Owtscharka
Sie trägt die graue Strickjacke mit bezogenen Knöpfen, ein Weihnachtsgeschenk von Roar, nachdem sie das Paket geöffnet hatte, war sie sofort hineingeschlüpft und hatte vor Freude Pirouetten gedreht. Inzwischen ist das Ding ganz fusselig, die Knötchen an den Ärmeln haben sich zu kleinen grauen Würmern zusammengerollt. Nicht mehr lange, dann wird die Strickjacke ausgedient haben, so wie Roar. An seinem Platz hier am Tisch prangen dünne Ringe auf dem Wachstuch, Spuren seines großen Bechers aus der Holzfabrik. Sein Taschenkalender liegt um einen Kugelschreiber geschlossen auf dem Tisch, glänzend schwarzer Einband, rotes Bändchen. Den Stift könnte ich in meiner Handtasche verschwinden lassen, falls ich es doch irgendwann schaffe, mich aufzurappeln und zu gehen; er steht mir nicht weniger zu als Bricken. All die Dinge, die ich nicht aussprechen darf, die tief in mir vor sich hin schimmeln, mich von innen verrotten lassen. ›Gib mir die Papiere und verzieh dich!‹, will ich schreien. ›Ich hätte die Küche erben müssen, das alles sollte mir gehören! Verschwinde und mach das Licht hinter dir aus!‹ Ihr Gesicht ist zerfurcht wie Elefantenhaut, sie zupft an den Falten unterm Kinn und nimmt einen geräuschvollen Schluck aus ihrer Tasse, und obwohl ich mir gerade erst etwas geschworen habe, würde ich ihr am liebsten fest in die Augen sehen und ein Stück vom Tassenrand abbeißen, da, wo die Blumen besonders blau sind, mich vorbeugen und direkt vor ihrem Gesicht auf den Scherben herumkauen, dass ihr das Geräusch in die Ohren sticht.
Sie sieht so sanftmütig aus.
»Unser Leben spielt sich in einer bestimmten Nische der Zeit ab, man kann nur hoffen, dass man dort vor Wind und Wetter geschützt ist.«
Während sie das sagt, sitze ich stumm da, nackt und fröstelnd unter meinen Kleidern, und draußen wird es dunkel. Als das Telefon klingelt, zucken wir zusammen, der Rufton schneidet durch die Luft, und Bricken sieht fast pikiert aus, als ich zur Küchenzeile gehe und den Hörer abnehme. Es ist Liva. Ihre Stimme sickert aus den Löchern des Bakelit-Hörers – wie es mir gehe, will sie wissen, natürlich kämen Åke und sie zur Beerdigung, und Lotten auch, nur Sture sei verhindert, ob es schon ein Datum gebe? »In zwei Wochen«, murmele ich. Während sie weiterplappert, ziehe ich mit dem Finger die Maserung der Arbeitsplatte nach. Draußen zeichnen sich die Obstbäume dunkel vorm Himmel ab, knorrige Schattenrisse, die sich nicht darum scheren, dass sie gerade die letzten Sonnenstrahlen des Tages aufsaugen. Liva seufzt in den Hörer. Überall Tod, das mit dem König sei doch wirklich tragisch, und dann dieser Clark Olofsson in Stockholm … Ich schaue nur aus dem Fenster. Livas Worte scheuern wie Sandpapier auf meiner Haut, sie gehören nicht hierher, nicht in diesen Raum, nicht in dieses Haus. Sie sind so alltäglich, dass meine Mundwinkel zucken, und am liebsten würde ich laut und schrill lachen, aber stattdessen beiße ich mir auf die Unterlippe. »Grüß Bricken«, höre ich noch, ehe ich auflege. Als ob. Ich stelle mir vor, wie ich beim Leichenschmaus zwischen Kaffee und Schnittchen die Trauerrede halte, die mir auf der Seele brennt.
