Jeden Samstag war es das Gleiche: Louie ging auf den Sportplatz, wärmte sich auf, legte sich im Innenfeld der Länge nach auf den Boden und visualisierte das bevorstehende Rennen, dann begab er sich zur Startlinie, wartete auf den Startschuss und spurtete los. Pete rannte im Innenfeld auf und ab, betätigte seine Stoppuhr und schrie seinem Bruder Anfeuerungen und Anweisungen zu. Wenn Pete dann das entscheidende Signal gab, zog Louie das Tempo an und holte mit seinen langen Beinen richtig aus; seine Gegner – »ernüchtert und am Boden zerstört«1 – blieben hoffnungslos abgehängt zurück. Louie flog über die Ziellinie, wo ihn Pete unter dem Jubel und Beifall der Jugendlichen auf den Tribünen in Empfang nahm. Dann kamen die Horden von Mädchen, die ein Autogramm von ihm wollten, die Heimfahrt, Küsse von der Mutter, Schnappschüsse auf der Wiese vor dem Haus mit der Siegestrophäe in der Hand. Der übliche Siegespreis war eine Armbanduhr, und Louie gewann so viele, dass er sie in der ganzen Stadt verteilte. Alle paar Monate wurde ein neuer Wunderknabe ausgerufen, dem es endlich gelingen würde, Louie zu besiegen – was aber für die Hochgelobten immer nur mit einer bitteren Enttäuschung endete. Eines der Opfer, so schrieb ein Reporter, war gerühmt worden als »der Junge, der bisher keine Ahnung hatte, wie schnell er rennen kann. Seit Samstag weiß er es.«2
Die Krönung der Highschool-Zeit kam für Louie im Jahr 1934 anlässlich der Southern California Track and Field Championship.3 Louie lief in einem Feld, das als die bislang beste Kombination von Highschool-Läufern über eine Meile galt. Louie ließ alle hinter sich zurück und schaffte die Meile in 4: 21.3, womit er den während des Ersten Weltkriegs aufgestellten nationalen Highschool-Rekord um mehr als zwei Sekunden unterbot.2* Sein schärfster Rivale verausgabte sich dermaßen, dass er vom Platz getragen werden musste. Als Louie in Petes Arme trabte, verspürte er einen Stich des Bedauerns: Er fühlte sich nicht erschöpft genug. Wenn er die zweite Runde schneller genommen hätte, so seine Meinung, dann hätte er 4:18 schaffen können. Ein Reporter prophezeite, dass Louies Rekord 20 Jahre halten würde. Es wurden dann 19.4
Louie, einstmals der Schrecken der Bürger von Torrance, war nun ihr Superstar, und sie verziehen ihm alles. Wenn er trainierte, schauten sie vom Zaun aus zu und feuerten ihn an: »Lauf, Iron Man!« Ständig erschienen auf den Seiten der Los Angeles Times und des Examiner neue Berichte über das Wunder, das von der Times als »Torrance Tempest« (Sturm von Torrance) bezeichnet wurde,5 praktisch alle anderen redeten vom »Torrance Tornado«. |34|Es wurde berichtet, dass die Reportagen über Louie für den Torrance Herald eine so bedeutende Einnahmequelle waren, dass der Verlag die Beine des Läufers auf eine Summe von 50 000 Dollar versicherte.6 Bei jedem Rennen, in dem Louie antrat, waren zahlreiche Einwohner von Torrance unter dem Publikum; es wurden zu diesem Zweck Fahrgemeinschaften organisiert. Louie, dem der ganze Trubel zu weit ging, bat seine Eltern, nicht zu seinen Läufen zu kommen. Louise kam trotzdem, sie linste durch den Zaun, aber die Rennen regten sie dermaßen auf, dass sie in den entscheidenden Momenten nicht hinschauen konnte.
