Der Luxusdampfer Manhattan, der das US-amerikanische Olympia-Team nach Deutschland brachte, hatte noch nicht einmal die Freiheitsstatue passiert, als Louie bereits die ersten Sachen geklaut hatte.1 Zu seiner Verteidigung muss hinzugefügt werden, dass nicht er es war, der damit anfing. Ihm war durchaus bewusst, dass er ein blutjunger Newcomer war, der sich in der Gesellschaft von so erfahrungsgestählten Rennbahngöttern wie Jesse Owens und Glenn Cunningham befand, daher zügelte er seinen jugendlichen Übermut und ließ sich sogar einen Schnurrbart wachsen.2 Bald kam er jedoch dahinter, dass praktisch jeder Passagier an Bord »Souvenirs sammelte«: Man mauste Handtücher, Aschenbecher – alles, was nicht niet- und nagelfest war. »Mir konnten sie nichts beweisen«, erzählte Louie später. »Ich gehörte zur Elite, wenn es darum ging, Dinge mitgehen zu lassen.«3 Von seinem Schnurrbart verabschiedete er sich dann irgendwann, und im weiteren Verlauf der Reise raubten Louie und die anderen Langfinger klammheimlich die Manhattan leer.
Jeder war auf der Suche nach Orten, die für ein Training geeignet waren. Die Turner stellten ihre Geräte auf, wurden jedoch vom Schwanken des Schiffs abgeworfen. Basketballspieler trainierten auf Deck die Ballabgabe, doch immer wieder wurden ihre Bälle vom Wind in den Atlantik geweht. Fechter tauchten torkelnd an allen möglichen Orten auf. Die Schwimmer entdeckten, dass das Salzwasser im winzigen Swimming Pool an Deck so heftig hin- und herschwankte, dass sie im einen Moment nur einen, im nächsten dann drei Meter tiefes Wasser unter sich hatten; es bildeten sich so große Wellen, dass ein Wasserballspieler sich aufs Bodysurfing verlegte. Jeder größere Brecher unter dem Schiff bewegte das Wasser im Pool und alle, die sich darin befanden, hinaus auf Deck, sodass die Trainer die Schwimmer an der Wand festbinden mussten. Für die Läufer war die Situation nicht weniger problematisch. Wenn Louie trainieren wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem Deck der Ersten Klasse seine Runden zu drehen; er schlängelte sich an den Liegestühlen vorbei und stolperte über |43|Filmstars und Läuferkollegen. Bei unruhiger See wurden die Läufer hin- und hergeschleudert; erst schlingerten alle in die eine Richtung, dann in die andere. Louie musste sich so langsam bewegen, dass es ausgeschlossen war, den Marathonläufer abzuschütteln, der neben ihm dahinkroch.4
Einem Teenager in der Zeit der Großen Depression, der an ein Frühstück aus altbackenem Brot und Milch gewöhnt war und erst zweimal in seinem Leben in einem Restaurant gegessen hatte,55* musste die Manhattan vorkommen wie das Paradies. Gleich nach dem Aufstehen gab es Kakao und eine Riesenauswahl an süßem Gebäck. Um neun wurden im Speisesaal Steak und Eier serviert. Eine Kaffeepause, das Mittagessen, Tee und Abendessen schlossen sich jeweils nahtlos an. Zwischen den Mahlzeiten konnte man nach dem Steward läuten, der einem alles brachte, was das Herz begehrte, und spät nachts fielen die Athleten dann noch in der Bordküche ein.6 Bei seinen Ausflügen auf das Deck der