Ich war Anfang zwanzig, als ich hierhergezogen bin, in dieses kleine zugige Haus im Nirgendwo. Seither sitze ich hier fest, mit immer raueren Händen, während eine Frau mit zerknittertem Gesicht mich mit ihren Geschichten bombardiert. Um uns herum vermischten sich die Gerüche von Kartoffeln, Laub, Wassertropfen und gerösteten Kaffeebohnen. Gardinen wurden ausgewechselt und Küchenschränke neu gestrichen, immer im selben Hellblau. In den ersten Jahren war ich oft im Garten und sah mich nach meiner Owtscharka um. Wenn Bricken meinen nervösen Blick bemerkte, winkte sie mich zu sich. Sie streichelte ihre eingebildete Katze, trank einen Schluck Kaffee und fing an, aus ihrem Leben zu erzählen, dieselben Geschichten, die sie auch heute Abend runterleiert.
Meistens erzählt sie von ihrer Stiefmutter Frida, zu der sie als kleines Mädchen kam. Im Dorf munkelte man, Frida sei so eine, die Kerle empfange. Bricken weiß nur, dass Frida noch vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag vier Kinder von ebenso vielen Männern zur Welt brachte. Einer war Buchhalter, ein anderer Bauer. Der Vater von Brickens jüngerer Stiefschwester Asta soll ein Köhler aus dem Nachbardorf gewesen sein, deshalb wurde sie auch Kohlen-Asta genannt – wenn die anderen Kinder sie nicht gerade Hurenbalg riefen.
»Es ist nicht leicht, bei jemandem aufzuwachsen, über den die Leute reden«, sagt Bricken, und ich denke, dass es nicht leichter ist, diejenige zu sein, über die geredet wird.
Immer glaubt Bricken, sie wüsste alles.
Irgendwann bekam Frida einen hartnäckigen Husten, ihr Brustkorb schepperte wie ein Blecheimer.
»Wenn ich an Frida denke, erinnere ich mich an ihre zarte Stimme und ihre weichen Brüste, die ihr in die Achseln rutschten«, sagt Bricken, während wir hier in unseren Altweiberkörpern sitzen. »Ja, in meiner Erinnerung hängen ihre Brüste in den Achseln. Bestimmt, weil sie die meiste Zeit lag. Sie konnte kaum noch aufstehen.«
Die Kleinen weinten, weil es jetzt ihre Aufgabe war, für Nahrung zu sorgen. Sie mussten mit einem Korb auf die Straße gehen, zum Betteln. Das war der Mutterboden, auf dem sie heranwuchsen, einen anderen gab es nicht. Ein Leben inmitten von Kälte, Feuchtigkeit und Dreck. Abgehärtet und nach Geborgenheit lechzend, im Innern ein Sumpf aus Angst.
»Greta und Alvar waren die niedlichsten, und ihre einzige Chance, den Kopf über Wasser zu halten, war Mitleid. Viele Erwachsene zielten bewusst dahin, wo wir Kinder am verwundbarsten waren: ›Bastarde kriegen nichts von uns!‹, schrien sie. Aber bei den Kleinsten hielten sie sich meist zurück.«
Angriff ist die beste Verteidigung, denke ich.
»Hast du Erinnerungen an deine leibliche Mutter?«
Bis jetzt habe ich mich nie getraut, sie das zu fragen. An meine Mutter kann ich mich nur zu gut erinnern, auch wenn wir uns überworfen haben.
Bricken zuckt zusammen. Sie wird nicht antworten, schätze ich. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Doch dann räuspert sie sich:
»Ich erinnere mich, wie sie mich hochnahm, wenn ich weinte. Und wie sie mir einmal einen hübschen Kranz aus Wiesenblumen geflochten hat. Sie hätte alles getan für uns Kinder. Alles.«
Mein Körper wird zu Watte. Ich war mir sicher gewesen, sie würde wütend werden oder traurig. Manchmal wollte ich sie nur deshalb danach fragen. Aber stattdessen wird sie still, verstummt und weicht meinem Blick aus. Ich will tiefer graben, fragen, ob ihre Eltern gestorben sind oder sich nicht um sie kümmern konnten, aber Bricken sieht mir nicht mehr in die Augen. Als sie schließlich wieder von Frida anfängt, habe ich den Eindruck, sie will mit ihren Worten eine falsche Fährte legen.
Frida wurde immer magerer und schwächer und schließlich geradezu durchsichtig. Sie fror und schwitzte, und ihr Bettzeug wurde mit jedem Tag feuchter. Egal, wie oft Bricken ihr die Stirn abtupfte, Frida war immerzu schweißnass, und der Husten wollte sich nicht lösen. Die Kinder drängten sich in dem anderen Bett zusammen, um den feuchten Laken zu entkommen.