Es war noch gar nicht so lange her, dass Louies Zukunftspläne gerade mal bis zu dem Küchenfenster reichten, an dem er sich am leichtesten bedienen konnte. Jetzt nahm er sich ein aberwitzig kühnes Ziel vor: die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Es gab bei den Olympischen Spielen kein Rennen über die Distanz von einer Meile, die Läufer mussten vielmehr 1500 Meter laufen, rund 100 Meter weniger als eine Meile. Der 1500-Meter-Lauf war eine Disziplin für gestandene Männer; die meisten Koryphäen liefen ihre Bestzeit im Alter von rund 25 Jahren oder später. Im Jahr 1934 war der Favorit für die olympischen 1500 Meter Glenn Cunningham, der nur wenige Wochen nach Louies nationalem Highschool-Rekord einen neuen Weltrekord für die Meile aufgestellt hatte.7 Cunningham nahm seit der vierten Klasse an Rennen teil, und bei den Spielen von 1936 wäre er gerade knapp 27. Seine schnellste Meile lief er dann mit 28. Louie dagegen hatte im Jahr 1936 erst fünf Jahre Wettkampferfahrung und war erst 19.
Aber Louie war ja schon der schnellste Highschool-Läufer über eine Meile in der amerikanischen Geschichte überhaupt, und seine Leistung steigerte sich mit einer so rasanten Geschwindigkeit, dass er innerhalb von zwei Jahren seine Zeit schon um ganze 42 Sekunden verbessert hatte. Seine beste Zeit für eine Meile, die er mit 17 erreicht hatte, war dreieinhalb Sekunden schneller als Cunninghams schnellste Highschool-Meile, gelaufen im Alter von 20.3* Selbst konservative Leichtathletik-Experten fingen an, sich für die Vorstellung zu erwärmen, dass Louie vielleicht die Ausnahme von der Regel sein könnte, und sie sahen sich in ihrer Hoffnung bestärkt, nachdem Louie in seinem letzten Schuljahr buchstäblich jedes Rennen gewonnen hatte. Louie jedenfalls war überzeugt, dass er es schaffen konnte, und Pete teilte seine Zuversicht. Louie wollte in Berlin antreten; noch nie in seinem Leben hatte er sich etwas so sehr gewünscht.
|35|Im Dezember 1935 machte Louie seinen Highschool-Abschluss; wenige Wochen später läuteten die Kirchenglocken das neue Jahr 1936 ein, das für Louie nur einen Inhalt hatte: Berlin. Die Auswahlläufe für die Olympiade sollten im Juli in New York stattfinden; das Olympische Komitee würde dort die Teilnehmer aufgrund mehrerer Qualifizierungsläufe bestimmen. Louie hatte sieben Monate Zeit, sich auf diese Läufe vorzubereiten. Gleichzeitig musste er sich für eines der zahlreichen College-Stipendien entscheiden, die man ihm anbot. Pete hatte ein Stipendium für die University of Southern California (USC) bekommen, er war dort in die Reihe der nationalen Top Ten unter den Collegeläufern über eine Meile aufgestiegen. Er empfahl Louie, das Angebot der USC anzunehmen, aber erst im Herbst mit dem Studium anzufangen, damit er sich ganz auf das Training konzentrieren konnte. Louie zog also in Petes Verbindungshaus ein und startete unter Anleitung seines Bruders ein intensives Training. Täglich, stündlich lebte und arbeitete er auf das eine Ziel hin: die 1500 Meter in Berlin.
Im Frühjahr jedoch dämmerte ihm, dass er es nicht schaffen konnte. Er wurde zwar täglich schneller, aber er konnte seinen Körper nicht in so kurzer Zeit in einen Zustand zwingen, mit dem er den Abstand zu seinen älteren Rivalen bis zum Sommer hätte aufholen können. Er musste sich der niederschmetternden Erkenntnis beugen, dass er einfach noch nicht alt genug war.
