Wahrheiten
Schon am nächsten Tag war der Augenblick verblasst und faulte vor sich hin. Hatte ich ihn mir nur eingebildet? Manche sagen, ich könne die Welten nicht richtig auseinanderhalten. Das Gedächtnis ist eine Art Echoraum des Ichs. All die Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben, und jene, die wir verdrängen wollen, titschen so lange zwischen unseren Schädelknochen hin und her, bis wir glauben, wir würden die Wahrheit kennen. Dag beobachtete mich, als ich den Frühstückstisch deckte. Im Bad biss ich in den Duschvorhang, damit niemand hörte, wie ich atmete. Ich machte unser Bett und strich die grüne Satinbettwäsche glatt. Mein Körper tat weh vor Sehnsucht, aber niemand kam zu mir. Nichts passierte. Nur eine Perle, erst lag sie in meiner Hand, dann kullerte sie in meinem Bauch herum, als ich nach unten ging, um Bricken in der Küche zu helfen. Wir kehrten einander den Rücken zu. Ich schluckte und hielt die Luft an.
Vormittagskaffee. Ich sah Bricken kurz an und wandte schnell den Blick ab. Mittagessen. Nachmittagsschnäpschen. Am Abend lag mein Herz platt gewalzt auf dem Boden. Ich deckte für Dag den Tisch, hübsch mit gefalteten Servietten und Blumen. Ich holte Luft, um mich künstlich zu beatmen. Als er heimkam und an dem Strauß roch, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Meine Stimme verkroch sich wie ein verprügelter Hund hinter meinen Zähnen. Ich lud uns sorgfältig geschälte Kartoffeln und bilderbuchgrüne Erbsen auf die Teller. Dag zermanschte alles in der braunen Soße. Roar aß vermutlich gerade unten, ich sah ihn den ganzen Abend nicht. Bo verspachtelte seine Portion und wischte sich den Mund mit der Serviette ab, bis sie zerknittert und schmutzig war. Er fragte nicht, ob er nach dem Essen rausgehen dürfe, er blieb drinnen und wollte sein, wo wir waren, er stand unter Strom.
»Mama, komm!«
»Mama, weißt du was?«
»Mama, guck mal!«
Ich wollte ihm gerecht werden. Nahm vorm Zubettgehen eine Extratablette und Ohrstöpsel, um Schlaf aufzuholen.
In den folgenden Tagen war alles wie immer. Wie immer, aber auch nicht mehr, nur wie immer. Die Zeit und unser Alltag in diesem Haus hatten etwas Krankes an sich, allerdings war ich ja auch krank, obwohl Doktor Thorséns Diagnose schon eine ganze Weile zurücklag. Krank, krank, krank. Steck ja niemanden an. Meine Gewissensbisse waren wie Steinchen im Schuh. Was würde als Nächstes passieren?
Nichts passierte. Nur kreuz und quer über den Hof in abgewetzten Holzschuhen, die immer selben Tätigkeiten, tagein, tagaus. Die Erinnerung an Roars Hände auf meinem Körper und daran, wie er in meine Halsgrube geatmet hatte. Kåra. Ich ging hoch in meine gottverdammte Küche, machte Töpfe schmutzig und wieder sauber und wieder schmutzig. Vor dem Fenster wirbelten die Zeit und die Natur umher, und Bo starrte mich an, war ständig in der Nähe und zu alt für Mittagsschlaf, ohne dass sich jemand darüber gewundert hätte. Dag hatte den immer selben Bart und getrocknete Milch am Mund. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, und ich konnte kaum abwarten, dass er verschwand. Doch wenn Dag ging, ging auch Roar. Ich folgte den beiden mit dem Blick. Einer bewegte sich ungelenk, der andere ging mit solcher Selbstverständlichkeit in den Wald. Wenn sie abends heimkamen, verschwand Roar oft gleich wieder zwischen den Bäumen.
»Wo geht er hin?«, fragte ich Bricken einmal.
»Er kommt jedes Mal zurück«, antwortete Bricken.
Nur das. Mehr nicht.
Niemand sagte etwas, auch Roar nicht. Vielleicht wussten die anderen mehr, und nur ich tappte im Dunkeln.
Schließlich folgte ich ihm, wollte sehen, wo er sich herumtrieb. Ich musste lange gehen, durch Mückenschwärme und über Tannennadeln, und war kurz davor aufzugeben. Aber dann öffnete sich der Wald zu einer hellen freien Fläche. Hinter den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung glitzerte der See, den ich erkannte, und ein Stück davor ragte eine Art morsche, windschiefe Holzhütte aus dem Dickicht. Roars Hochsitz. Unebene Bretter aus Kiefer, Birke und Fichte. Eine Leiter mit moosbewachsenen Sprossen. Als ich an ihr rüttelte, war das Holz kühl und weich an meinen Fingern. Die Leiter wirkte stabil, doch ich kletterte nicht hinauf.