»Der Unterschied zwischen einem kranken und einem gesunden Menschen ist einfach: Ein gesunder Körper ist ein Kahn, ein kranker ein Käfig«, sagt Bricken. »Es geht darum, ob man aufstehen, das Haus verlassen und sich Essen beschaffen kann. Ob man noch imstande ist, sich den Allerwertesten abzuwischen.«
Eins der Formulare mit Roars Namen segelt vom Tisch und bleibt auf dem Boden liegen, so wie Roar. Er fehlt mir. Draußen im Garten warten all die ungepflückten Äpfel. Sie hängen nicht mehr an den Zweigen, sind der Leere gewichen und liegen glitschig im Gras. Wenn ich jetzt in diesem Moment auf dem Matschboden bei den Apfelbäumen stünde, sähe das erleuchtete Küchenfenster bestimmt warm und einladend aus. Früher haben wir die Äpfel gemeinsam geerntet: Roar und ich haben Bricken die vollen Körbe durchs Fenster gereicht, und sie hat Kompott daraus gekocht und dabei dem Katzenvieh Lieder vorgesungen. Von jetzt an muss ich mich allein um die Ernte kümmern.
Am Zaun taucht ein Reh auf, wir sehen uns einen Moment lang in die Augen, dann ist es wieder verschwunden. Vielleicht war es nur Einbildung oder der Schatten eines Baums. Rehböcken wächst jedes Jahr ein neues Geweih, wie neugeboren aus kleinen Knospen. Bei Menschen ist es anders. Getan ist getan.
Der Abend senkt sich auf uns herab wie eine Glasglocke. Um diese Jahreszeit ist er blass, aber bald kommt die pechschwarze Dunkelheit – der Herbst rückt heran. Wir suchen Bestattungskleidung für Roar heraus, etwas anderes als diese schwarze Zwangsjacke. Ich nehme Bügel aus dem Schrank und hole Wäschestapel hervor, halte ein Kleidungsstück nach dem anderen vor Bricken in die Höhe und sehe, wie sie den Kopf schüttelt. Das blaue Hemd mit dem Snusdosenabdruck in der Brusttasche, das ich vor Jahren bei Domus in Söderhamn gekauft habe, bekommt ein Nein.
»Nicht das. Der Stoff kratzt, hat er gesagt.«
Ein Stirnrunzeln für das graue Hemd, »darin schwitzt er«, eine wegwerfende Handbewegung, als ich einen Stapel Norwegerpullover hochhalte, »wir fahren doch nicht nach Norwegen«.
Ich verziehe keine Miene und mache weiter. Beiße die Zähne zusammen, was auch sonst? Vielleicht ist sie ja mit dem mattschwarzen Anzug einverstanden, auch wenn ich ihn nicht mag. Die grüne Jagdjacke würde Roar besser wärmen. Bricken will seine Sachen loswerden, sie spenden oder wegwerfen. Ich würde sie viel lieber behalten, vielleicht könnte ich sie unter meinen eigenen Sachen tragen. All die Kleidung, die jetzt niemand mehr ausfüllt, der Stoff brennt an meinen Fingern. Unterhemden, an die ich mich so gut erinnere. Das hell gestreifte Sonntagshemd, das fast nur im Schrank hing, Jägermützen mit abgewetztem Innenfutter, Latzhosen mit Snusdosenabdruck. Die Hemden landen im Sack für die Kleidersammlung. Hosen, Mützen und Unterwäsche soll ich wegwerfen, also stopfe ich sie in zwei schwarze Plastiksäcke. Herrenlose Dinge. Hoffentlich bittet Bricken mich nicht, im Flur mit den Stiefeln weiterzumachen. Es zieht dort. Wenn sie fragt, werde ich ihr das sagen. Aber erst einmal halte ich das nächste Hemd hoch, das rot-weiß karierte. Roar konnte es nicht mehr allein anziehen, als das Zittern anfing und er die kleinen Knöpfe nicht zubekam. Ich musste ihm helfen.
Ich erinnere mich an dich in den Sachen, ich erinnere mich an dich im Garten neben dem gekappten Baum, ich erinnere mich an dich beim Pilzpflücken, die Mütze tief in die Stirn gezogen, ich erinnere mich an dich im Gegenlicht vor dem Fenster, als du dieses Hemd überstreiftest.