ersten Klasse entdeckte Louie ein kleines Fenster, in dem immer wieder wie von Zauberhand gefüllte Biergläser erschienen; Louie sorgte dafür, dass sie wie von Zauberhand auch wieder verschwanden. Als Seekrankheit die Reihen der Passagiere im Speisesaal lichtete, wurden die übriggebliebenen Desserts zur allgemeinen Verfügung gestellt, und Louie, der für Seekrankheit überhaupt nicht anfällig war, sorgte dafür, dass nichts weggeworfen werden musste. Die Mengen, die er verzehrte, wurden legendär. Der Läufer James LuValle erinnert sich, dass das Schiff einen nicht eingeplanten Zwischenhalt |44|einlegen musste, um die Vorräte aufzufüllen, und fügte hinzu: »Das war natürlich vor allem die Schuld von Lou Zamperini.« Louie gewöhnte es sich an, beim Essen neben dem riesigen Kugelstoßer Jack Torrance zu sitzen, dessen Appetit bemerkenswert unterentwickelt war. Wenn Torrance sein Hauptgericht nicht schaffte, machte sich Louie wie ein Geier über den Teller seines Nachbarn her.7
Am Abend des 17. Juli war Louie von den Mengen, die er beim Abendessen zu sich genommen hatte, derartig beeindruckt, dass er sie nach der Rückkehr in seine Kabine auf der Rückseite eines Briefs festhielt:
1/2 l Grapefruitsaft
2 Schalen Fleischbrühe
2 Sardinensalate
5 Brötchen
2 große Gläser Milch
4 kleine eingelegte Gurken
2 Teller Hühnchen
2 Portionen Süßkartoffeln
4 Stück Butter
3 Portionen Eiscreme mit Waffeln
3 Stück Rührkuchen mit Glasur
1 1/2 Pfund Kirschen
1 Apfel
1 Orange
1 Glas Eiswasser.8
»Das gewaltigste Essen, das ich je zu mir genommen habe«, schrieb er, »ich kann es selbst kaum glauben, aber ich war ja dabei … Keine Ahnung, wo das alles gelandet ist.«
Es dauerte nicht lange, bis er es herausfand. Kurz bevor die Athleten in Hamburg an Land gingen, vermerkte ein Arzt, dass einige gewaltig an Gewicht zugelegt hatten. Ein Speerwerfer hatte in fünf Tagen über drei Kilo zugenommen. Mehrere Ringer, Boxer und Gewichtheber hatten sich aus ihrer Gewichtsklasse herausgefuttert, ein paar konnten dann auch gar nicht antreten. Don Lash hatte neun Pfund zugenommen. Louie aber stach alle aus: All die Pfunde, die er in New York verloren hatte, waren wieder da, und dazu noch ein paar mehr. Als er die Manhattan verließ, wog er fast 5 Kilo mehr als neun Tage zuvor beim Betreten des Schiffs.9
Am 24. Juli begaben sich die Athleten vom Schiff zu einem Zug, machten |45|in Frankfurt Halt, wo ihnen zu Ehren ein Willkommensessen veranstaltet wurde, und bestiegen anschließend wieder den Zug, nachdem sie eine stattliche Anzahl der kostbaren Weingläser ihrer Gastgeber hatten mitgehen lassen.10 Die Deutschen ließen den Zug noch einmal anhalten, durchsuchten das Gepäck, holten sich ihre Gläser zurück und schickten die Amerikaner weiter nach Berlin. Dort wurde der Zug von einem Schwarm von Teenagern in Empfang genommen, die Scheren in den Händen hielten und in Sprechchören »Wo ist Jesse? Wo ist Jesse?« skandierten.11 Als Owens hervortrat, stürzte sich die Menge auf ihn und fing an, Schnipsel von seiner Kleidung abzuschneiden. Owens zog sich schleunigst wieder in den Zug zurück.
