Wache

»Mein Schatz kann das für dich machen«, sagte Roar von seinem Stuhl, als ich ein gefrorenes Stück Fleisch in dünne Scheiben schnitt und die Kälte mir von den Fingern in den Körper strahlte.

»Ich bin dein Schatz«, sagte ich, weil uns niemand hören konnte.

Roar sah mich verdattert an und kaute auf einem Stück Wurst herum.

»Wann gehen wir nach Hause?«, fragte er.

Immer dieselbe Frage.

»Wohin gehen wir?«

»Wann gehen wir?«

Ich antwortete nicht. Ich kannte ihn nicht mehr. Dieselbe abgetragene Hose, dasselbe Hemd, aber das war alles. Vor jedem Satz musste er Anlauf nehmen. Ich wollte seinen Wörtern so gern eine Form geben. Oder ihm wenigstens über die Wange streichen. Aber ich ertrug es nicht mehr, ihn zu berühren. Es tat zu weh. Bei jedem Konsonanten sprühte er Speichel über den Tisch. Wenn er mich hin und wieder ansah, wandte ich mich ab. Bricken war im Garten Salat pflücken, und plötzlich blitzten Roars Augen wie früher. Wie damals, als er sich noch beherrschen konnte.

Ich hörte Brickens Schritte auf der Vortreppe, jeden Moment würde sie hereinkommen.

Sie war nur wenige Meter entfernt. Bestimmt hatte er sie auch gehört, aber für ihn waren die Schritte nur bedeutungslose Laute.

Er streckte die Hand aus, um mich zu berühren.

»Komm her.«

Mein Stuhl scharrte über die Dielen und kippte fast um.

»Ich muss weg, Sodbrennen«, warf ich Bricken im Vorbeigehen zu. »Hab sowieso keinen Hunger.«

Ich hörte, wie große weiche Pfoten hinter mir hertapsten. In der Tür drehte ich mich noch einmal um und sah, wie Roar auf seinem Essen herumkaute. Ehe er einen Bissen herunterschluckte, blähten sich seine eingefallenen Wangen auf.

Wie lange hatte er noch? Ein Jahr? Zwei? Fünf?

So ging es nicht weiter.

Bricken sah es auch.

»Das Gehirn, Kåra«, flüsterte sie so leise, dass er es nicht hören konnte. »Das Gehirn spielt nicht mehr mit, und das Gehirn ist sein ganzes Ich.«

Sie rieb die Hände aneinander, wie um sich aufzuwärmen, und senkte die Stimme.

»Der Rest von uns ist nur Hülle. All das Fleisch, das wir durchs Leben schleppen, damit es das Gehirn schützt, in dem unser Ich steckt.«

Das Gehirn verantwortet alles, was wir tun, sagte mein eigenes Gehirn in die Stille.

Ein Gehirn pro Kopf, passen Sie gut drauf auf.

Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, um nicht zusammenzusacken. Draußen war der Himmel unentschlossen, ob er blau, grau oder schlicht finster sein wollte. Jeden Moment konnte es regnen. Darüber können wir nicht entscheiden. Vielleicht über Leben und Tod, aber nicht über den Regen.

Es kam kein Regen.

Roar wurde mit jedem Tag krummer, ferner, jetzt war er genauso verschlissen wie seine Hose. Nur noch ein Kleiderbündel. Sonst nichts. Augen wie kaputte Lampen. Wörter und Buchstaben verwirbelten und nahmen keine richtige Form an. Bricken und ich rangen ebenfalls nach Worten, sprachen langsam und einsilbig, wie mit einem Baby. Dann verstummten wir. Sogar Roars Augen hörten auf zu sprechen. Ein grausames Geheimnis. Dass ein Mensch mir nichts, dir nichts verschwinden, jemand anders, ein Niemand werden kann. Die Zeit tickt weiter, selbst wenn man an den Zeigern dreht. Roar gab es nicht mehr, nur noch Kleider um einen krummen Körper. Dass er trotzdem immer noch den Weg zum Hochsitz mit dem schäbigen Fell und wieder zurück fand, grenzte an ein Wunder.

Er wusste ja nicht mal mehr, welchen Wochentag wir hatten oder dass eine Banane eine Frucht war. Einmal machte er mit lauter Stimme eine vulgäre Bemerkung, und da wurde mir klar, dass er vergessen hatte, was ungesagt bleiben musste. Schmutzig weiße Lügen lauerten darauf, sich auf ein wehrloses Opfer zu stürzen. Ich hatte Roar ein Versprechen gegeben und mich auserwählt gefühlt. Er hatte

Was würde er tun?