Am Ärmel sind die Nähte aufgegangen, aber der Stoff ist in gutem Zustand. Bricken zeigt auf die schwarzen Säcke.
»Da rein.«
»Wir können Geschirrhandtücher daraus schneiden«, protestiere ich.
Sie seufzt, und ich darf das Hemd zur Seite legen.
»Im einen Moment gehört einem etwas. Im nächsten kommt ein Windstoß, und plötzlich gehört einem gar nichts mehr«, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie Zwirn. »Und man kann nichts dagegen tun – am Ende bleiben uns nichts als Staub und Spinnweben.«
Damit hat sie recht, schätze ich.
Aber warum reibt sie mir immer alles unter die Nase?
Vom ersten Moment an hatte Bricken die Oberhand. Ihr Erdgeschoss blieb Dags wahres Zuhause. Immer öfter verbrachten wir die Abende hier unten und drängten uns um den Küchentisch, um Brickens Töpfe und Roars Kreuzworträtsel. Nach dem Essen ging ich mit Roar nach draußen, um ihm bei der Arbeit zu helfen.
Ich sah ihm so gern zu, wenn sich seine Hände um die Axt legten, fest und gelassen zugleich. Wenn er sich um dieses und jenes kümmerte, um Bricken und mich zu entlasten. Wenn er Wurzelgemüse schälte oder sein Kreuzworträtselheft zuschlug, um Brennholz zu holen. Nie zögernd, nie gehetzt. Jede Aufgabe wurde rasch und gründlich ausgeführt. Er stand früh auf und ging zeitig zu Bett; aufstehen hieß für ihn arbeiten, im Bett liegen hieß schlafen, und zwischendurch wurde die eine oder andere Mahlzeit eingenommen. Aber Roar konnte auch anders sein – manchmal hatte ich den Eindruck, dass er wachträumte. Wenn er sich in der Nähe der verkrüppelten Salweide aufhielt, bekam er oft nicht mehr mit, wenn man ihn rief. Manchmal saß er wie in Trance auf dem Steinmännchen und ließ die Finger über die rauen Steine wandern. Wenn er sich am Küchentisch über seine Kreuzworträtsel beugte, auf dem Platz, wo er das beste Licht hatte, existierte nichts um ihn herum, bis er jedes Kästchen ausgefüllt hatte. Oft stand ich in der Tür und sah zu, wie er in sich selbst verschwand – seine Atemzüge wurden tiefer, und ich stellte mir vor, wie sein Herz klopfte, als wäre er gerade einen Hügel hochgerannt, bis ein regelmäßiges Puckern den Raum erfüllte, obwohl es mucksmäuschenstill war. Er rührte sich nicht, drehte nur den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger. Bricken betrachtete ihn von ihrem Platz am Herd aus. Bewachte ihn. Durchbohrte mich mit dem Blick. Aber der wahre Mittelpunkt des Geschehens war natürlich Dag. Bricken und Roar sahen ihn immer an, als wollten sie ihn beschützen. Und manchmal, als würden sie ihn betrauern, obwohl er noch am Leben war.
Mein Schwiegervater, jemandes Vater.
Ich konnte Bricken ansehen, wenn der Winter kam. Sie holte ihre Strickjacke und dicke Wollsocken hervor und setzte die komische Dachsfellmütze auf, die Roar ihr geschenkt hatte, grau mit schwarzen und weißen Streifen. Ich glaube, er hatte sie selbst gemacht. Sonst war Bricken schwer zu greifen, wechselwarm. So, wie ich auch sein wollte und wie ich hoffentlich werden würde.
Würde Dag mir irgendwann auch so eine Mütze machen? Konnte er das überhaupt?
Er machte Geräusche beim Essen. Das Herz eines Kindes in einem vierschrötigen Körper. Obwohl ich die Seife gleich neben den Wasserhahn legte, nahm er sie nie zur Hand. Wenn er sich auszog, warf er seine Sachen auf den Boden. Schmutzwäsche im Flur, getragene Sachen in der Schlafnische, dreckige Unterhosen im Bad. Sollte ich sie dort liegen und vor sich hin stinken lassen? Sie durchs Fenster auf den Kartoffelacker schleudern? Ich bückte mich und klaubte sie zusammen. Es ging mir gut. Der Krieg kam nicht bis nach Schweden, und mit zwei Waldarbeitern im Haus hatten wir genug Lebensmittelmarken. Kein Grund zur Klage. Als Dag und sein großer Bruder Emil Kinder gewesen waren, hätten sie manchmal nichts zu essen gehabt, hat Bricken einmal erzählt. Deshalb schickte sie die beiden zum Rävbacka-Hof, damit sie dort für ein paar Bissen aushalfen. Sie klang so dramatisch.
