder ein. Während ich mich am Ofen aufwärmte, spürte ich ein Prickeln im Körper, wie von Nadelstichen. Danach kochte ich Apfelmus und legte die restlichen Äpfel fremder Leute in die Vorratskammer, hübsch weihnachtlich auf Tannenreisig gebettet. Mein Schatzversteck. Am liebsten hätte ich sie auf dem Küchentisch drapiert, aber es wäre so grausam, wenn ihr die Äpfel nach dem Aufwachen sehen und nicht gleich allesamt würdet essen können.
»Guten Morgen, Kinder. Wenn ihr Hunger habt, gibt es Apfelmus und Obst.«
»Mus!«
Ihr warft die Decken zurück und saßt keinen Wimpernschlag später am Tisch. Du kautest langsam, Roar, und mit geschlossenen Augen. Tone Amalie aß zuerst ihren Klecks Mus und schob dann ihre rissigen Lippen über einen Apfel und verschlang die Hälfte mit einem Bissen. Plötzlich hielt sie inne.
»Willst du nicht auch probieren, Mutter?«, fragte sie. »Hast du gar keinen Hunger?«
»Danke, Hummelchen«, antwortete ich. »Ich hab schon so viel gegessen, bevor du wach wurdest, dass mir der Bauch wehtut.«
Ich blieb in meiner Räuberhöhle, bis ihr alles verspeist hattet, wachte über mein Diebesgut und meine Kinder. Nach einer Woche war nichts mehr übrig.
Wieder schlang ich mir ein Tuch um die Schultern und verließ die Kate. Ich wusste, was ich zu tun hatte, auch wenn ich nicht wagte, den Gedanken zu Ende zu denken, aus Angst, er würde mich nie wieder loslassen. Erst das Brot, dann das Vorratshaus. Aller guten Dinge sind drei.
Habe ich wirklich keine andere Wahl?
Als meine Krähe mit dem glänzenden Gefieder ein Stück zur Seite hüpfte, um mich besser zu sehen, rieselte Puderschnee von ihrem Ast. Meine Freundin war mir so nah. Ich musste lächeln und blieb stehen. Blick traf auf Blick. Ich wartete, die Krähe saß still auf ihrem Ast.
Muss es wirklich sein?
Ja.
Zum Teufel!
Am Wegrand fegte ich den Schnee beiseite und fand ein paar Steine, die fast so groß waren wie ihr Körper. Ich nahm einen, wog ihn einen Moment lang in der Hand. Dann zielte ich auf ihren Kopf. Die Krähe taumelte zur Seite, eine Bewegung wie ein Riss in der Zeit. Dann fiel sie als grauschwarzes Bündel zu Boden.
Sie war noch am Leben, wand sich, spreizte die Federn, ein Zucken fuhr durch die Flügel. Nach kurzem Zögern griff ich nach einem größeren Stein, besann mich jedoch anders, hob ihren blutigen Körper auf und brach ihr das Genick.
Leb wohl, meine Freundin.
Schlaff baumelte sie von meiner Hand herab. Der Wind kühlte das Blut an meinen langsam taub werdenden Fingern. Ich hielt die Krähe ein Stück von mir weg und vermied es, sie anzusehen.
Zurück in der Kate zerstieß ich Pfefferkörner und Wacholderbeeren und sah, wie in meine Hände zornig-rotes Leben zurückkehrte. Der Kessel sang auf dem Ofen, aber die Krähe lag leblos auf dem Tisch, nackt, ohne glänzendes Federkleid.
»Das schmeckt gut, Mutter!«
»Ja. Und der Bauch wird so schön warm!«
An jenem Abend konnten sich zwei hungrige Kinder beinah satt essen.
Danke, meine Freundin.
Ich selbst bekam keinen Bissen herunter.
Als ihr schließlich einschlieft, war der Himmel schwarz und geheimnisvoll. In den Sternen stand keine Antwort geschrieben. Der Schnee ohrfeigte die Fenster, der Wind drosch in Böen auf die Wand hinter dem Kopfende des Bettes ein. Ich dachte an den Wald um uns herum. Bestimmt versteckte der See sich nun unter einer Eisdecke. Wenn er bis zum Grund zufror, wie viel wog all das Eis? Doch vermutlich war er nur obenauf gefroren, das Wasser war noch zu warm. Bei jedem Schritt über die spiegelglatte Ebene konnte man einbrechen und hinabsinken bis auf den Grund. Ich drehte mich vom Fenster weg.