Im Mai fiel Louie bei der Zeitungslektüre ein Artikel über die Compton Open auf,8 ein berühmtes Rennen, das am 22. Mai im Los Angeles Coliseum stattfinden sollte. Der Favorit für den 5000-Meter-Lauf (3 Meilen und 188 Yards) war Norman Bright, ein 26-jähriger Lehrer. Bright hatte 1935 einen amerikanischen Rekord über zwei Meilen aufgestellt und war nach dem legendären Don Lash, der 23-jährigen Rekordzertrümmerungsmaschine von der Indiana University, Amerikas zweitschnellster 5000-Meter-Mann. Drei Läufer aus den USA sollten für die 5000-Meter-Distanz nach Berlin geschickt werden, und Lash und Bright standen bereits fest. Pete drängte Louie, sich an den Compton Open zu beteiligen und seine Beine über eine längere Distanz zu testen. »Wenn du an Norman Bright dranbleiben kannst«, so Pete zu Louie, »dann schaffst du es ins Olympia-Team.«9
Es stand also eine beträchtliche Ausweitung der Strecke an. Eine Meile bedeutete vier Runden; die 5000 Meter waren mehr als zwölf Runden – eine Distanz, die Louie später als eine »15-Minuten-Folterkammer« beschreiben sollte, immerhin war die Strecke mehr als dreimal so lang wie seine bisherige optimale Distanz. Erst zweimal hatte er in einem Rennen mehr als eine |36|Meile bezwungen, und die 5000 Meter wurden ebenso wie die Meile von wesentlich älteren Athleten dominiert. Es blieben ihm lediglich zwei Wochen, um für Compton zu trainieren, und zwei Monate bis zu den Ausscheidungswettkämpfen für die Olympischen Spiele im Juli – zwei Monate also, um der jüngste Spitzenmann Amerikas für die 5000 Meter zu werden. Aber er hatte ja nichts zu verlieren. Er trainierte derartig hart, dass er sich an einem Zeh die Haut abrieb und seine Socke vollblutete.
Das Rennen war ein Publikumsmagnet, 10 000 Zuschauer waren gekommen. Louie und Bright ließen gleich zu Beginn das Feld weit hinter sich. Sobald der eine in Führung ging, schloss der andere auf, und die Menge tobte. Auch als sie zur letzten Runde einbogen, waren sie immer noch ganz nah beieinander, Bright innen, Louie außen. Vor ihnen lief John Casey, der gleich überholt sein würde. Linienrichter gaben Casey Zeichen, und er versuchte auszuweichen, aber Bright und Louie hatten ihn erreicht, bevor er ihnen die Bahn freimachen konnte. Bright konnte sich innen vorbeiarbeiten, Louie aber musste nach rechts ausweichen, damit er um Casey herumkam. Casey zog in einem Moment der Verwirrung ebenfalls nach rechts und trug Louie noch weiter aus der Bahn. Louie beschleunigte, um an ihm vorbeizukommen, doch auch Casey wurde schneller und drängte Louie in Richtung Zuschauertribüne. Schließlich machte Louie einen halben Schritt, um nach innen zu kommen, verlor das Gleichgewicht und berührte mit einer Hand den Boden. Bright hatte mittlerweile einen Vorsprung, der nach Petes Einschätzung mehrere Yards betrug. Louie beschleunigte hinter ihm, und der Abstand verringerte sich schnell. Die Menge hielt es nicht mehr auf den Sitzen, und unter ihren Schreien und Anfeuerungsrufen erreichte Louie Bright genau am Zielband. Er war einen Tick zu spät: Bright gewann um Haaresbreite. Er und Louie hatten den schnellsten nationalen 5000-Meter-Lauf des Jahres geschafft.10 Und Louies Träume von Berlin hatten neue Nahrung.
Am 13. Juni machte Louie kurzen Prozess mit einem weiteren Bewerber für den 5000-Meter-Lauf in Berlin, doch der Zeh, den er sich beim Training wund gelaufen hatte, bereitete ihm wieder Probleme. Er war zu angeschlagen, um für sein letztes Qualifikationsrennen zu trainieren, und das rächte sich.11 Bright schlug Louie mit vier Yards, aber das konnte Louie nicht entmutigen, nachdem er den drittschnellsten 5000-Meter-Lauf in Amerika seit 1931 gelaufen war. Die Einladung zur Endausscheidung für die Olympischen Spiele war ihm sicher.
Am Abend des 3. Juli 1936 versammelten sich die Einwohner von Torrance, um Louie zu seiner Reise nach New York zu verabschieden. Sie überreichten |37|ihm eine großzügig mit Reisegeld gefüllte Geldbörse, ein Zugticket, neue Anzüge, ein Rasier-Set und einen Koffer, auf dem die Aufschrift TORRANCE TORNADO prangte.12 Louie, der nicht wie ein Angeber aussehen wollte, zog sich mit dem Koffer kurz zurück, überklebte seinen Spitznamen mit Klebeband und bestieg dann den Zug. In seinem Tagebuch hielt er fest, dass er die Reise damit zubrachte, sich jedem hübschen Mädchen vorzustellen, das ihm über den Weg lief, was allein zwischen Chicago und Ohio zu fünf neuen Bekanntschaften führte.