»Roar war strikt dagegen, dass sie auch nur einen Fuß auf den Pfad nach Rävbacka setzten. Also schickte ich sie rüber, wenn er nicht hier war. Ich konnte sie ja nicht verhungern lassen.«
Roar schielte in unsere Richtung, ehe er sich wieder seinem Kreuzworträtsel zuwandte. Bricken erzählte weiter und schälte dabei Kartoffeln:
»Dort herrschte ja keine Armut. Ada Nilsson vom Rävbacka-Hof hatte genug Geld, um in Pelzmantel und Muff durch die Gegend zu spazieren, und genau das tat sie auch. Ihr Mann lag ja längst unter der Erde und konnte nichts mehr dazu sagen. Wusstest du, dass der alte Nilsson sich den Kopf aufgeschlagen hat? Aber das war vor meiner Zeit. Ach, wo wir gerade von ihm reden: Die Leute nannten Nilsson auch den ›Bock von Hälsingland‹. Frauen an jeder Ecke. Weiß der Fuchs, was sie an ihm fanden. In der Dorfschule gab es in jeder Klasse mindestens ein Kind, das ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war.«
Roar bat sie aufzuhören, aber Bricken tat selten, was er wollte. Ehe sie fortfuhr, stieg er in seine Stiefel und ergriff die Flucht.
»Es heißt, seine Frau sei damals fast gestorben, weil es ihn so in der Hose gejuckt hat. Einen ganzen Stall voll Kinder hat sie zur Welt gebracht. Ein wahrer Freudenspender, der alte Nilsson. Und jede Frau hatte mal das Vergnügen. Bis der Stein ihn erwischt hat. Du merkst, es hätte dich schlechter treffen können, oder?«
Sie lachte. Brickens Wort war Gesetz. Für uns alle.
Zu meiner Erleichterung erlaubt sie mir endlich, die Kleiderhaufen beiseitezulegen. An den Sachen haftet immer noch Roars Geruch, ich schließe die Augen und atme ihn ein, spüre, wie meine Wangen warm werden. Bricken setzt noch eine Kanne Kaffee auf und klopft den alten Kaffeesatz in den Komposteimer. Er ist fast voll, später werde ich ihn rausbringen müssen.
Mit zitternden Händen hebt sie die Tasse an die Lippen. Im Radio wird wieder von diesem Dammbruch in Värmland berichtet, es heißt, die Wassermassen hätten eine Frau mit sich gerissen, sie sei ertrunken. Aber ich bin nicht die Frau. Ich bin der Damm. Könnte jederzeit das Haus fortspülen, über meine Schwiegermutter hinwegbrausen, sie ertränken. Bricken fängt schon wieder von ihrer Stiefmutter an. Nachdem Frida ihre älteste Tochter an den Scharlach verloren hatte, brauchte sie Hilfe mit den Kleinen. So kam Bricken zu ihr. Und ein paar Jahre später, wusch!, zerstreute ein Windstoß die Kinder wie Löwenzahnsamen in alle Himmelsrichtungen. Jetzt, fast siebzig Jahre später, wird Brickens Blick glasig.
»Ein Wunder, dass Frida nicht geschielt hat«, sagt sie, »bei all den Kindern, nach denen sie schauen musste. Und für jeden von uns hatte sie genug Wärme.«
Wie es sich für eine gute Mutter gehört.
Die Worte fangen Feuer in mir.
»Wobei sie natürlich dafür bezahlt wurde, dass sie mich bei sich aufnahm.«
Sie zupft die Tischdecke zurecht, wohl ein Versuch, ihre Hände zu beruhigen.
»Mutterliebe hat viele Gesichter.«
Was meint sie?