Die Athleten wurden ins Olympische Dorf transportiert: ein architektonisches Meisterwerk, das unter dem Kommando von Wolfgang Fürstner, einem Hauptmann der Wehrmacht, stand. In einem hügeligen Gelände aus Buchenwäldern, Seen und Wiesen lagen 140 Wohnbauten, es gab ein Einkaufszentrum, einen Friseurladen, ein Postamt, eine Zahnarztpraxis, eine Sauna, ein Krankenhaus, Turnhallen und Speisesäle. Im zentralen Empfangsgebäude des Olympischen Dorfes konnte man eine neue technische Errungenschaft namens Fernsehen bewundern.12 Auf den vielen Waldwegen begegnete man einer großen Menge importierter Tiere. Die japanischen Athleten fanden die Hirsche besonders reizvoll und fütterten sie so ausgiebig, dass die Deutschen die Hirsche diskret wieder entfernen ließen.13 Ein britischer Witzbold fragte vernehmlich, wo denn die Störche seien. Am nächsten Tag gab es gleich 200 davon.14
Louie war in einem Häuschen mit mehreren anderen Athleten, darunter auch Jesse Owens, untergebracht. Der berühmte Sprinter wachte mit einem väterlichen Auge über den Neuling; Louie dankte es ihm, indem er das Bitte nicht stören-Schild von Owens’ Tür entfernte und damit den Bedauernswerten seinen autogrammgierigen Fans auslieferte.15 Louie schwamm in den Seen, langte bei den Mahlzeiten nach wie vor ordentlich zu und lernte viele Leute kennen. Am beliebtesten war das japanische Team mit seiner traditionellen Sitte, kostbare Geschenke zu machen, wodurch es zur Nikolaus-Truppe für die gesamten Spiele wurde.
Am 1. August wurden Louie und die anderen Olympia-Teilnehmer durch die Stadt zu den Eröffnungsfeierlichkeiten gefahren.16 Wohin man auch schaute, fiel der Blick auf Demonstrationen geballter Macht. Alles war mit nationalsozialistischen Parolen beklebt. Gut ein Drittel der Männer und viele Kinder trugen Uniform. Militäreinheiten exerzierten in aller Öffentlichkeit. Über einem Flugfeld führten prominente Segelflieger aus aller Welt vor den Augen beeindruckter Touristen und der Hitler-Jugend ihre Kunststücke |46|vor.17 Auf den Dächern der Busse waren Halterungen für Maschinengewehre befestigt, die Fahrzeuge verfügten außerdem über einen Unterbau, aus dem Gleisketten wie bei einem Panzer ausgefahren werden konnten. Die Stadt war blitzsauber. Selbst die Kutschpferde hinterließen keine Spuren; Pferdeäpfel wurden umgehend von uniformierten Straßenkehrern aufgenommen. Die Roma und Sinti18 wurden außerhalb Berlins in ein Zwangslager bei Marzahn gebracht, und die jüdischen Studenten durften den Campus der Universität von Berlin nicht verlassen; allerorten sah man nur noch lächelnde »Arier«.
Die Busse fuhren zum Olympiastadion. In einem Aufmarsch der Nationen, der stramme Disziplin erforderte, wurden die Athleten einer bombastischen Show unterzogen, deren Höhepunkt die Freilassung von 20 000 Tauben war.19 Als die Vögel in Panik über dem Stadion kreisten, wurden Kanonen abgefeuert, was dazu führte, dass die Vögel sich über den Athleten erleichterten. Jeder Knall führte zu einem Regen von Vogelkot. Louie platzte fast vor unterdrücktem Gelächter.
Louie hatte sich in vier 5000-Meter-Rennen so gut weiterentwickelt, dass er mit Lash konkurrieren konnte, aber er war sich darüber im Klaren, dass eine olympische Medaille außerhalb seiner Möglichkeiten lag, und zwar nicht nur, weil er nach der langen Phase der Untätigkeit auf dem Schiff nicht in Topform war und aufgrund der Völlerei an Bord und im Olympischen Dorf ordentlich zugenommen hatte. Wenige Nationen hatten eine olympische Disziplin je so dominiert wie die Finnen den 5000-Meter-Lauf: 1912, 1924, 1928 und 1932 hatten sie jeweils Gold nach Hause gebracht. Lauri Lehtinen, der 1932 die Goldmedaille gewonnen hatte, trat wieder an, und mit ihm waren seine brillanten Teamkameraden Gunnar Höckert und Ilmari Salminen gekommen. Ein Reporter beobachtete, wie Louie fast die Augen aus dem Kopf fielen, als er den Finnen beim Training zuschaute. Er war zu jung und zu unerfahren, um sie zu schlagen, und er wusste das auch.20 Er war sicher, dass sein großer Tag kommen würde: vier Jahre später, und dann auf der 1500-Meter-Strecke.
