Nach einem Tag, den er zitternd im Quarantänebereich von Omori verbracht hatte, wurde Louie in den eigentlichen Lagerbereich geführt, ein riesiges Areal, auf dem um die 900 Gefangene festgehalten wurden.1 Er ging an einer langen Reihe Baracken vorbei, bis er schließlich das Gebäude fand, in dem er untergebracht war. Als er es betrat, kamen ihm mehrere Gefangene entgegen und begrüßten ihn. Einer schob ihm eine Tasse kochend heißen Tee in die eisigen Hände. Ein schottischer Gefangener trat dazu, er hatte eine ausgebeulte Socke in der Hand sowie einen Löffel, mit dem er in die Socke hineinfuhr und ihr zwei übervoll gehäufte Teelöffel Zucker entnahm, die er in Louies Tasse kippte. Für einen Kriegsgefangenen war Zucker normalerweise ein unermesslich wertvoller Schatz, und Louie konnte sich nicht vorstellen, wie dieser Mann zu seiner ganzen Socke voll Zucker gekommen war.
Während er seinen Tee trank, wurde Louie zwei Barackenvorstehern vorgestellt, dem englischen Leutnant Tom Wade und dem amerikanischen Leutnant Bob Martindale, die ihm die ersten Informationen über Omori gaben. Sie erwähnten den Korporal, der Louie am Tor angegriffen hatte. Sein Name sei Watanabe, so ihre Information, doch solle Louie sich hüten, diesen Namen in den Mund zu nehmen.2 Watanabes Paranoia ging so weit, dass er sich häufig außerhalb der Baracken versteckte, um Männer dabei zu erwischen, wie sie über ihn sprachen, wofür er sie dann verprügeln konnte. Die Männer hatten ein ganzes Arsenal von Spitznamen für ihn erfunden, darunter »das Tier«, »die große Flagge«, »Little Napoleon« und – dieser Name wurde am häufigsten verwendet – der Vogel, »The Bird«, eine Bezeichnung ganz ohne negative Beiklänge, für die die Gefangenen hätten bestraft werden können.
Die Lieblingsbeschäftigung des Bird bestand darin, Wachsoldaten vor sich her zu schicken, die mit dem lauten Schrei Keirei! in die Baracken einfielen. Watanabe selbst kam im Geschwindschritt hinterher und suchte sich ein Opfer aus. Es brachte gar nichts, sich in sicherer Entfernung von der Tür |280|niederzulassen; der Bird hechtete auch immer wieder durch geöffnete Fenster. Die Männer schärften Louie ein, allzeit bereit zu sein und nur im Flüsterton von Watanabe zu sprechen. Außerdem einigte man sich schon vorneweg auf ein Thema, auf das man das Gespräch umlenken konnte, wenn der Bird in einen Raum stürmte und zu wissen verlangte, über was die Männer gerade sprachen. Es empfahl sich vorzugeben, man habe über Sex gesprochen, da das Thema ihn interessierte und ablenkte.
Die Baracken in Omori waren in zwei durch eine zentrale Durchgangsstraße getrennte Reihen angeordnet. Am Ende der Straße befand sich das Büro des Bird, es war so platziert, dass der Korporal durch ein großes Fenster an der Vorderseite die gesamte Straße überblicken konnte.3 Wenn die Gefangenen sich im Lager irgendwohin begeben wollten, mussten sie zwangsläufig das Blickfeld Watanabes betreten; die einzige Ausnahme waren die benjos hinter den Baracken. Eine der von Watanabe aufgestellten Regeln lautete, dass die Männer nicht nur vor ihm, sondern auch vor seinem Fenster salutieren mussten. Häufig verließ er sein Büro, versteckte sich, einen Baseballschläger einsatzbereit in der Hand, in der Nähe und wartete auf Vorübergehende, die seinem Fenster den Gruß verweigerten und über die er dann herfallen konnte.