Was würde er sagen?

Wer würde uns hören?

Wie könnte ich je wieder wagen, ihn allein zu lassen? Doch Jammern war zwecklos. Ich musste handeln. Ich zählte die Tage herunter, ging einkaufen und hastete im Laden mit roten Wangen durch die Gänge, obwohl es frisch war dort drinnen, es roch nach Weizenbrot und Kühlregal. Anschließend rumpelte der Bollerwagen über die Straße, als ich halb im Laufschritt nach Hause eilte, wo Bricken eine Männergestalt tröstete, die nackt im Schlafzimmer stand und sich an nichts mehr erinnerte. Roar weinte, weil er etwas verlegt hatte, und pinkelte sich voll.

»Ich will nicht mehr allein hier sein!«, sagte er. »Ich will nach Hause.«

»Du bist hier zu Hause, Roar«, erwiderte Bricken, »in dem Haus, das dein Vater und deine Mutter gefunden haben, wo sie euch ein Heim geschaffen haben, dein ganzes Leben hast du hier verbracht.«

Dann hielt sie ihn lange im Arm. Zwei knorrige Bäume im harschen Wind, und ein Stück entfernt ich, die Säge. Über Brickens Schulter hinweg fing Roar meinen Blick ein und hielt ihn fest, früher hatte ich das gemocht, als er die Augen auch wieder von mir lösen konnte. Sein Körper bebte vor Lachen, die Angst hatte er vergessen. Seine Hände tasteten sich über Brickens Kleid. Es war, als betrachtete ich das Foto eines Fremden. Eines Anstatt-Roars, der seinen

 

Ich erinnere mich an einen sehr alten Mann, der in einem Bett liegt. Er muss an die neunzig sein und lächelt, als ich das Zimmer betrete. Seine kräftigen Hände haben das Stockwerk gebaut, in dem wir uns befinden. Sie sind groß und schwielig und haben mich einmal berührt. Unter seinem Hemd pocht ein Herz. Sein Körper hat längst aufgegeben, aber seine Seele ist unerschütterlich. Ich betrachte die auf der Decke ruhenden Pranken. Es ist lange her, dass sie im Wald kleine Kinderhände hielten. Dass sie mich hielten. Doch die Schwielen sind noch da, wie Erinnerungen auf der Haut. Als ich seine Hand nehme, fühlt sie sich warm an, dann legen wir unsere Stirnen aneinander.

Ich habe mir diese Erinnerung ausgedacht, denn es kam nie dazu. Der Moment steckt wohl irgendwo in der Zeit fest. Roar wurde nie dieser Mann. Stattdessen verwandelte er sich in eine Art Überbleibsel. Er vergaß, sich zu waschen. Er war rastlos, seine Finger scharrten über die Decke, die über seinem Schoß lag, er ging auf und ab, von Zimmer zu Zimmer, nervös, suchend, sein

»Das Ende. Es ist bald so weit.«

Er betrachtete mich mit dem Blick einer Katze.

»Wie soll mein Herz weiterschlagen, wenn deins stehen bleibt?«, fragte er.

Es ist dein Herz, das stehen bleibt.

Aber das dachte ich nur.

Kurz darauf stand er in der Diele, die Schuhe in den Händen.

»Lass mich nicht allein!«, sagte er. »Bring mich nach Hause!«

Er packte mich am Oberarm. Sein Griff war so fest, dass ich mich kaum losreißen konnte. Später stand ich in der Küchentür und sah zu, wie er mit leerem Blick vor einem unangerührten Teller saß.

Ich bin’s, Kåra. Du bist jetzt sehr alt. Wir wissen nicht genau, wie lang du noch leben musst. Darf ich dich töten?

Natürlich sagte ich nichts dergleichen. Stattdessen versuchte ich, seinen Blick einzufangen, doch er sah zu Boden. Vielleicht kramte er in seinen Erinnerungen. Aber wie sollte ich überhaupt vorgehen? Ich konnte ja nicht mal meine Tabletten verwenden. Die Worte der Ärzte hallten in meinem Kopf wider:

Aus Roars Mund purzelten Kartoffelstückchen, als er vergaß, ihn beim Kauen zu schließen. Es war nicht meine Aufgabe, ihm die Mehlschwitze vom Kinn zu wischen, deshalb sah ich zu Bricken, doch die war beschäftigt. Immer mehr Essen quoll aus Roars Mund und tropf‌te auf Teller und Tisch. Ein Klecks landete auf dem Flanellhemd, wie damals bei Bo. Mein Bo, der seinen Großvater so lieb hatte. Ich konnte nicht hinsehen.