Tone Amalie lächelte im Traum, die Wange an Beatrice geschmiegt. Du hattest ihr das Gesicht zugewandt, deine Augen waren geschlossen. Den Träumen deiner Schwester konnte die Wirklichkeit nichts anhaben. Dein unbändiger Überlebenswille klammerte sich an den Wind. Und was wollte ich? Ich wollte, dass es euch gut ging. Mehr nicht. Ich strich euch über Nacken und Rücken, mit meinen Fingern, die getötet hatten, spürte aber, dass ich das Richtige getan hatte, dass meine Berührungen euch nicht beschmutzten. Ein Gefühl von Stolz flackerte in mir auf, wenngleich mit bitterem Beigeschmack. Nach einer Weile schloss auch ich die Augen, schlief ein, und als ich aufwachte, war es in der Kate kalt und feucht. Ich stahl, bereute, brach Tieren das zarte Genick, bereute wieder, stahl noch mehr. So strauchelte ich dem Frühling entgegen. Doch mit der Erschöpfung wuchs auch der Stolz. Weil ich es schaffte. Weil ich durchhielt.
Dann zog die eisige Kälte sich endlich zurück. Die Frühlingswärme kam wie ein verloren geglaubter Geliebter und ließ den Schnee tauen. Die Bäume schlugen aus, so viele Blätter an jedem Ast, doch ohne die Kleine war das Grün nur ein Firnis über der fahlbraunen Wirklichkeit.
Stickige Reue. Im Dorf starrten die Leute mich an wie meine tote Krähe. Johanna huschte an mir vorbei und wich meinem Blick aus. Wegen der Kleinen? Weil ich Brot gestohlen hatte? Womöglich hatten sie schon immer so gestarrt. Frieden war nur fast unser Eigentum, dieses Land nur fast meine Heimat. Ich war ein Halbling, weder hier zu Hause noch dort. Meine Stimme war rau, mit einem Hauch schriller Nervosität darin, mein eigenwilliger Dialekt schliff sich nicht ab. Aber für euch schaute ich nach vorn. Ich ölte die Schaukel, die Armod für euch aus der glatt geschliffenen Zaunlatte gefertigt hatte. Die Maserung schimmerte in der Sonne, und die Seile verdrehten sich unter den Blüten des Apfelbaums.
Dann kam ein brütend heißer Sommer. Wir waren nur noch zu dritt in unserer Familie aus fünf Seelen, und ich dachte, das Schlimmste wäre überstanden. Unter meinen Rippen ein stechender Schmerz, weil ich mein Mädchen verloren hatte. Im Dorf hielt ich Ausschau nach ihr, sah überall schmutzige Kinder, ungekämmte Kinder, gepflegte, wohlbehütete Kinder. Aber nirgends ein Mädchen mit den Sommersprossen meiner Kleinen. Minuten und Jahre krochen vorbei, die Jahreszeiten lösten einander ab, aber nie sah ich die Kleine vor Schulen, zwischen spielenden Kindern im Wald oder auf Äckern, obwohl ich jedes einzelne Gesicht musterte. Und trotzdem war mir oft, als betrachte sie mich aus den fremden Augen. Später hörte ich, sie sei in ein anderes Dorf gebracht worden, zu einer alleinstehenden Frau mit vielen Kindern, die Geld gebraucht hatte und nicht gemeiner war als andere. Hoffentlich hatte sie der Kleinen ein warmes Bett gegeben und sie nicht allzu hart geschlagen.
Die Kiefern wachten über unser Heim, herrschten aber nicht über die anderen Bäume. Eines Nachmittags verfinsterte sich der Himmel – der Wald bedrohte uns, wollte uns an den Kragen. Später erfuhr ich, dass es in einem nahe gelegenen Bergwerk eine Explosion gegeben hatte und dass ein magerer Junge bei dem Versuch, sich zu retten, Wald und Felder in Flammen gesetzt hatte. Als man ihn fand, war er verkohlt und lag mit dem Gesicht zur Erde.