Unter den Gefangenen gab es ein ausgeklügeltes Warnsystem, mit dem die Bewegungen des Bird registriert wurden. Wenn er in seinem Büro war, hieß es »Das Tier ist in seinem Käfig«. Bewegte er sich außerhalb, lautete die Warnung »Das Tier ist auf der Jagd«. »Fahne oben!« bedeutete, dass der Bird sich im Anmarsch befand. Die Männer reagierten so empfindlich auf die Anwesenheit Watanabes, dass sie ihn am Klang seiner Holzschuhe im Sand erkannten. Der Klang pflegte jeweils einen Sturm auf die benjos auszulösen, einen Ort, den der Bird nur selten aufsuchte.
Louie nahm sich alles, was er über den Umgang mit dem Bird erfuhr, zu Herzen. Und er erfuhr zu seiner großen Bestürzung noch etwas anderes. Er hatte gedacht, da er nun in einem offiziellen Lager für Kriegsgefangene war, dürfe er nach Hause schreiben und seiner Familie mitteilen, dass er am Leben war. Früher einmal war es den Gefangenen von Omori erlaubt gewesen, Briefe zu schreiben, aber damit war es nun vorbei. Der Bird erlaubte es nicht.
Wenn neue Kriegsgefangene in Omori eintrafen, wurden sie vom Roten Kreuz registriert, und Informationen über ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort wurden an ihre Regierungen und ihre Familien weitergeleitet. Louie jedoch registrierten die Beamten von Omori nicht.4 Sie hatten mit ihm ihre ganz eigenen Pläne und waren offenbar bestrebt, ihn versteckt zu halten. Da |281|Louies Name auf keiner Liste des Roten Kreuzes auftauchte, hatte die amerikanische Regierung keinen Grund zu der Annahme, dass er am Leben war, und Louies Familie blieb vollständig im Ungewissen.
Die Ratschläge, die Louie über den Umgang mit dem Bird bekommen hatte, brachten ihm überhaupt nichts. Kaum hatte er die Baracke verlassen, fand ihn der Bird, warf ihm eine angebliche Regelverletzung vor und fiel in rasendem Zorn über ihn her. Am nächsten Tag folgten weitere Schläge, am übernächsten Tag wieder.5 Es gab Hunderte von Kriegsgefangenen im Lager, aber dieser psychopathische Korporal war auf Louie fixiert und ständig hinter ihm her; er bezeichnete ihn als »Gefangener Nummer Eins«.6 Louie versuchte, sich in Gruppen von Männern zu verstecken, doch der Bird spürte ihn immer auf. Louie berichtete später: »Schon nach den ersten Tagen im Lager war ich vor ihm auf der Hut wie vor einem durch den Dschungel streunenden hungrigen Löwen.«7
Jeden Morgen, wenn Louie aufwachte, schoss ihm als erstes der Bird in den Sinn. Er hielt während des morgendlichen tenko nach dem Korporal Ausschau, während des Appells, während des (nach wie vor von Flatulenzen begleiteten) Grußes vor dem Bild des Kaisers, während das Frühstück heruntergewürgt wurde. Nach dem Frühstück wurden die einfachen Soldaten zu Arbeitstrupps zusammengestellt und verließen das Lager. Aufgrund dieser drastischen Abnahme der Bevölkerungsdichte hatte Louie dann keine größeren Gruppen mehr, in denen er sich verstecken konnte. Und sofort stürzte sich der Bird auf ihn.