Meine Mutter meinte immer, ich sei schreckhaft und egoistisch – sie drohte mir mit Norrfly, als ich einmal Angst bekam und vergaß, den Kuhstall zu verriegeln. Und nachdem ich beim Schweineschlachten einen Knecht geschubst hatte, schickte sie mich zu Doktor Thorsén, damit der mich in eine Patientenakte verwandelte. Bricken und ich haben beide einen Sohn. Mein Kind ist auch ihr ganzer Stolz. Bo wird mich nicht verstehen, wenn ich ihm eines Tages alles erzähle. Dabei habe ich ihm keinen Schaden zugefügt – glaube ich jedenfalls. Bricken sitzt mir gegenüber und sieht aus wie ein normaler Mensch, obwohl sie als Kind an die Frau verkauft wurde, die am wenigsten Geld verlangte. Sie erklärt es so, dass die Armut damals in allen Ritzen und Ecken gesteckt habe. Familien hätten gegen Bezahlung fremde Kinder bei sich aufgenommen, um von dem Geld die eigenen zu ernähren.
»Wir waren drei Geschwister«, sagt Bricken und sieht zum Fenster. Draußen ist es stockfinster. »Ich war die Jüngste und kam zu Frida. Mein Bruder war der Einzige, der bei unserer Mutter blieb. Tja, man kriegt nichts geschenkt im Leben.«
Als könnte sie meine Gedanken lesen.
»So war es damals, und so ist es auch heute«, fährt sie fort. »Manchmal ist nicht für jeden Platz.«
Sie starrt aufs Wachstuch, fegt Krümel vom Tisch und zieht sich die Strickjacke enger um den Leib, als es aus dem Flur kalt hereinzieht.
»Wir wissen nur, dass wir nichts und niemanden für immer haben. Manchmal können wir die Dinge nicht ändern.«
Warum sagt sie das?
Vielleicht meint sie nichts Bestimmtes. Roar ist tot. Ihre Eltern und ihre Stiefmutter hat sie ebenfalls verloren. Frida starb an Tuberkulose. Und das hätte sich tatsächlich nicht ändern lassen: Wenn damals jemand daran erkrankte, kam jede Hilfe zu spät.
Es gibt so viele Dinge, die wir nicht ändern können.
Manche regeln sich von selbst, andere nicht.
Irgendwann hätten meine Eltern mich vermutlich einweisen lassen. Aber dazu kam es nicht. Immerhin sprach ich wie andere, lächelte wie andere, zuckte die Schultern wie andere. Und dann hielt Brickens Sohn um meine Hand an, und indem ich seine Frau wurde, wurde ich ein normaler Mensch. Jemand, der sich frei bewegen durfte. Die Arztbesuche blieben mir eine Weile erspart – hier draußen wusste ja niemand, dass ich bis dahin jedes Quartal einen Vormittagstermin bei Doktor Thorsén gehabt hatte. Dass ich regelmäßig vor sein medizinisches Gericht geladen wurde, wo ich sämtliche Fragen mit Nein beantworten musste. Niemals freier Fall durch die Dunkelheit, wenn Fremde zusehen. Immer auf Zehenspitzen gehen.
An den Doktor-Thorsén-Tagen war meine Owtscharka stets in der Nähe. Bevor mein Vater und ich morgens losfuhren, erkannte ich die Steintreppe vor der Praxis in der Marmorierung des Frühstücksfleischs – verschlungene weiße Linien auf dunklem Grund. Das Herdfeuer verwandelte sich in Doktor Thorséns glimmende Pfeife, und die Bäume vorm Fenster wippten wie sein Schnäuzer. Wenn mein Vater den Wagen vorfuhr und mich zu sich winkte, schlüpfte Owtscharkas Schatten mit mir durchs Tor.
»Steig ein, Kåralein!«
Dann fuhren wir los, meine Mutter wollte es so. Ihr Wort war Vaters Gebot. Zu beiden Seiten der Straße lösten sich die Äcker auf und verschwanden hinter uns. Als wir Söderhamn erreichten, lag die Stadt noch im Schlummer und in der Luft der Geruch von Asphalt und Gummireifen. Wir waren früh dran, damit uns ja niemand sah. Die Grasflächen zwischen Straße und Fassaden nutzten die ruhigen Stunden zum Wachsen, ehe die Geschäfte öffneten und die Menschen umhertrampelten, stets darauf bedacht, sich die Schuhe nicht dreckig zu machen. Die Vögel pfiffen darauf, dass die Stadt noch immer schlief, sie flatterten von Baum zu Baum und suchten Nahrung, Nahrung, Nahrung.