Wir hörten das Feuer in der Ferne raunen. Bestimmt hielt es den Waldbauern auf Trab, sodass er nicht herkommen würde, aber was, wenn der Wind stattdessen das Feuer in unsere Richtung trieb?
»Mutter, ich hab Angst!«, sagte Tone Amalie. Ihr standet am Fenster und saht hinaus.
»Das Feuer ist so weit weg, Hummelchen«, sagte ich. »Spiel weiter, mach dir keine Sorgen.«
Deine Schwester ging zum Ofen, aber du, Roar, ließest die Rußwolken nicht aus dem Blick, du wusstest ebenso gut wie ich, wie rasch sich das Feuer zu uns ausbreiten konnte, wenn der Wind umschlug. Es war die hellste Zeit im Jahr, und die Sonne blendete uns durch das Fenster, ein strahlender Fleck über dem rauchenden Wald. Nach einer Weile wandtest du dich ab, warfst jedoch in regelmäßigen Abständen einen Blick hinaus.
»Und wenn das Feuer zu uns kommt, Mutter?«
Ich strich dir über den Rücken und sah, wie der Rauch tatsächlich in unsere Richtung wanderte. Ein beißender Geruch stieg uns in die Nasen. Du wurdest so blass, Roar! Tone Amalie hörte auf zu spielen, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte.
»Wenn das Feuer herkommt, Mutter, wo sollen wir dann wohnen?«
Wären die Augen der Kleinen jetzt groß und rund vor Angst?
»Das ist unser Zuhause. Wir bleiben hier, das Feuer soll sich fernhalten«, sagte ich.
Der Brand raunte lauter, nicht viel, aber die Natur ist unberechenbar. Ich musste sofort die Kate und den Boden ringsumher wässern. Unsere Familie sollte dem Wald nicht noch ein Mitglied opfern müssen.
»Du bleibst hier drinnen, Tone Amalie«, sagte ich und griff nach einem Eimer. »Und komm du mit zum Brunnen, Roar.«
Tone Amalie blickte auf.
»Aber ich muss meine Puppe holen, Mutter«, sagte sie und zupfte am Ärmel ihrer Strickjacke. »Ich hab Beatrice auf dem Hochsitz vergessen, als wir dort spielen waren!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht jetzt, Tone Amalie, es ist zu gefährlich. Bleib drinnen und bring das Haus auf Vordermann!«
Damit zog ich die Tür zu.
Heimat in Flammen. Noch war das Feuer ein gutes Stück entfernt, doch schon bald konnten die Flammen unsere Pfade, den Hochsitz und die schläfrig auf dem Waldsee schaukelnden Seerosen umzingeln. Schreie, Signalhörner und das Geklapper von Pferdehufen wehten über die Baumwipfel herüber. Wir pumpten Wasser aus dem Brunnen, schütteten einen Eimer nach dem anderen über das trockene Gras und die roten Planken, damit alles gut genässt war. Armod wäre natürlich schneller gewesen als wir, doch als es dämmerte, war die Kate noch unversehrt. Die Apfelbäume wogten im Wind, als wollten sie uns zuwinken, uns Mut zusprechen. Vielleicht würden sie ja doch wachsen, größer und kräftiger werden und jedes Jahr neue Früchte tragen? Vielleicht dürften wir doch weiter hier leben? Der kostbarste Besitz eines armen Menschen sind seine Träume und der Glaube an ihre Erfüllung. Wer nicht träumt, löscht kein Feuer, sucht nicht nach Essen, streichelt keine Kinderwangen. Wer nicht träumt, sitzt seine Zeit ab.
Tone Amalie kam aus dem Haus, ihr Nachthemd streifte über das Gras.
»Mutter, ich muss mal.«
»Komm mit, schnell.«
Als sie sich in der Kate auf den Nachttopf setzte, half ich ihr, das Nachthemd hochzuziehen, doch meine Gedanken waren woanders. Sie war so langsam, und ich achtete kaum auf ihren kleinen Hintern und ihre dünnen Beinchen, ich wusste ja nicht, dass ich es hätte tun sollen. Als ich ihr schließlich Gute Nacht sagte, blickte ich ungeduldig zum Fenster, deckte sie hastig mit einer Hand zu und sah, wie du dich voller Entschlossenheit draußen abplagtest.