In den letzten Tagen vor seinem Vorentscheidungslauf ging Louie ins Stadion und schaute zu, wie Owens beim 100-Meter-Lauf die Konkurrenz in Grund und Boden rannte und wie Cunningham den Weltrekord für die 1500 Meter brach und doch hinter dem Neuseeländer Jack Lovelock nur Zweiter wurde. Die Atmosphäre im Stadion war surreal. Jedes Mal wenn Hitler das Stadion betrat, sprang die Menge auf und empfing ihn mit dem Hitlergruß. Wenn ein Wettkämpfer aus dem Ausland gewann, wurde eine abgekürzte Version der jeweiligen Nationalhymne gespielt, aber wenn ein |47|deutscher Athlet gewann, dann dröhnte das Stadion von jeder einzelnen Strophe »Deutschland über alles« wider, und die Zuschauer brachen mit ausgestreckten Armen in endlose »Sieg Heil!«-Rufe aus.21 Die Schwimmerin Iris Cummings berichtete, dass die Amerikaner diesen sklavischen Nationalismus eher komisch fanden, für die Deutschen dagegen war es tödlicher Ernst. Die Polizei patrouillierte im Stadion und kontrollierte die Fans. Eine deutsche Frau, die bei den Cummings’ saß, hob ihren Arm nicht zum Hitlergruß. Sie machte sich zwischen Iris und ihrer Mutter ganz klein und flüsterte: »Gib, dass sie mich nicht sehen! Gib, dass sie mich nicht sehen!«22
Am 4. August fanden drei 5000-Meter-Vorentscheidungsläufe statt.23 Louie wurde für das dritte, schwierigste Rennen ausgelost, in dem er gegen Lehtinen antreten musste. Die ersten fünf Läufer aus jedem Rennen würden dann ins Finale kommen. Im ersten Rennen wurde Lash Dritter. Im zweiten schied Tom Deckard, der zweite Amerikaner, aus. Louie ackerte sich durch das dritte Rennen, er fühlte sich fett und hatte das Gefühl, seine Beine seien mit Blei gefüllt. Ganz knapp wurde er schließlich Fünfter. Danach war er, wie er in seinem Tagebuch vermerkt, »höllisch erschöpft«.24 Drei Tage blieben ihm, um sich auf das Finale vorzubereiten.
In dieser Wartephase erreichte ihn ein Brief von Pete. Er enthielt zwei Spielkarten, ein As und einen Joker. Auf den Joker hatte Pete geschrieben: »Für welchen von beiden wirst Du Dich entscheiden – für den Joker, was echt das Letzte wäre, oder für die Spitze: das Pik-As.6* Den Besten von allen. Das Maximum. Entscheide Dich!« Auf das As hatte er geschrieben: »Lass uns erleben, wie Du als der Beste davonstürmst. Wenn der Joker Dir nichts bedeutet, wirf ihn weg und behalte das As als Glücksbringer. Pete.«
Am 7. August lag Louie mit dem Gesicht nach unten im Innenfeld des Olympischen Stadions und bereitete sich innerlich auf das 5000-Meter-Finale vor. 100 000 Zuschauer saßen auf den Rängen. Louie war in Panik. Er presste sein Gesicht ins Gras, atmete tief ein und versuchte, seine zitternden Nerven zur Ruhe zu bringen. Als es dann so weit war, stand er auf, begab sich zur Startlinie, beugte sich nach vorn und wartete. Das Papier mit seiner Startnummer, der 751, flatterte gegen seine Brust.
Beim Knall des Startschusses wollte Louies Körper, der vor Nervosität buchstäblich unter Strom stand, losschießen, doch Louie nahm sich bewusst zurück; er wusste, was er noch vor sich hatte. Als die Läufer davonzogen, |48|holte er nicht allzu weit aus und wartete, bis der Pulk der Schrittmacher sich auseinandergezogen hatte. Lash übernahm die Führung, gleich hinter ihm die Troika der Finnen. Louis ließ sich nach links treiben und blieb vorerst im zweiten Drittel des Feldes.