Als sich in New York die Zugtüren öffneten, hatte Louie das Gefühl, in der Hölle gelandet zu sein. Es war der heißeste Sommer in Amerika seit Beginn der Temperaturmessungen, und New York hatte es mit am schlimmsten getroffen.13 Im Jahr 1936 gab es noch fast keine Klimaanlagen, nur einige wenige Kinos und Kaufhäuser verfügten über diesen Luxus; es war also nahezu ausgeschlossen, der Hitze zu entkommen. In dieser Woche mit den drei heißesten Tagen in Folge brachte die Hitze 3000 Amerikaner um. Allein in Manhattan starben 40 Menschen, als das Thermometer auf über 41 Grad kletterte.
Louie und Norman Bright teilten sich die Kosten eines Zimmers im Lincoln Hotel. Wie alle anderen Athleten mussten auch sie ungeachtet der Hitze weitertrainieren.14 Sie schwitzten Tag und Nacht, trainierten unter sengender Sonne und fanden in den stickigen Zimmern ihrer Unterkünfte keinen Schlaf; der Appetit verging ihnen fast völlig, weswegen alle Athleten bedenklich viel Gewicht verloren. Einer Schätzung zufolge nahm keiner weniger als neun Pfund ab. Einer der Wettkämpfer war dermaßen erschöpft von der Hitze, dass er seinen Standort in ein Kino mit Klimaanlage verlegte, sich Eintrittskarten für mehrere Filme hintereinander kaufte und während der Vorführung seinen Schlaf nachholte. Louie ging es nicht besser als seinen Kameraden. Er war chronisch dehydriert und trank so viel er konnte; nach einem 880-Meter-Lauf bei einer Temperatur von über 40 Grad stürzte er acht Flaschen Limonade und fast einen Liter Bier hinunter. Nachts nutzte er die Abkühlung und marschierte sechs Meilen. Sein Körpergewicht befand sich im freien Fall.
Die Berichterstattung in den Zeitungen ärgerte ihn. Don Lash wurde allgemein für unschlagbar gehalten,15 er hatte sich gerade zum dritten Mal den 5000-Meter-Titel der NCAA gesichert, einen Weltrekord über zwei Meilen aufgestellt sowie einen amerikanischen Rekord über 10 000 Meter; wiederholt hatte er Bright geschlagen, einmal mit einem Vorsprung von fast 150 Metern. Bright galt als der sichere Zweite, und eine Reihe weiterer Athleten wurden als Platz Drei bis Fünf gehandelt. Louie gehörte nicht dazu. |38|Selbstverständlich hielt auch Louie Lash für unschlagbar, aber es waren die ersten drei Läufer, die nach Berlin fahren durften, und Louie glaubte fest daran, dass er einer davon sein würde. »Wenn diese Hitze von meiner Kondition noch irgendetwas übriglässt«, so Louie in einem Brief an Pete, »dann schlage ich Bright und jage Lash einen Schrecken ein, den er sein Lebtag nicht vergessen wird.«16
In der Nacht vor dem Rennen lag Louie schlaflos in seinem brütend heißen Hotelzimmer. In Gedanken war er bei all den Menschen, die bitter enttäuscht gewesen wären, wenn er scheiterte.
Am nächsten Morgen verließen Louie und Bright zusammen das Hotel. Die Ausscheidungswettkämpfe sollten in einem neuen Stadion auf Randall’s Island stattfinden, beim Zusammenfluss des East River mit dem Harlem River. In der City betrug die Temperatur rund 35 Grad, aber als sie aus der Fähre stiegen, mussten sie feststellen, dass es im Stadion viel heißer war, wahrscheinlich einiges über 40 Grad. Ständig kippten Athleten um und wurden in umliegende Krankenhäuser gefahren. Louie wartete auf den Beginn seines Rennens und schmorte unter der erbarmungslosen Sonne, die, wie er schrieb, »mich völlig fertigmachte«.17
Endlich wurden sie aufgerufen. Der Startschuss fiel, die Männer stürmten los, das Rennen war eröffnet. Lash ging sofort in Führung, Bright dicht hinter ihm. Louie blieb im Hauptpulk der Läufer, und die Schinderei nahm ihren Lauf.