Die Offiziere in Omori hatten das Privileg, von der Sklavenarbeit ausgenommen zu sein, auch wenn sie das die Hälfte ihrer Lebensmittelration kostete. Kurz nach Louies Ankunft jedoch ließ der Bird die Offiziere antreten und verkündete, dass sie von nun an an der Seite der einfachen Soldaten zu denselben Einsatzstellen zur Arbeit geschickt werden sollten.8 Als ein Mann protestierend einwandte, das verstoße gegen das internationale Recht, ließ der Bird seinen Kendo-Stock auf seinem Kopf niedersausen. Dann ging er zu dessen Nebenmann, der ebenfalls sagte, er werde nicht arbeiten. Wieder sauste der Stock durch die Luft. Nun war Louie an der Reihe. Da er keinen Schädelbruch riskieren wollte, platzte er mit einer Kompromissidee heraus: Sie hätten nichts dagegen, innerhalb des Lagers zu arbeiten und hier die Verhältnisse zu verbessern.
Der Bird hielt inne. Offenbar reichte es ihm für sein Überlegenheitsgefühl aus, dass er die Offiziere einfach zu irgendeiner beliebigen Arbeit zwang. Er schickte sie in ein Barackenlager und befahl ihnen, Munitionsbeutel aus |282|Leder, Rucksäcke und Abdeckplanen für das japanische Militär zusammenzunähen. Louie und die anderen Männer mussten acht Stunden pro Tag in dem Lager bleiben, sie arbeiteten allerdings nur, wenn der Bird sich in der Nähe befand, und selbst dann verrichteten sie ihre Arbeit absichtlich schlampig.
Als nächstes verkündete der Bird, dass die Offiziere ab sofort die benjos zu leeren hatten.9 Acht benjos reichten für 900 an Ruhr erkrankte Männer bei weitem nicht hin, und es war eine tierische Aufgabe, zu verhindern, dass die Gruben überliefen. Louie und die anderen Offiziere benutzten von ihnen so genannte »Honiglöffel« – riesige Kellen, um den Unrat aus den Gruben in Eimer umzufüllen, die sie dann zu den Jauchegruben außerhalb des Lagers trugen und dort ausleerten. Die Arbeit war widerwärtig und entwürdigend, bei heftigen Regenfällen quollen die Gruben draußen über, und die Exkremente flossen ins Lager zurück. Allerdings wollten die Männer unter allen Umständen verhindern, dass der Bird mitbekam, wie elend ihnen zumute war, weshalb sie sich alle Mühe gaben, betont fröhlich aufzutreten. Martindale gründete den »Königlichen Orden des Benjo«. »Das Motto«, schrieb er, »wäre in einer gedruckten Veröffentlichung fehl am Platz.«10
Wenn für die Offiziere das Ende eines Tages der Schmähungen, des Honigschaufelns und gelegentlicher verkorkster Näharbeiten gekommen war, wurden die Soldaten zurück ins Lager getrieben, die tagsüber außerhalb als Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Als Louie sie das erste Mal zurückkommen sah, erfuhr er, woher die Socke voll Zucker stammte.
Die Kriegsgefangenen von Omori führten an den Orten, wo sie als Arbeitskräfte eingesetzt wurden, einen Guerilla-Krieg.11 Auf Güterbahnhöfen und in Hafenanlagen vertauschten sie Versandetiketten, schrieben Lieferanschriften um und veränderten die Beschilderungen auf Güterwaggons, womit sie Waren tonnenweise in falsche Richtungen lenkten. Sie füllten Fäuste voll Dreck in Benzintanks und zerstörten alles, was ihnen in die Hände kam. Der Amerikaner Milton McMullen, der für die Herstellung von Motorblöcken eingeteilt war, montierte sie äußerlich so, dass sie die Inspektion passierten, im Inneren aber nahm er Veränderungen vor, die die Teile unbrauchbar machten. Gefangene, die in den Docks arbeiten mussten, ließen »zufällig« Kisten mit zerbrechlichem Inhalt fallen, darunter auch eine große Lieferung von Wein und Möbeln für einen Gesandten des NS-Regimes. (Die beschädigten Möbel wurden weitergeschickt; der Wein wurde in amerikanische Feldflaschen umgefüllt.) Als die Koffer des deutschen Gesandten an die Reihe kamen, zerschnitten die Zwangsarbeiter die Kleidungsstücke, tränkten |283|sie in Öl, wälzten sie im Dreck und packten sie wieder ein; obenauf legten sie einen Zettel mit einem freundlichen Gruß von »Winston Churchill«. Sie tranken literweise Tee und pissten auf nahezu jeden Reissack, den sie verladen mussten. Und bei einer berühmt gewordenen Gelegenheit beförderten Amerikaner, die schwere Güter auf einen Lastkahn verladen sollten, die Fracht mit solcher Gewalt auf den Kahn, dass dieser sank und einen Kanal blockierte. Nach einer herkulischen Anstrengung konnte der Kahn geborgen werden, und ein neuer wurde eingesetzt, den die Arbeiter dann prompt auch wieder versenkten.