Eine Runde nach der anderen zog vorüber. Lash behielt die Führung, die Finnen blieben ihm auf den Fersen. Louie trabte in der zweiten Gruppe weiter. Plötzlich stieg ihm ein fürchterlicher Geruch in die Nase. Er sah auf und stellte fest, dass der Geruch von einem Läufer vor ihm kam, dessen Haar nur so triefte von penetrant riechender Pomade. Eine Welle von Übelkeit stieg in Louie auf, er verlangsamte und ließ sich etwas zurückfallen, und der Gestank verzog sich. Lash und die Finnen waren jetzt außerhalb der Reichweite; Louie wollte zwar den Anschluss nicht verlieren, doch sein Körper fühlte sich zu schwerfällig an. Als die Läufergruppen sich auflösten und zu einer langen Linie ausdünnten, fiel Louie im Feld zurück, bis auf den zwölften Platz. Hinter ihm waren nur noch drei Nachzügler.
Ganz vorn arbeiteten sich die Finnen jetzt an Lash heran und machten ihm das Leben schwer. Lash behielt unerschüttert die Führung. In der achten Runde aber spannte Salminen seinen Ellbogen an und rammte ihn Lash in die Brust. Lash krümmte sich in offensichtlichem Schmerz. Die Finnen dagegen machten sich davon. Sie begannen die elfte Runde in engem Verbund, offenbar fest entschlossen, als Gruppe sämtliche Medaillen abzuräumen. Dann war einen Moment lang die Nähe zwischen ihnen zu groß. Salminens Bein streifte das von Höckert. Als Höckert stolperte, stürzte Salminen auf die Bahn. Benommen rappelte er sich wieder auf und rannte weiter. Aber das Rennen war für ihn, ebenso wie für Lash, gelaufen.
Das alles bekam Louie überhaupt nicht mit. Er lief zwar an dem abgeschlagenen Lash vorbei, was er aber kaum registrierte. Er war müde. Die Finnen waren nur noch als kleine Gestalten in weiter Ferne auszumachen, viel zu weit entfernt, als dass er sie noch hätte einholen können. Seine Gedanken wanderten zu Pete und zu dem, was er ihm einst gesagt hatte, als sie vor Jahren nebeneinander auf ihrem Bett gesessen hatten: Es lohnt sich, einen Augenblick des Schmerzes für ein ruhmreiches Leben einzusetzen. Und da dachte Louie: Los jetzt!
Zum vorletzten Mal näherte er sich der Zielgeraden und klammerte sich mit den Augen an den glänzenden Hinterkopf des Pomaden-Läufers, der mehrere Positionen weiter vorn lief. Louie beschleunigte dramatisch. Um die Kurve herum und auf die Gegengerade trabte Louie, weit holten seine Beine aus und trommelten auf die Bahn, seine Stollen bissen sich in den Boden, seine Geschwindigkeit war atemberaubend. Ein Läufer nach dem |49|anderen kam näher und verschwand hinter ihm. »Ich habe wirklich alles gegeben, was ich hatte«, erzählte Louie später.25
Als Louie um die letzte Kurve flog, hatte Höckert bereits gewonnen, hinter ihm war Lehtinen ins Ziel gegangen. Louie achtete gar nicht darauf. Er jagte hinter dem Pomadenkopf her, der immer noch ein ganzes Stück vor ihm lief. Er hörte das Brüllen der Menge und realisierte plötzlich, dass das Publikum seine Aufholjagd bemerkt hatte und ihn anfeuerte. Sogar Hitler, der sich zusammen mit den Athleten umgewendet hatte, beobachtete ihn.26 Louie sprintete weiter, die Worte von Pete hämmerten in seinem Kopf, sein ganzer Körper brannte. Der Pomadenkopf war erst noch weit entfernt, dann kam er immer näher. Und dann hatte Louie so weit aufgeholt, dass er die Pomade wieder riechen konnte. Mit allerletzter Kraft warf sich Louie über die Ziellinie. Er hatte in dieser letzten Runde 45 Meter aufgeholt und seine persönliche Bestzeit um mehr als acht Sekunden übertroffen. Seine Endzeit, 14: 46.8, war der bei weitem schnellste 5000-Meter-Lauf sämtlicher Amerikaner im Jahr 1936, fast zwölf Sekunden schneller als Lashs Bestzeit in diesem Jahr. Louie hatte knapp den siebten Platz verpasst.