»Schlaf jetzt, Hummelchen. Sammle Kräfte für morgen.«
Trotz Müdigkeit war Tone Amalie rastlos.
»Holst du später meine Puppe? Bitte, Mutter. Beatrice ist so allein da draußen.«
Die Rußwolken und der Feuerschein waren jetzt deutlich zu sehen. Der Wind durfte auf keinen Fall drehen.
»Du kannst ohne deine Puppe schlafen. Wenn sie verbrennt, näh ich dir eine neue.«
»Verbrennt?«
Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Sie drehte den Kopf weg und presste die Lider zusammen. Ihre Haare fächerten sich wie feinstes Leinengarn über das Kissen, und ich ging wieder hinaus, um Wasser aus dem Brunnen zu pumpen. Das Raunen kam immer näher und wurde ohrenbetäubend laut. Mein Blick fiel auf unsere schöne Salweide, die uns so oft geholfen und unsere Schmerzen gelindert hatte. Jetzt konnten ihre Zweige euren Tod bedeuten. Wenn der Baum Feuer fing, würden wir verbrennen. Du holtest die Säge, und ich setzte sie am Stamm an. Hinter den Bäumen wütete der Brand, und meine Wut legte ich ins Sägeblatt. Das Licht war wie grauschwarzer Schlick. Ich ließ meiner Angst freien Lauf, damit sie mir Kraft gab, bis der Stamm meiner Salweide endlich entzweiknackte und der obere Teil mitsamt Krone in Richtung Zaun krachte. Die anderen Bäume wagten es nicht, zu seufzen und ihre Freundin zu betrauern – sie hielten den Atem an und umfingen einander mit ihren Wurzeln, während wir Wasser schöpften und einen Eimer nach dem anderen über dem Boden auskippten.
Nach einer Weile ließ der Brandgeruch nach. Es schien, als hätten die Männer im Dorf mit ihren Pferden ganze Arbeit geleistet, vom Feuer war nur noch ein schmaler Rußstreifen über den Baumwipfeln zu sehen – solange der Wind nicht zunahm, würden wir verschont bleiben. Dennoch machten wir weiter, nässten den Boden, schwitzten. Den ganzen Abend über hörten wir die Rufe aus dem Dorf, doch als die Signalhörner verebbten und wir keine Rauchsäule mehr sahen, wagten wir zu hoffen, dass die Gefahr überstanden war. Als wir in die Kate gingen, merkte ich, dass meine Kleider nach Rauch stanken.
Unter der Bettdecke schaute kein Wuschelkopf mit Beatrice unter dem Kinn hervor.
Die Puppe lag auf dem Hochsitz.
Das hatte Tone Amalie gesagt.
Mein Kind.
Meine Knochen wurden zu Eiszapfen und zersplitterten.
Du folgtest mir wortlos nach draußen. Ich tränkte unsere Kleider und eine Decke in Wasser. Dann gingen wir geradewegs auf das Feuer zu.
Mein Kind. Mein Kind. Mein Kind.
Je näher wir der Brandstätte kamen, desto dichter wurde die Dunkelheit. Es war, als hätten die Nacht und das Feuer gemeinsame Sache gemacht und sämtliche Konturen und Umrisse verwischt. Die Luft war rußig, das Atmen fiel schwer.
»Geh heim«, sagte ich. »Hier ist es zu gefährlich. Geh heim und sieh zu, dass der Zaun gut genässt ist. Ich komme bald nach.«
Du zögertest, und ich legte dir die Hände auf den Rücken, gab dir einen sanften Schubs.
»Geh, Roar! Komm auf keinen Fall zurück! Hast du gehört?«
Dann setzte ich meinen Weg durch den Wald allein fort.
Tone Amalie!
Ich rutschte aus, lief durch Rauchschwaden, mein Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Bei jedem Atemzug brannte meine Lunge.
Tone Amalie, wo bist du?