Der Gedanke, dass er ja wahrscheinlich sowieso in Japan sterben werde und also nichts zu verlieren habe, beflügelte McMullen dazu, mit mehreren anderen Gefangenen eine potentiell selbstmörderische Aktion zu planen. Sie waren auf einem Gleisgelände eingesetzt, wo ihnen eines Tages auffiel, dass eine Gruppe von Streckenarbeitern ihr Werkzeug liegengelassen hatten. Als der für die Gefangenen zuständige Wachsoldat dann ganz von der Anstrengung absorbiert war, ein hübsches Mädchen anzumachen, verließen diese eilends ihren Einsatzort, schnappten sich die Geräte, liefen zu einem Schienenabschnitt, entfernten Bolzen und Stifte, und rannten zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Der Wachsoldat, immer noch in sein Gespräch mit dem Mädchen vertieft, hatte nichts gemerkt. Eine Rangierlok mit mehreren Güterwaggons kam näher. Sie rollte auf den demolierten Gleisabschnitt, die Schienen schossen unter ihr weg, und der ganze Zug kippte um. Es wurde niemand verletzt, doch die Japaner waren außer sich vor Entsetzen. Sie sahen sich nach den Kriegsgefangenen um, die mit ausdruckslosen Mienen ihre Arbeit verrichteten. Laut schreiend beschuldigten sich die Japaner gegenseitig.
Bei allem Risiko bedeuteten derartige Aktionen für die Amerikaner vor allem eines, nämlich Transformation: Verwandelten sie sich doch, wenn sie bei solchen Sabotageakten ihr Leben aufs Spiel setzten, aus passiven Gefangenen wieder in aktive Kämpfer zurück.
Was für Sabotage unzugänglich war, wurde gestohlen. Die amerikanischen Arbeiter brachen Versandkisten auf, zapften Flaschen an, hoben Lagerraumportale aus den Angeln, plünderten Schiffskombüsen und brachen in Fabriken ein. Die pfiffigste Beschaffungsmethode hatten sich schottische Kriegsgefangene ausgedacht, die im Lebensmittellager von Mitsubishi eingesetzt waren. Als die Japaner die Schuhgröße für die Stiefel erfragten, die die Männer bei der Arbeit tragen sollten, gaben diese viel zu große Werte an. Sie strickten spezielle Socken, einige waren weit über einen Meter lang, und horteten hohle Bambusstäbe. An ihrem Einsatzort lehnten sie sich dann beiläufig |284|gegen einen Zuckersack, stachen mit dem Bambusstab hinein, führten den Stab in die Socke und ließen durch den Stab Zucker in die Socke rinnen, bis sie bis zum Rand gefüllt war. Andere zogen ihre Hosenaufschläge von innen hoch, steckten einen Bambusstab durch den Hosenbund und füllten die Hosenbeine mit Zucker. Jede Ladung wurde in einem Geheimfach in der Latrine versteckt und am Ende des Tages von dort mitgenommen.