»Wo warst du?«, fragte Dag später.
Als ob es ihn interessierte. Wortlos drehte ich mich um, ging zum Hochsitz zurück und ließ mich auf den Boden sinken, dort, wo Lichtung und Wald aufeinandertrafen. Zwischen den Bäumen glitzerte der See. Einmal hatte ich mich dort schlafen gelegt. Nicht mehr, hatte ich versprochen. Steh für dich ein. Nicht ich, nie wieder.
Aber wer dann?
Mir war klar, was ich zu tun hatte, nur wie, wusste ich nicht.
Manchmal fragte ich ihn noch, hatte jedoch einen anderen Hintergedanken:
»Musst du wirklich fahren, Dag?«
»Ja«, antwortete er jedes Mal, und es machte mir nichts aus.
Ich wollte nur, dass Roar blieb.
Stellen wir uns vor: Eine Frau lebt in einem Haus im Wald. Unter einem Dach mit dem Mann, den sie mag. Aber das sagt sie ihm nicht.
Ja, so fühlte es sich damals für mich an. Es ging nicht vorbei. Quengelndes Kind, nie endende Hausarbeit, mir gegenüber am Tisch der falsche Mann. Doch wenn wir zu fünft unten im Erdgeschoss aßen und Roar mir die Schüssel mit dem Grünkohl reichte, berührten sich manchmal unsere Finger. Von diesen Krumen zehrte ich. Sehnsuchtssekunden. Jeden Monat stieg ich an einem Vormittag erst die Steintreppe zu Doktor Thorséns Praxis hinauf und trat später in das geräuschisolierte Behandlungszimmer von Doktor Katzenschädel, die ärztliche Schweigepflicht als Tarnmantel um die Schultern gelegt, und besorgte mir Nachschub. Die Tabletten beruhigten meine Nerven, aber das war nicht genug. Von den Bäumen gefallenes Laub, Schneegestöber, Sommerwinde – alles schlug mir aufs Gemüt. Ein Holzwurm grub Tunnel in meinem Kopf und vereitelte jeden Versuch, mein Leben in die Hand zu nehmen, und obwohl ich ihm immer wieder sagte, er solle mich in Ruhe lassen, biss er sich an mir fest. Bald würde das Geld nicht mehr reichen. Ich würde keine Tabletten mehr bekommen, und Dag würde die Wahrheit erfahren. Und außerdem: Ich brauchte noch etwas anderes.
All die Wahrheiten und Unwahrheiten, mit denen ich jonglierte. Ich weiß noch genau, wie mein Vater seinen letzten Jahresring bekam. Während die Luft nach frisch gemähter Wiese roch und vor den Fenstern Wespen brummten, erlag mein Vater einer Krankheit, die mit Schmerzen im Bein und einer stinkenden, nicht verheilenden Wunde begonnen hatte. Er war bettlägerig geworden und im Verlauf weniger Monate verfallen. Seine Haut war wie Wachs oder langsam vergilbendes Papier, der Blick fahl und wässrig. Ein trauriger, seltsamer Anblick – mein Vater Torvid, der sich nie ausgeruht hatte und nie krank gewesen war. Ausruhen – das ist nichts für einen Bauern, dessen Blaumann allzeit bereit an der Schlafzimmertür hängt. Auf einem Hof wird gebuckelt, rund um die Uhr, jahrein, jahraus. Auf einem Hof hat die Arbeit weder Anfang noch Ende.
Doch jetzt lagen die großen Bauernhände reglos in seinem Schoß. Sein Blick war traurig. Die Haarbüschel auf seiner Brust wirkten immer buschiger, je mehr sein Körper zusammenschrumpfte. Einmal strich er mir übers Gesicht.
»Jetzt bist du es, die sich um mich kümmert.«
Als er das sagte, drehte sich mir der Magen um.
»Mmh.«
Ich wollte, dass er endlich verschwinden durfte, ertrug seinen Blick nicht mehr. Sah ihm an, wie er sich quälte.
Irgendwann war das Bein fast schwarz. Mit senfkorngelbem Gesicht, eingefallenen Wangen und knochigen Armen siechte er in seinem Bett dahin. Um seinen Oberkörper höher zu betten, nahm ich von zu Hause ein zusätzliches Kopf- und eins der bunten Papageienkissen mit. Leuchtende Farben auf schwarzem Grund hinter dem müden alten Kopf. Dann saß ich schweigend an seinem Bett. Mein Vater war still und in sich gekehrt, die Augen geschlossen, als würde er schlafen, obwohl er wach war. Das Zimmer roch nach ungewaschenem Körper und faulem Nachtatem. Verbrauchte Luft und die Wärme seiner Haut. Er löffelte gebutterten Kartoffelbrei aus kleinen Kaffeetassen. Er röchelte und teilte sich kaum noch mit. Er nannte mich nicht mehr Kåralein. Bald ließ er die Kartoffelbreitassen unangerührt neben dem Bett stehen. Bereitet ein Mensch sich auf den Tod vor, vergeht ihm der Appetit. Am Tag nach seinem zweiundachtzigsten Geburtstag aßen wir die Reste seiner Torte, danach sah ich ihn sterben.
Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, mein Vater würde noch kurz vor seinem Tod irgendwo ein Brett festnageln, wie ein Kesselflicker fluchen oder einen Acker düngen. Aber jetzt lag er still und reglos in einem schummrigen Zimmer mit zugezogenen Vorhängen. In meinem Schoß schimmerte das Papageienkissen. Mein Vater atmete vorsichtig. Als stünde ihm nur eine geringe Menge Luft zur Verfügung, die er sich gut einteilen wollte. Aber die Zeit scherte sich nicht darum, was er wollte.
Ich beugte mich über ihn. Draußen zitterte die Sonne, denn sie wusste, was jetzt passieren würde. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Dann war er fort.
Nach dem Tod meiner Mutter hatte die Welt sich für meinen Vater langsamer gedreht. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn er sie bis zum Schluss bei sich gehabt hätte, aber der Tod lässt sich nun mal nicht rückgängig machen. Es war, wie es war. In dem Moment, als die Wunde an seinem Bein ihn gezwungen hatte, Däumchen zu drehen, hatte sein Stündlein so gut wie geschlagen. Erst hatte er dagesessen, dann gelegen. Untätig, mit sauberen Fingernägeln.
Es war richtig, dass er jetzt denselben Weg gehen konnte wie Mutter, auch wenn ich ihn gemocht hatte.
Der Himmel weigerte sich zu regnen, es war ein schwüler Tag, und in einem Anflug von Panik hatte ich Liva und meine drei älteren Geschwister herbestellt. Schweigend betrachteten wir sein Gesicht, das wir nur quicklebendig kannten. Wir standen im Kreis um das Bett, in dem er geschlafen, in dem unsere Mutter uns zur Welt gebracht und jede Nacht neue Kräfte geschöpft hatte. Am Handgelenk meines Vaters tickte seine Armbanduhr. Die Wespen kamen immer näher, träge vor Hitze, aber auch hungrig nach Fleisch.
Als ich gegen Abend sein Bett abzog, lugte aus einem Loch in meinem Strumpf ein Zeh hervor. Neben mir weinte Liva. Ich spürte die Kieferndielen unter den Füßen. Durchs Fenster fiel Licht auf das Kopfkissen und die Kuhle, die mein Vater darin hinterlassen hatte. Sein Ehering steckte an meinem Finger, wie ein Versprechen. Ein paar Gramm wog er bestimmt. Als ich die Bettwäsche später zum Trocknen hängte, flatterte der Kissenbezug so schön im Südwind. Als wollte die Luft den Kopf streicheln, der noch vor Kurzem auf dem Stoff geruht hatte. Mein Papageienkissen nahm ich mit nach Hause, aber weil es von Krankheit besudelt war, warf ich es unterwegs auf einen Laubhaufen.
Ja, so muss es gewesen sein. Das ist also mit dem Kissen passiert.
Als wir nach dem Leichenschmaus nach Hause fuhren, saß ich im Auto vorn, neben Roar. Mit Resten der Butterbrottorte auf dem Schoß und einem Plastikeimer mit Blumensträußchen zwischen den Füßen. Roars Hände umfassten das Lenkrad. Bo und seine suchenden Augen verschwanden später mit Brüll-Åke irgendwohin. Dag und Bricken fuhren in die Stadt, um eine neue Küchenmaschine zu kaufen. Vielleicht hatten sie ja vor, mich gegen das Ding auszutauschen. Während sie fort waren, passierte nichts. Am Tag darauf war ich immer noch ganz benommen, aber immerhin brachten sie mir die Kastanie mit, um die ich sie gebeten hatte. An einer Stelle war die Oberfläche aufgesplittert, viel Mühe hatten sie sich bei der Auswahl nicht gegeben. Aber ich sagte nichts.
Habe ich mir nach der Sache mit Dag und dem Motorrad auch eine Kastanie eingesteckt?
Ich erinnere mich nicht.
Schlaf, Kindlein, schlaf.
Bos Sparbuch und der Goldring waren zusammen mit Dags und meinem Sparbuch in der obersten Küchenschublade verstaut. Der Ehering meines Vaters war breiter als Bos.
Sieben Gramm, erklärte der Mann im Juwelierladen. Ich zeigte ihm auch Bos Ring.
»Prälatur Trondheim?«
»Ja«, sagte ich.
Noch mal fünf Gramm. Endlich konnte ich wieder Termine bei Doktor Thorsén und Doktor Katzenschädel machen.
Doch dafür war ich vaterlos.