Als Louie sich keuchend vornüber beugte, war er selbst erstaunt über die Power, die er seinem Körper abgezwungen hatte. Die letzte Runde hatte sich ungeheuer schnell angefühlt. Zwei Trainer eilten herbei, sie starrten ungläubig auf ihre Stoppuhren, mit denen sie die Zeit für Louies letzte Runde genommen hatten. Beide Uhren zeigten genau denselben Wert an.
Beim Mittelstreckenlauf in den 1930er Jahren kam es äußerst selten vor, dass ein Mann eine letzte Runde in einer Minute lief. Diese Regel galt sogar für die vergleichsweise kurze Distanz von einer Meile: Bei den drei schnellsten Meilen, die je gelaufen wurden, wurde die letzte Runde des Gewinners mit 61.2, 58.9 und 59.1 Sekunden gestoppt. Keine Runde bei diesen drei historischen Ergebnissen war schneller als 58.9 gewesen. Bei den 5000 Metern, also einer Distanz, die um einiges länger war als drei Meilen, war eine letzte Runde, für die weniger als 70 Sekunden gebraucht wurden, eine denkwürdige Leistung. Lehtinen hatte in seinem Rekordlauf über 5000 Meter bei der Olympiade von 1932 für die letzte Runde 69.2 Sekunden gebraucht.27
Louie war seine letzte Runde in 56 Sekunden gelaufen.
Nachdem er sich geduscht und umgezogen hatte, begab er sich zu den Tribünen. In der Nähe saß Hitler in seiner Loge, umgeben von seinen Gefolgsleuten. Louie wurde auf einen ausgezehrt wirkenden Mann in der Nähe Hitlers aufmerksam gemacht; er erfuhr, dass dies Joseph Goebbels war, Hitlers |50|Propagandaminister. Louie hörte den Namen zum ersten Mal. Er zog seinen Fotoapparat aus der Tasche, ging zu Goebbels und bat ihn, ein Bild vom Führer zu knipsen. Goebbels fragte ihn nach seinem Namen und seiner Disziplin, dann nahm er die Kamera an sich, ging weg, machte eine Aufnahme, sprach mit Hitler, kam zurück und sagte zu Louie, dass der Führer ihn sehen wolle.
Louie wurde in die Abteilung des Führers geführt. Hitler lehnte sich aus seiner Loge heraus, lächelte und reichte ihm die Hand. Louie, der unterhalb stand, musste weit nach oben langen. Ihre Finger berührten sich kaum. Hitler sagte etwas auf Deutsch; ein Dolmetscher übersetzte: »Ah ja, Sie sind der Junge mit dem schnellen Endspurt.«28
Louie war rundum zufrieden mit dem, was er geleistet hatte, und wollte jetzt so richtig auf die Pauke hauen. Er hatte gehofft, mit Glenn Cunningham um die Häuser ziehen zu können, aber sein Held erwies sich doch als zu reif für den jungen Mann. Er fand einen anderen Begleiter, begabt mit einer Verantwortungslosigkeit, die besser zu ihm passte, warf sich in seine olympische Uniform und stürzte sich in die große, unbekannte Stadt. Sie besuchten Bars, stiegen den Mädchen hinterher, flöteten jedem Uniformierten ein »Heil Hitler!« entgegen und ließen alles Germanische mitgehen, das sich irgendwie lockermachen ließ. An einem Automaten stießen sie auf deutsches Bier. Die Ausschankmenge betrug einen Liter — ein Quantum, für das Louie eine ganze Weile brauchte, bis er es weggetrunken hatte. Ziemlich angeheitert zogen sie weiter und kamen dann auf einen weiteren Liter zurück; der war schneller weg als der erste.