 

Am Ende holte ihn der Nebel in seinem Kopf. Oder ich, wie man’s nimmt. Meine Feigheit erlöste uns beide. Bricken wischte an dem Tag die Schränke aus, ich nähte Knöpfe an, und Anstatt-Roar blätterte in der Zeitung, als ergäben die Wörter noch Sinn. Es roch nach Kot im Zimmer, und ich wandte Nase und Körper ab, kehrte der Welt den Rücken zu und fuhrwerkte vor mich hin, bis Roar mich plötzlich anfasste – vor Brickens Augen.

Er grapschte mir an die Brust.

Knetete sie mit warmen Händen.

Da war alles vorbei.

Ein Blitz zuckte durch mein Zwerchfell, mein Mageninhalt schoss in den Hals, und ich war mir sicher, ich müsste mich gleich übergeben. Hatte Bricken uns gesehen? Würde Bo in Luleå jetzt die Wahrheit erfahren, was würde er sagen? Ich sah ihn vor mir, auf einem Platz irgendwo in der Stadt, umzingelt von Menschen, die mit den Fingern auf ihn zeigten.

Deine Mutter und dein Großvater! Widerlich!

Ich riss mich los und stürmte nach oben. Schwere Schritte, glasiger Blick. Die Gedanken modrig wie abgestandenes Wasser. Ich setzte mich auf den harten, schiefen Hocker vor der Schlafzimmertür und stützte den Kopf in die Hände. Meine unsichtbare, wolfsfressende Hündin ließ sich vor mir nieder, und ich gab ihr ein kaum merkliches Zeichen mit dem Blick.

Mach dich bereit.

 

Leitersprosse entfernen, Klebstoff‌ drauf, Sprosse wieder anbringen, trocknen lassen.

Ich wollte, dass er starb. Ich hatte versprochen, ihm zu helfen, aber das war nicht der Grund, weshalb ich Zimtwecken für ihn backte. Ich packte seine Brotdose voll, stopf‌te sie in die Jagdtasche und zeigte ihm, welche Richtung er einschlagen müsse.

»Ruh dich ein bisschen auf deinem Hochsitz aus«, sagte ich, »geh langsam, lass dir Zeit.«

»Mein Hochsitz.«

»Ja, geh nur.«

Ich sah, wie er losging, krummer Rücken, kurze Schritte über den Hof. Auf der Wiese glitzerte Raureif, bestimmt knisterte das Gras unter seinen Füßen. Auf dem Weg zur Haustür sah ich mich im Dielenspiegel vorbeiflimmern. Ich sah aus wie immer, nur blasser, mein Mund ein schmaler

Ein alter Körper braucht Zeit, wenn er sich über Wurzeln und Steine schleppen muss. Ich schlug mich durch Farnkraut und Blaubeersträucher, gelangte an die Lichtung, kletterte die Leiter hoch, ließ die lockere Sprosse aus und postierte mich hinter einem der Gucklöcher. Ich dachte an meine Owtscharka. Atmete kalte Winterluft ein. Spürte ein Ziehen in den Zähnen.

Vielleicht würde es bald schneien. Meine Hand zitterte. Meine Beine zitterten. Vielleicht würde er nicht kommen. Vielleicht hatte er kehrtgemacht.

Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah.

Ein Rauschen in meinen Ohren.

Eisiger Winterwind.

Harsch.

Seine Füße schlurften über den Boden. Die Leiter seufzte, als er die Hände um die Holme legte. Die Owtscharka rappelte sich auf, immer noch ruhig, aber wachsam. Sie hatte ihn gewittert, sie wusste, dass er in der Nähe war.

Das Holz ächzte, als Roar seinen Griff verstärkte. Dann stieg er auf die unterste Sprosse. Knorrige Finger, blaue Adern unter der Haut, während seine Hände sich hocharbeiteten. Roar schob den Rucksack und das Gewehr vor sich auf den Absatz. Dann kamen seine Haare zum Vorschein. Meine Owtscharka spannte die Muskeln unter ihrem zotteligen Fell. Roar machte auf der Leiter einen krummen Rücken, das wusste ich, obwohl ich ihn nicht sah. Ich

Roars Gesicht wirkte nicht verwundert. Wahrscheinlich hatte er gespürt, dass wir auf ihn warteten. Ob ich es geschaff‌t hätte, werde ich nie erfahren, denn im selben Moment brach die Sprosse ab. Kurz darauf schlug er auf dem Boden auf, begleitet von einem tiefen Seufzer. Zum allerletzten Mal. Die Seele glitt aus seinem Körper, dann war er tot. Für einen kurzen Moment hielt der Wald den Atem an und ließ ihn sehr langsam entweichen. Eine Weile holte ich für Roar Luft, die Augen geschlossen, das Gesicht zur Sonne. Meine Owtscharka trottete davon und verschwand zwischen den Bäumen.