Auf der anderen Seite des Kontinents drängte sich ein Pulk aus Einwohnern von Torrance um den Radioapparat im Haus der Zamperinis. Sie litten Höllenqualen. Die offizielle Startzeit für das Rennen, in dem Louie lief, war schon vorüber, aber der Ansager von der NBC hörte nicht auf, sich über die Schwimmwettkämpfe auszulassen. Pete war derartig frustriert, dass er dem Radio am liebsten einen kräftigen Tritt versetzt hätte. Endlich kam der Reporter auf die Positionierung der 5000-Meter-Läufer zu sprechen, ohne allerdings Louie zu erwähnen. Louise hielt die Spannung nicht mehr aus und floh außer Hörweite des Radios in die Küche.
Die Läufer brachten die siebte, achte, neunte Runde hinter sich. Lash und Bright führten das Feld an. Louie befand sich in der Mitte des Felds und wartete auf den richtigen Moment, um vorzustoßen. Die Hitze war erstickend. Ein Läufer brach zusammen, den anderen blieb nichts übrig, als über ihn hinwegzuspringen. Ein zweiter kollabierte, auch er wurde übersprungen. Louie spürte, wie seine Füße glühten; die Spikes seiner Schuhe leiteten die Hitze von der Bahn nach oben. Auch Norman Brights Füße brannten entsetzlich. Er hatte solche Schmerzen, dass er aus der Bahn strauchelte, |39|wobei er sich den Knöchel verrenkte, doch er taumelte weiter. Das Stolpern hatte ihn anscheinend aus dem Konzept gebracht. Er verlor den Anschluss an Lash und konnte nicht verhindern, dass die anderen Läufer und Louie aufholten. Trotzdem rannte er weiter.
Als die Läufer in die letzte Runde einbogen, gönnte Lash sich eine Verschnaufpause, er ließ sich ein wenig hinter Tom Deckard, seinen Mannschaftskameraden aus Indiana, zurückfallen. Ein ganzes Stück hinter ihm war Louie zum entscheidenden Sprint bereit. Auf der Gegengeraden beschleunigte er. Lashs Rücken kam näher, jetzt war er nur noch einen, höchstens zwei Meter entfernt. Louie fühlte sich vom Anblick des vor ihm trabenden imposanten Don Lash eingeschüchtert und zögerte ein paar Schritte lang. Dann tauchte die letzte Kurve vor ihm auf, und der Anblick brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sprintete los, so schnell er konnte.
Louie bog in die Kurve ein und lag mit Lash gleichauf, genau in dem Moment, als Lash nach rechts zog, um an Deckard vorbeizukommen. Louie wurde nach außen abgetrieben und verlor kostbaren Boden. Dann ließen Louie und Lash Deckard hinter sich und liefen nebeneinander in die Zielgerade ein. Es waren noch knapp 100 Meter zu laufen, und Louie lag leicht in Führung. Lash kämpfte erbittert und blieb ihm auf den Fersen. Keiner der beiden hatte noch irgendwelche Reserven. Louie sah, dass er mit vielleicht einer Handbreit vorn lag, und diesen Vorsprung wollte er nicht aufgeben.
Mit zurückgeworfenem Kopf und wild hämmernden Beinen rasten Louie und Lash auf das Zielband zu. Auf den letzten Metern holte Lash auf und war jetzt mit Louie auf einer Höhe. Die beiden Läufer, deren Beine sich vor Erschöpfung wie Gummi anfühlten, warfen sich in einem derart knappen Endspurt an den Linienrichtern vorbei, dass, wie Louie später erzählte, »kein Haar mehr zwischen uns gepasst hätte«.18,19
Die Stimme des Ansagers dröhnte durch das Wohnzimmer in Torrance: Zamperini, so verkündete er, hatte gesiegt.