Auf ihrem Bummel durch Berlin kamen sie dann irgendwann auch zur Reichskanzlei. Sie standen auf der Straßenseite gegenüber, als ein Auto sich näherte und hielt. Hitler stieg aus und begab sich in die Kanzlei. Bei genauerer Betrachtung des Gebäudes fiel Louie eine kleine Hakenkreuz-Fahne in der Nähe der Türen auf. Er fand, dass diese Fahne ein geradezu ideales Souvenir war, und es sah so aus, als wäre sie leicht zu entfernen. Die Fahne hatte für ihn – ebenso wie für die meisten anderen Amerikaner – in diesem Sommer des Jahres 1936 noch kaum eine symbolische Bedeutung. Louie hatte sich einfach in den Kopf gesetzt, etwas mitgehen zu lassen, und die beiden Liter germanisches Bier, die er sich einverleibt hatte, blieben nicht ohne beflügelnde Wirkung.
Zwei Wachen patrouillierten auf dem Platz vor der Reichskanzlei. Louie studierte genau ihre Strecke und stellte fest, dass es einen Zeitpunkt gab, zu dem beide der Fahne den Rücken zukehrten. Als die Soldaten also kehrt |51|machten, rannte Louie zu der Fahne, nur um sofort feststellen zu müssen, dass sie doch viel höher hing, als er angenommen hatte. Er sprang in die Luft und versuchte, einen Zipfel zu fassen zu bekommen. Das nahm ihn so in Anspruch, dass er die Wachen vergaß, die jetzt laut rufend auf ihn zueilten. Mit einem letzten Sprung nach der Fahne erreichte Louie das untere Ende und fiel auf das Pflaster; die Fahne riss er mit sich herunter, dann rappelte er sich auf und rannte wie wahnsinnig.
Er hörte einen lauten Knall. Einer der Wachtmänner rannte hinter ihm her, sein Gewehr zielte in den Himmel, und er schrie: »Bleiben Sie stehen!« Das immerhin verstand Louie. Er blieb stehen. Der Wachmann packte ihn bei der Schulter, drehte ihn herum, sah die olympische Uniform und zögerte. Er fragte Louie nach seinem Namen. Zu dem Wenigen, das Louie von den Nationalsozialisten wusste, gehörte, dass sie Antisemiten waren, als er also seinen Namen nannte, tat er das mit übertrieben italienischem Akzent: Mit einem »mindestens zwei Minuten lang« rollenden r, so erzählte er später.
Die Wachen berieten sich, gingen in die Reichskanzlei und kamen mit einem Mann zurück, der offenbar mehr zu sagen hatte als sie. Der neu Hinzugekommene fragte Louie, warum er die Fahne gestohlen hatte. Louie trug jetzt ganz dick auf und erwiderte, dass es ihm um ein Andenken an die glückliche Zeit gegangen sei, die er im wunderschönen Deutschland verbracht habe. Die Deutschen gaben ihm die Fahne und ließen ihn laufen.