Doktor Thorsén war ein gemächlicher schmalschultriger Mittvierziger mit glatt gekämmten dunklen Haaren. Er schüttelte meinem Vater die Hand und saugte ihm die Energie aus. In der Praxis wirkte mein Vater viel kleiner als zu Hause auf dem Hof. Ich starrte auf Doktor Thorséns Pfeife, die Glut glomm jedes Mal auf, wenn er Luft einsog. Der Rauch brannte mir in der Nase und in den Augen.
Ob ich seit der letzten Sitzung schön gleichmäßig geatmet hätte? Ob ich mein Herz pochen hörte? Ob ich jemanden verletzt hätte? Ob ich schreckhaft auf Geräusche reagierte? Ob ich fantasierte?
»Mir geht’s gut«, sagte ich jedes Mal, »keine Angst, keine Fantasien.«
Nein, ich hatte mich nicht vor meiner Lehrerin versteckt, als ich eine Frage nicht beantworten konnte. Nein, ich hatte keine Probleme mit meinen Klassenkameraden. Nein, ich war nicht plötzlich in den Wald gerannt, nur weil ich einen Spritzer Schlachtblut gesehen hatte. Meine Zehen krallten sich in den Schuhen zusammen. Ich schielte zur Tür, schluckte. Doktor Thorsén machte sich Notizen, seine Fingernägel waren hellrosa, keinerlei Spuren körperlicher Arbeit. Der Stift kratzte übers Papier. Als Doktor Thorsén aufstand, um ein Buch aus dem Regal zu ziehen, schlackerte der Arztkittel um seinen Körper, wie ein Segel am falschen Mast.
Meist waren mein Vater und ich nach einer halben Stunde wieder draußen. Mit zwei braunen Tablettengläsern und einem Termin fürs nächste Quartal. Ich steckte mir schnell eine Fleißkastanie ein und lief dann meinem Vater hinterher, der schnellen Schrittes davoneilte. Auf der Rückfahrt räusperte er sich nervös, nestelte an seiner Mütze und wuchs erst wieder in seine Kleider hinein, als wir uns dem Dorf näherten.
Den ganzen Weg über sehnte ich mich nach Hause, doch kaum waren wir dort angelangt, wollte ich nur noch weg. Die Blicke meiner Mutter und der anderen verrieten, dass sie wussten, dass ich Doktor Thorsén anlog. Und dass sie mich am liebsten weggesperrt hätten. Wenn sie meinten, ich könnte sie nicht hören, redeten sie über mich: Man müsse vorsichtig sein mit mir, ich dürfe mich nicht aufregen, sie könnten mich nicht an laute Orte mitnehmen. Einmal rannte ich in den Wald und verlief mich. Ich flog zwischen den Bäumen hindurch und scherte mich nicht darum, ob mir Zweige ins Gesicht oder gegen die Knie peitschten. Ich lief einfach immer weiter, völlig ohne Ziel. Füße anheben, aufsetzen, vorwärts, weiter. Bis mir eine Wurzel in die Quere kam. Ein Schlag ins Gesicht. Meine Wange brannte, und irgendwo hörte ich Hunde kläffen – oder waren es fuchtige Rehe? Bären? Marder? Würden sie mich töten? Dann plötzlich Geheul. Gab es hier Wölfe? Wenn sie mich gewittert hatten, konnten sie jeden Moment hier sein. Der Tag spazierte zwischen den Wolken an mir vorüber in Richtung Dämmerung und achtete nicht auf meinen Herzschlag, den hörte nur ich. Ein eintöniges Geräusch zwischen den Bäumen, die mit langen knorrigen Fingern nach mir langten.
An dem Tag lernten die Owtscharka und ich uns das erste Mal richtig kennen. Plötzlich stand sie vor mir, als gehörte sie seit jeher an genau diesen Platz. Jetzt war sie nicht nur ein Schatten, sondern ein Tier aus Fleisch und Blut. Ihr Blick war sonderbar, wachsam, müde und mild zugleich. Sie sah mich an, kam langsam näher und schnüffelte an mir. Ich schmiegte mich an sie, ihr Fell war weich wie ein Bett. Ich flocht meine Finger in die struppige Wärme, schlief ein und schwebte davon.