Abend für Abend sah Louie die Arbeiter ins Lager zurücktrotten, und ihre Arbeitskleidung strotzte nur so von Diebsgut. Schwierig wurde es dann, wenn die Leibesvisitation anstand. Unauffällig schoben die Gefangenen während der Durchsuchung die Schmuggelware oder auch die Männer, die sie trugen, hin und her, wenn die Wachen ihnen gerade einmal den Rücken zukehrten. McMullen pflegte in seinen Ärmeln Fische zu verstecken; wurde er abgetastet, hielt er seine Arme hoch und packte die Fische an den Schwänzen, damit sie nicht herunterrutschten. Am diffizilsten war es, die Arbeiter zu verstecken, die bei der Rückkehr sturzbetrunken waren, nachdem sie sämtlichen Alkohol in sich hineingeschüttet hatten, den sie nicht schmuggeln konnten. Die Betrunkenen wurden in die Mitte einer Aufstellung geschoben, und ihre Schultern wurden zwischen den Schultern zweier nüchterner Nebenmänner eingeklemmt, damit sie nicht vornüber auf die Wachen kippten.
Und wenn sich die Männer dann im sicheren Schutz ihrer Baracke befanden, konnte Louie zuschauen, wie sie auspackten. Unter der Oberbekleidung hingen prall mit Zucker gefüllte Socken an Hals und Armen, baumelten unter Achselhöhlen und an Hosenbeinen, in Rollkragen, Geheimtaschen, unter Hüten. Unter einem Hemd kam ein über 50 Zentimeter langer Lachs zum Vorschein. Einmal sah Louie, dass ein Dieb aus einem einzigen Stiefel drei Dosen Austern zutage förderte. Tabakblätter waren um Beine herumgewickelt. Ein Amerikaner bastelte ein Geheimfach in seine Feldflasche: Den unteren Teil füllte er mit gestohlenem Alkohol, während eine Inspektion im oberen Teil lediglich auf unauffälliges Wasser stieß.
Dauernd wurden Männer erwischt, und wenn es so weit kam, wurden sämtliche Mitglieder des Trupps mit Fäusten, Stöcken und Gewehrkolben angegriffen. Doch die Männer bekamen so wenig zu essen, und sie arbeiteten so hart, dass sie einfach stehlen mussten, wenn sie überleben wollten. Sie gründeten eine »Hochschule für Diebstahl«, in der die geschicktesten Diebe, sogenannte »Professoren«, in die Kunst des Stehlens einführten.12 Die Abschlussprüfung bestand in einem Raubzug. Wenn Männer beim Stehlen erwischt wurden, schlugen die amerikanischen Offiziere vor, dass die Schuldigen an Arbeitsplätze versetzt wurden, wo es keine Lebensmittel gab, die sie |285|stehlen konnten. Die Japaner waren einverstanden, und die Offiziere ersetzten die ungeschickten Diebe durch solche, die ihre Ausbildung zum Dieb erfolgreich absolviert hatten.
Obwohl Louie als Offizier nicht direkt an den Diebstählen beteiligt war, war er schnell in das gesamte System integriert: Er rollte Tabakblätter zum Trocknen auf und verwahrte sie in geheimen »Wand-Safes«, um sie zu kurieren. Waren die Blätter ausreichend vorbehandelt, verarbeitete Louie sie zu Feinschnitt, der dann in Zigaretten geraucht werden konnte.
Die Diebstahlsaktivitäten führten dazu, dass im Lager ein bemerkenswert reichhaltiger Schwarzmarkt florierte. Ein paar Profis stahlen einmal sämtliche Zutaten für einen Kuchen zusammen, nur um dann, als sie sich an die Zubereitung machen wollten, feststellen zu müssen, dass sie kein Mehl, sondern Zement gestohlen hatten.13 Da in Omori sehr viele Gefangene lebten, waren die Beuteanteile nicht gerade üppig, trotzdem profitierte jeder einzelne davon. Wenn die Diebe etwas übrig hatten, schoben sie es Louie zu, der es immer noch nicht schaffte, Gewicht zuzulegen. Es kam sogar vor, dass sie ihn mit geräucherten Austern versorgten. Louie verschlang sie und schlich sich heimlich zum Zaun, um die Dosen in die Bucht von Tokio zu entsorgen.