Ich konnte nur wenige Meter weit sehen und bekam kaum Luft, unsere Pfade waren nicht mehr zu erkennen. Bald war ich mir sicher, in diesem dröhnenden Inferno den Tod zu finden. Aber dann, hinter der nächsten Biegung:
Ein Stück vor mir kroch Tone Amalie über den Boden. Als ich zu ihr lief, merkte ich kaum das piksige Preiselbeerkraut unter den Füßen vor Erleichterung, dass ich mich geirrt hatte, dass Tone Amalie leben würde. Mein Mädchen hielt ihre Puppe in der Hand, und ihr Gesicht sah aus wie immer, nur schmutziger. Doch dafür hatte das Feuer ihre Beine verzehrt. Sie bluteten, die Haut hing in Fetzen. Tone Amalie sah mich nicht durch Rauch und Ruß – sie war nach Gefühl in Richtung Frieden gekrochen, und Walderde, Tannennadeln und Beerenreisig hatten ihr die Haut aufgeschürft. Erst als ich mich über sie beugte, trafen sich unsere Blicke. Aus ihrem rußgeschwärzten Gesicht leuchteten mich zwei Vollmonde an.
»Mutter!«, weinte sie und streckte ihre dürren Arme nach mir aus.
»Hummelchen!«
»Ich wusste, du kommst!«
Kaum hatte sie das gesagt, verlor sie das Bewusstsein.
Ich brachte mein Mädchen nach Hause. Meine Beine stampften vorwärts, mechanisch wie ein Dreschkasten. Ein Schritt, noch einer, der nächste. Tone Amalie roch nach verbranntem Fleisch. Ich trug sie in den Armen, so, wie ich die Kleine ins Dorf getragen hatte, um sie nie wiederzusehen. Unterwegs wurde meine Tochter ein einziges Mal wach, ihr Mund war ein schwarzes Loch und ihre Augen bestanden nur aus Pupillen. In jenen Minuten war kaum Sauerstoff im Wald. Tone Amalie schrie, bis sie erneut ohnmächtig wurde.
Als ich den Hof erreichte, kamst du mir schon entgegen gelaufen und warst so erleichtert, als du sie sahst. Da wusstest du noch nicht, wie schwer verletzt sie war. Mein Kind. Wir legten sie aufs Bett. Unter der Rußschicht auf ihrem Oberkörper sah unser Mädchen aus wie immer.
»Schlaf ein, Hummelchen.«
Ihr Gesicht entspannte sich, sie lächelte fast. Trotzdem wusste ich, wie es wirklich um sie stand. Ich gab ihr sämtliche Kräuter, die ihre Schmerzen lindern und ihr Ruhe schenken konnten, maß nichts ab, hob nur ihren Kopf an und schob ihr vorsichtig so viel in den Mund, wie sie zu schlucken vermochte. Ich strich ihr übers Haar, während sich ihre Muskeln entspannten, aber nicht wie sonst über den Rücken, von dem kaum etwas übrig war. Ihre weiche Haut war ein verwüsteter Kahlschlag, eine zerklüftete Albtraumlandschaft.
Ich sang meiner Tone Amalie vor und strich ihr immer wieder übers Haar. Ein Lied über die Sonne, über die kleine Weide, die wir abgesägt hatten und die jetzt schlafen durfte, über die Sommervögel von Hälsingland.
Deine Schwester schlief ein. Du sahst mich lächelnd an. Ich spürte, wie du deine Hand in meine schobst. Lange betrachteten wir sie, Seite an Seite. Ob Tage oder Wochen vergingen, während wir dort saßen, vermag ich nicht zu sagen. Nie war ein Gesicht so schön, so perfekt gewesen wie das ihre. Allmählich begriffst du, was geschah, und begriffst es doch nicht. Deine weit aufgerissenen Augen suchten Halt in meinen. Ich umarmte sie, küsste sie und weinte stumme Tränen. Mein Kind war ans Bett gefesselt, ihr Körper zerschunden. Wir sahen auf den zierlichen Brustkorb. Noch hob er sich, aber die Bewegung wurde schwächer.
Noch nicht!
Nicht meine Tone Amalie!