In der Küche hörte Louise, wie die Menge im Nebenzimmer plötzlich in lauten Jubel ausbrach. Von der Straße tönten Autohupen herein, die Haustür flog auf, und die Nachbarn strömten ins Haus. Mitten im Gewimmel der hysterisch begeisterten, feiernden Fans von Torrance brach Louise in Freudentränen aus. Anthony entkorkte Weinflaschen und füllte Gläser, brachte Toasts aus und grinste, so berichtete später einer der Mitfeiernden, »wie ein Esel, der gerade einen Kaktus verzehrt hat«.20 Einen Augenblick später kam Louies Stimme mit einem Gruß nach Torrance über den Äther.
Doch leider irrte sich der Ansager. Die Linienrichter befanden, dass Lash und nicht Zamperini das Rennen gewonnen hatte. Deckard war Dritter geworden. Der Ansager korrigierte sich kurz darauf, doch das konnte die Feierstimmung in Torrance nicht trüben. Eines stand sicher fest: Der Junge aus Torrance hatte es ins olympische Team geschafft.
Einige Minuten nach dem Rennen stand Louie unter der kalten Dusche. Noch immer spürte er die wunden Stellen an seinen Füßen, die die heißen Stollen unter seinen Sohlen gerieben hatten. Er trocknete sich ab und stellte sich auf die Waage. Drei Pfund hatte er herausgeschwitzt. Aus dem Spiegel schaute ihm ein gespenstisch erschöpftes Gesicht entgegen.
Auf der anderen Seite des Umkleideraums hatte Norman Bright sich auf eine Bank fallenlassen, er hatte ein Bein über das andere geschlagen und starrte auf seinen Fuß. Beide Füße waren so verbrannt, dass sich die Haut von der Fußsohle löste.21 Er war Fünfter geworden, hatte also das olympische Team um zwei Plätze verpasst.4*22
|41|Bis zum Abend bekam Louie 125 Telegramme.23 TORRANCE DREHT DURCH, hieß es im einen; DIE STADT IST ÜBERGESCHNAPPT in einem anderen. Sogar die Polizeidirektion hatte ein Glückwunschtelegramm geschickt – dort war man sicher erleichtert, dass andere die Jagd auf Louie übernommen hatten.
In dieser Nacht brütete Louie über den Abendzeitungen, die Fotos vom Endspurt seines Rennens abdruckten. Es gab Bilder, auf denen es aussah, als sei er mit Lash gleichauf; auf anderen schien er vorn zu liegen. Im Augenblick des Zieleinlaufs war er sicher gewesen, dass er gewonnen hatte. Er hatte sich zwar als einer der ersten drei für die Olympiade qualifiziert, trotzdem fühlte er sich betrogen.
Und während er die Zeitungen studierte, schauten sich auch die Schiedsrichter die Bilder noch einmal an sowie einen Film, der von dem Lauf gedreht worden war. Später schickte Louie dann ein Telegramm mit den neuesten Meldungen nach Hause: SCHIEDSRICHTER SPRECHEN VON GLEICHSTAND. AUFBRUCH NACH BERLIN MITTWOCH MITTAG. WERDE MICH IN BERLIN NOCH MEHR ANSTRENGEN.
Als Sylvia am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, wimmelte es im Haus nur so von Gratulanten und Reportern. Louies Schwester Virginia, damals gerade 12 Jahre alt, hielt eine von Louies Trophäen im Arm und klärte die Reporter auf, dass sie der nächste Laufstar in der Zamperini-Familie zu werden gedenke. Anthony begab sich in den Kiwanis-Club, wo er mit Louies Pfadfinder-Führer bis 4 Uhr in der Frühe in einer feuchtfröhlichen Runde Louies Sieg feierte. Pete tourte durch die Stadt, ließ sich auf die Schulter klopfen und nahm Glückwünsche entgegen. »Ich bin vielleicht glücklich!«, schrieb er an Louie. »Ich kriege schon mein Hemd nicht mehr zugeknöpft, so viel Platz brauche ich für meine Brust.«24
Louie Zamperini brach nun also nach Deutschland auf, um bei den Olympischen Spielen in einem Wettkampf anzutreten, den er erst viermal bestritten hatte. Er war der jüngste Mittelstreckenläufer, der es je in ein Olympiateam geschafft hatte.25