Als die Presse Wind von Louies Abenteuer bekam, nahmen sich die Reporter beträchtliche kreative Freiheiten heraus. Louie hatte »Hitlers Palast gestürmt«, um in einem Hagel von Gewehrfeuer, das »ihm um die Ohren pfiff«, die Fahne zu stehlen. »Fast fünf Meter« sei er in die Tiefe gesprungen und dann davongerannt, ihm auf den Fersen »zwei Kolonnen« bewaffneter Wachsoldaten, die ihn überwältigt und zu Boden geschlagen hätten. Kurz bevor der Kolben eines deutschen Gewehrs Louies Kopf zertrümmerte, habe ein Oberbefehlshaber des Heeres die Attacke gestoppt, und Louie habe diesen überreden können, ihn nicht zu töten. Es gab sogar eine Version, in der Hitler selbst ihm erlaubte, die Fahne zu behalten. In einer anderen Version hatte Louie die Fahne so pfiffig versteckt, dass sie nie gefunden wurde. Und all das habe er getan – so die von der Presse verbreitete Version der Geschichte –, um das Herz eines Mädchens zu gewinnen.29
Am 11. August packte Louie seine Habseligkeiten zusammen, die Fahne und eine ganze Reihe weiterer gestohlener Teutonika, und verließ seine Unterkunft im Olympischen Dorf. Die Spiele neigten sich ihrem Ende entgegen, und viele Läufer brachen vor dem offiziellen Finale auf, um an Wettkämpfen |52|in England und Schottland teilzunehmen. Wenige Tage später wurden die Spiele mit einem Riesenfeuerwerk zu einem triumphalen Abschluss gebracht. Hitlers Show war reibungslos über die Bühne gegangen. Die ganze Welt war des Lobes voll.
Der amerikanische Basketballspieler Frank Lubin hielt sich noch ein paar Tage länger in Berlin auf. Seine deutschen Gastgeber wollten ihn zum Essen ausführen, und man war nun in den Straßen von Berlin unterwegs, um ein passendes Restaurant zu finden. Lubin fiel ein hübsches Lokal auf, als er es aber vorschlug, reagierten seine Gastgeber höchst zurückhaltend: Im Fenster hing ein Davidstern. Wenn man sie dort anträfe, dann »könnte das für uns üble Folgen haben«. Die Gruppe fand dann ein passenderes Lokal und begab sich später noch in eine öffentliche Badeanstalt. Beim Betreten fiel Lubin ein Schild mit der Aufschrift FÜR JUDEN VERBOTEN auf.30 Diese Schilder hatte es während der Dauer der Spiele nicht gegeben. In ganz Berlin kamen sie nun wieder zum Vorschein, außerdem hing auch die aggressiv antisemitische Zeitung Der Stürmer, die während der Spiele verschwunden war, wieder an den Zeitungsständen aus.31 Lubin hatte in Berlin eine Goldmedaille gewonnen, doch als er die Stadt verließ, verspürte er nur große Erleichterung. Irgendetwas Schreckliches lag in der Luft.
Das Olympische Dorf stand nicht lange leer. Die Häuser wurden zu Militärbaracken umgebaut. Der Kommandant des Dorfs, Hauptmann Fürstner, erfuhr, dass er aufgrund seiner jüdischen Abstammung aus der Wehrmacht entlassen werden sollte. Er beging daraufhin Selbstmord.32 Nur 30 Kilometer entfernt wurden gleichzeitig bei Oranienburg die ersten Häftlinge in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht.33
Am Abend des 2. September, als Louie wieder in Torrance eintraf, durfte er auf einem Thron Platz nehmen, der auf der Ladefläche eines Lastwagens befestigt war, und wurde durch die Stadt zu einem Depot gefahren, wo ihn 4000 Leute, unterstützt von einer Band, Sirenen und Fabrikpfeifen, jubelnd begrüßten.34 Louie schüttelte Hände und grinste in Kameras. »Ich bin nicht nur zu langsam losgelaufen«, so seine Meinung, »ich bin überhaupt zu langsam gerannt.«35
In den Tagen und Wochen nach seiner Rückkehr machte Louie sich nun Gedanken über das, was vor ihm lag. Mit seiner Teilnahme am 5000-Meter-Rennen bei der Olympiade in Berlin hatte er, der 19-jährige Teenager mit einer Erfahrung von nur vier Läufen über diese Distanz, nach den Sternen gegriffen. Wenn er nach jahrelangem, systematischem Training 1940 bei den Olympischen Spielen für die 1500 Meter antreten wollte, dann hätte |53|das eine völlig andere Dimension. Pete war genau derselben Meinung. Louie konnte 1940 Gold gewinnen, das wussten beide Brüder.36
Wenige Wochen zuvor war offiziell angekündigt worden, welche Stadt die Spiele 1940 ausrichten würde: Von jetzt an richteten sich Louies Träume auf Tokio.37