Die Nacht war in bleichen Mondschein getaucht, ich weiß nicht, ob in Wirklichkeit oder nur in meinen Gedanken. Ihr Brustkorb hob sich, senkte sich. Dann erstarrte er. Im selben Augenblick verschwanden sämtliche Farben. Eine zarte Lunge, die nicht mehr atmete. Ihr Herz sank zur Erde hinab, der Blutfink in ihrer Brust erstarb. Ihre kleine Hand glitt über die Bettkante. Ich nahm sie in die meine, hielt sie fest. Sie war noch warm und voller Leben, ihr dünnes Handgelenk weich an meinen Fingerspitzen. Ich spürte meinen Puls, seltsamerweise, denn er bezeugte, dass ich lebte. Vorsichtig zog ich ihr die Decke über die Schultern, bis unters Kinn, und schob auch ihre kleine weiche Hand in die Wärme. Dann sank ich zu Boden. Kiefernholz und Salz. Der Mund meiner Tochter war leicht geöffnet, als wollte sie mich etwas fragen.
Sekunden oder Wochen. Draußen wurde es hell und wieder dunkel. Die Frau in Armods Rasierspiegel hatte schmale, blutunterlaufene Augen und ein aufgequollenes Gesicht. Ihre Bluse war schmutzig, das Haar strähnig. Rosa Haut. Geplatzte Adern, geplatzte Träume.
Tone Amalie. Warst du gestern bei mir oder in einem anderen Leben?
Du hast geweint, Roar, und hattest Ruß auf der Stirn, als du dir das Haar aus dem Gesicht strichst. Aber spielte es eine Rolle? Du standest neben mir und warst so still. Zitternd, fröstelnd, obwohl wir drinnen waren. Ich band dir den Schal fester um den Hals. Deine Schwester würde uns verlassen, wir würden sie durch den Wald ins Dorf tragen, so, wie ich einst eure jüngere Schwester fortgetragen hatte.
»Warum? Warum, Mutter?«
Ich konnte dir keine Antwort geben.
Die Krone der Salweide lag auf dem sonnenbeschienenen Pfad. Ruß auf Blumen und Gras. Ruß auf Wegen und Radspuren. Mein kleines Kind. Ein perfekter Mensch, verstummt. Langer Zopf, die Haare zum Mittelscheitel gebürstet. Klein, blass, kalt.
Schlaf, du kleines Weidenkind. Die Sonne wird dich wiegen.
Ich ging mit dir durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch, damit die Zeit nicht stehen bliebe. Unser Hochsitz hatte den Brand unversehrt überstanden: Die Lichtung hatte ihn beschützt. Vögel sangen. Der Specht trommelte gegen einen Stamm. Beatrice wäre nichts passiert, sie hätte die ganze Nacht hier liegen können.
Ich hätte deine Schwester lieber in Hofnähe begraben. Um sie bei mir zu haben, um auf sie aufzupassen. Auch wenn ihr niemand mehr etwas anhaben konnte. Hätte der Küster mir Fragen gestellt oder mich nach Trondheim zurückgeschickt, hätte ich nichts gefühlt, dazu fehlte mir die Kraft. Der kleine Sarg sah so schutzlos aus, du legtest Beatrice zu ihr, und ich steckte ihr einen Fliederzweig ins Haar, ehe wir über meinem kleinen Mädchen den Sargdeckel schlossen und ihn zunagelten. Wir trugen Tone Amalie ins Dorf und begruben sie unter der dörrenden Julisonne in derselben Erde, die sie uns weggenommen hatte. Das Dorf war in Schwarz-Weiß getaucht. Der Pfad war wie ein erhärteter Sumpf, der in eine staubige Landstraße überging, wo nichts mehr lebte, wie nach der Ragnarök. Niemand stellte mir Fragen. Die Leute begegneten mir mit leeren Blicken.
Wenn ich morgens wach wurde, war für ein paar Sekunden alles wie immer, als wäre nichts geschehen. Draußen sackten die Bäume zusammen und stießen einen langen Seufzer aus, und im nächsten Moment kehrten die Erinnerungen zurück: Armod und die Kiefer. Der Rävbacka-Bauer, der uns heimsuchen würde, sobald er sich um seine abgebrannten Holzschläge gekümmert hatte. Meine Kleine, allein, ohne mich. Tone Amalie, in der ein kleiner rotbrüstiger Vogel verstummt war. Jetzt lag mein Kind unter mehreren Schubkarren Erde im Dunkeln. Unnis Tone Amalie. Ins Leben geboren, jetzt tot. Tone Amalie unter der Erde. Mein Armod war nur noch ein Haufen Knochen in einer morschen Kiste. Sein Bart würde nie weiße Strähnen bekommen. Und die Kleine. War Brita Elise am Leben? Ich wusste es nicht.