Eine preiselbeerrote Lache um seinen Kopf, das Blut pumpte aus ihm heraus wie dunkelroter Kuchenteig. Roars Blut. Jetzt brauchte er es nicht mehr. Der Boden war von schönen gelben Blättern bedeckt, und das Blut breitete sich darüber aus. Bald würde es gerinnen und hart werden wie nachtaltes Eis.

In jedem Augenblick unseres Lebens sind wir im Sterben begriffen, aber das ist nicht schlimm, denn meist sterben wir ja doch nicht. Nur ein Mal. Ein paar Minuten genügen, um ein pochendes Herz in einen Fleischklumpen zu verwandeln, der in unserem steifen Körper ganz langsam erkaltet. Und trotzdem drehte die Welt sich weiter, wartete nicht. Die Vögel zwitscherten, und der Tag färbte sich blau.

Als ich die Leiter hinunterstieg, dämmerte es schon.

Doch ein paar Flocken überlebten. Roars weißes Haar wurde noch weißer. Ich wich ein paar Schritte zurück, weg von ihm, und ging los. Ich überließ ihn der Natur. Die Kälte war jetzt freundlicher, die Luft fühlte sich fast warm an. Sie kroch mir nicht unter Kleidung und Haut, sondern strich mir sanft übers Gesicht. Weiße Flocken auf dem Boden. Bald würde niemand mehr unsere Spuren sehen. Die Sonne färbte sich rot, verwischte den Horizont und verschwand. Ich spürte in jeder Faser, dass ich auf dem Weg nach Hause war.

Aus dem Küchenfenster fiel weiches Licht in den Garten. Als wäre nichts geschehen.

Am Abend fehlte er beim Essen.

»Ob er in den Wald gegangen ist?«, fragte Bricken.

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

Keiner hatte ihn gesehen. Das wusste ich.

»Oder doch«, sagte ich. »Ich hatte heute Morgen Zimtwecken gebacken und ihm welche gegeben. Er hat sie eingepackt und ist rausgegangen. Wohin, weiß ich nicht.«

Bricken klemmte sich augenblicklich hinters Telefon. Sie ahnte, wo Roar hingegangen war. Der Suchtrupp zog mit einem Hund los und fand die Leiche in weniger als zehn Minuten. ›Der Tod ist wie Regen‹, hat Roar einmal gesagt, glaube ich. Er könne nass und eisig sein oder einen wärmen,

Es wurde eine lange Nacht. Roar klebte an unserer Kleidung, an unseren Körpern, er war in meinem Herzen. Die Möbel senkten die Blicke, schauten weg, tuschelten über mich. Lange hatte er überlebt. Jetzt war er gestorben. Das Haus mit dem grünen Sprossenstuhl. Die Hütte im Wald. All die zügig gelösten Kreuzworträtsel. Sein Platz auf Erden, wie er immer gesagt hatte. Jetzt war es nicht mehr sein Platz. Höchstens meiner. Die Gerüche, das Flanellhemd, der unbenutzte Rollator, das alles war immer noch hier. Aber Roar war fort.

 

Bricken sitzt mir gegenüber, mit einer kalten Tasse Kaffee vor sich, und ich sehe ihr an, dass sie an ihn denkt. Ein Krümelhäufchen auf dem Tisch. Die Fliege, die vorhin noch am Fenster gesurrt hat, liegt auf der Fensterbank.

»Wie seid ihr zusammengekommen?«

»Wir haben von Anfang an zusammengehört«, antwortet Bricken, und vielleicht glaubt sie das selbst.

Dann schweige ich. Die Uhr tickt vor sich hin, schlägt zur Viertelstunde, sonst nur Stille, Leere. Ich helfe Bricken, sich hinzulegen, sie will heute Nacht im eigenen Bett schlafen. Ihre Schultern sind so knochig. Schmal, hart und spitz an meinen Fingern.