Ein paar Stunden später fand mein Vater mich in der Nähe des Waldwegs.
»Kåralein!«, sagte er und rüttelte mich wach. »Wir haben dich überall gesucht!«
War er wütend? Vielleicht konnte ich ihn besänftigen, wenn ich mich klein- und ihn großmachte.
»Ich hab mich verlaufen!«, weinte ich in seinen Mantel. »Ich bin vom Weg abgekommen. Fast hätten mich wilde Tiere gefressen! Ich wusste nicht mehr, wo ich war.«
Er wurde nicht wütend. Stattdessen hob er mich hoch und strich mir übers Haar.
»Im Wald verläuft man sich nicht, Kåralein«, sagte er und ging los. »Man kommt nur nicht immer dort an, wo man ursprünglich hinwollte. Und manchmal ist das nicht das Schlechteste.«
Meine Owtscharka verschmolz mit den Bäumen, aber ich spürte, dass sie uns folgte. Ich erzählte Vater nichts von ihr – denn ich wusste, wie er mich ansehen würde. In den darauffolgenden Tagen sehnte ich mich regelrecht danach, mich wieder im Wald zu verlaufen, aber stattdessen wurde ich zu Doktor Thorsén geschickt. Zum einen, weil ich ausgerissen war, aber vermutlich auch, weil Liva gesehen hatte, wie ich an Nachbar-Johans Auto die Radmuttern gelockert hatte, damit er uns nicht mit Polio anstecken konnte. Am Ende verlief ich mich dann doch – und landete hier.
All die Tage, an denen ich in Brickens Küche gemacht und getan oder mich oben bei mir gelangweilt habe, statt irgendwo mit einem Grashalm im Mundwinkel auf einer Steinmauer in der Sonne zu sitzen. All die Monate. All die Jahre. Und immer zwischen uns auf dem Tisch: der Mörser, wie ein in die Zeit geworfener Anker. Als ich ihn einmal ins Regal gestellt habe, postierte Roar ihn sofort wieder auf dem Tisch. Zwischen uns.
»Der steht hier«, sagte er nur.
Seit zehn Jahren gibt es Strom in Brickens Küche. Hat sie das überhaupt gemerkt? Bricken, die alle so lieben? Die wie ein verfluchter Seraph durchs Erdgeschoss schwebte, während ich wie eine Hexe in der zugigen Dachwohnung festsaß? Strom und der Duft frisch gebackenen Brots. Das Poltern der metallisch glänzenden Waschtrommel. Und immer Reden, Reden, Reden. Alles sollte schön heimelig sein. Ich hörte Bricken zu, weil ich musste. Und gleichzeitig sehnte ich mich fort, nach Glück, nach mehr. Ich war nur hier wegen Doktor Thorséns Patientenakte und allem, was Mutter und Liva mir von Norrfly erzählt hatten. Weil ich heiraten und mich zusammenreißen musste, weil ich eine Familie brauchte, um die ich mich kümmern konnte. Weil ich normal werden musste. Brathering und Kartoffeln. Wäsche und Wäscheklammern. Eigene Küchenschränke und schließlich: mein geheimes Schatzversteck hinter der Müslipackung. Ich schlug Wurzeln hier im Haus, lernte, auf welche Dielen man besser nicht trat. Es hätte mich schlimmer treffen können, so wie meine Schwester, die es irgendwann nach Ockelbo verschlug, wo sie fünf Kinder in sechs Jahren bekam. Von Norrfly ganz zu schweigen. Also habe ich ruhig und gleichmäßig geatmet, Mahlzeiten zubereitet, ein ums andere Mal dasselbe Kochgeschirr gespült, mit schief gelegtem Kopf gelächelt und mir Brickens Geschichten angehört. Ich saß hier unten in der verbrauchten Luft, vor mir ein Teller Stampfkartoffeln, während Dag grinste und kleckerte. Wenn Roar an Bricken vorbeiging, strich er ihr jedes Mal über den Arm.
Berühr mich, Dag.
Würde ich trauern, wenn er starb?
Nein. Aber damals konnte ich noch nicht wissen, wie sein Tod sich anfühlen würde.