Es nahm kein Ende. Um nicht zu zerbersten, schlang ich mir die Arme um den Leib. Jeden Morgen dieser stille Bruchteil einer Sekunde, in dem ich noch nicht spürte, was ich tief im Innern wusste. Der Moment, bevor die Erkenntnis in mich einsickerte. Sterben mussten wir alle. Damit konnte ich leben. Aber so früh? Gott hatte sich nicht an die Reihenfolge gehalten.
Ich hörte, dass Bauer Rönnblad aus Ranbo seinen Pferden die Augen verbunden hatte, um sie durch die Flammen zu treiben. Hilft das?, überlegte ich. Dann lass uns einander die Augen verbinden, Roar, denn ich weiß nicht, ob ich überstehe, was vor uns liegt.
Ich presste mir die Finger auf die Lider, bis grelle Blitze alle Bilder aus meinen Augen verbannten. Dann stand ich auf, um Frühstück zu machen und mich durch den Tag zu schleppen. Der menschliche Körper ist eigenartig.
So würden also die nächsten Jahre vergehen. Ich hatte die Rinde unserer gefällten Salweide aufgehoben, doch für unsere Schmerzen wäre selbst ein Aufguss der gesamten Krone zu schwach gewesen. Den Brotlaib teilten wir nur noch in zwei Hälften. Jeder Bissen quoll im Mund auf und machte uns satt. Die Ironie darin, dass wir auf einmal genug zu essen hatten. Zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung war ich ein Stück faulendes Fleisch bei der Arbeit. Ein Gefühl, als würde ich Nägel schlucken. Mit einem zerfetzten Herzen lieben.
Jetzt ist die Sonne warm, Tone Amalie, du solltest hier sein und sie im Gesicht spüren. Sie ist so schön.
In den Gesichtern fremder Kinder suchte ich ihre Züge, so, wie ich nach der Kleinen gesucht hatte, war ich im Dorf unterwegs, hielt ich Ausschau nach ihr, obwohl ich wusste, dass sie nicht dort war und nie wieder dort sein würde. Keine Kleine. Keine Tone Amalie. Unbenutzte Haarbänder an dem Nagel neben der Tür. Akkurate Nähte in kleinen Unterkleidern, verstaut in meiner Holztruhe mit den Eisenbeschlägen. Ich drückte mein Gesicht in den Stoff, begrub mich selbst in dem Geruch, der nach und nach verblasste.
Wir hüllten uns in Schweigen wie in einen zu großen Mantel. Ein eigentümliches Gefühl – auf etwas zu warten, was nie mehr geschehen wird. Die Stille toste so laut, dass nicht einmal der Waldbauer sie zu durchbrechen wagte. Mein Körper war dünn, papierartig, mein Gesicht verzerrt von Trauer, oder von der Zeit. Meine Haut spannte über den Wangenknochen. Nach dem Begräbnis kam der Dorfpfarrer zu uns, um mir sein Mitgefühl auszusprechen, doch ich wimmelte ihn ab. Die runden Wangen, der umherhuschende Blick. Der schwarze Talar, der über den kargen Boden wischte, die gefalteten Hände – sein Anblick widerte mich an. Manchmal sprach ich den ganzen Tag nicht mit dir, Roar. Dein Blick verlor sich in der Ferne, war so weit weg von mir, du ließest die Schultern hängen, dein Körper wurde ein trauriges Fragezeichen, und ich brachte es nicht über mich, dich in die Arme zu schließen. Dein Rücken war gekrümmt, dein Nacken erschlafft, dein Kopf hing vornüber. Jetzt warst nur noch du bei mir. Mein kleiner Junge. Ich hätte aufhören können zu essen und zu trinken, hätte dich dem Pfarrer übergeben und selbst nach Tronka gehen können. Aber du, Roar, du gabst allem einen Sinn. Du. Mein Kind.