Gestohlene Lebensmittel und vor allem der Zucker der Schotten war die im Lager übliche Währung, wodurch die »Zuckerbarone« zu den wohlhabendsten Männern von Omori wurden, die sich sogar Diener leisten konnten, welche sich um ihre Wäsche kümmerten. Die Schotten waren zwar knallharte Verhandlungspartner, doch spendeten sie grundsätzlich ein Viertel ihrer Beute für kranke Kriegsgefangene. Eines Nachts fand Louie heraus, dass Frank Tinker todkrank war.14 Er wartete ab, bis die Wachen vorbeipatrouilliert waren, huschte dann in die Baracke der Schotten und berichtete ihnen, wie schlecht es Tinker ging. Die Schotten schickten Louie mit einer kostenlosen Ladung Zucker zu Tinker zurück. Tinker sagte später, dass Louies Zuckerexpedition »meine Seele gerettet hat«. Aus Martindales Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass Tinker nicht der Einzige war, der auf diese Weise gerettet wurde. Früher einmal waren Todesfälle aufgrund von Krankheit und Fehlernährung an der Tagesordnung gewesen, nach der Gründung der Hochschule für Diebstahl hingegen starben nur noch zwei der Kriegsgefangenen in Omori, einer an einem Blinddarmdurchbruch.15 Außerdem eroberten sich die Gefangenen an diesem Ort, wo alles darauf angelegt war, sie als Personen zu demütigen, mit den Diebstählen ihre Würde zurück.
|286|Im Lauf der folgenden Wochen setzte der Bird seine Angriffe auf Louie mit unverminderter Härte fort.16 Seine Überfälle kamen völlig willkürlich, er gab Louie Ohrfeigen und versetzte ihm Hiebe auf den Kopf. Jeder Widerstand von Louie, und sei es nur, dass er sein Gesicht zu schützen versuchte, stachelte den Bird zu weiterer Gewalt an. Louie blieb nichts anderes übrig als schwankend stehenzubleiben, wenn Watanabe auf ihn einschlug. Er konnte nicht verstehen, warum der Korporal sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, und hielt verzweifelt Ausschau nach irgendjemandem, der ihn aus seiner Situation befreien konnte.
Einmal, als der Bird auf ihn einschlug, sah Louie, wie Kaname Sakaba, der Lagerkommandant, aus seinem Büro kam und in seine Richtung schaute.17 Erleichtert dachte Louie, Sakaba werde nun, da er ja mit eigenen Augen sah, wie ein Kriegsgefangener hier in einem Vorzeigelager von einem einfachen Korporal misshandelt wurde, einschreiten und dem Ganzen ein Ende machen. Sakaba aber schaute nur gleichgültig in seine Richtung und ging dann ins Gebäude zurück. Auch bei späteren Übergriffen, sei es auf Louie oder auch auf seine Kameraden, passierte nichts. Japanische Offiziere sahen zu, einige beifällig, andere durchaus nicht ohne eine gewisse Bestürzung. Es kam auch vor, dass die Offiziere zwar Befehle gaben, jedoch nichts dagegen unternahmen, wenn der Bird – immerhin nur ein einfacher Korporal – sie ungerührt missachtete.18
Aussagen des Lagerverwalters Yuichi Hatto zufolge ging diese befremdliche Situation auf einen Knick in der Hierarchie zurück. Der Lagerleiter Sakaba war höchst erpicht auf eine Beförderung. Der Anschein von Ordnung in seinem Lager und die Produktivität seiner Sklaven waren seinen Interessen förderlich, und Watanabes brutales Verhalten kam ihm durchaus gelegen. Es ist nicht rekonstruierbar, ob Sakaba Watanabe explizit dazu aufforderte, die Gefangenen zu misshandeln, auf jeden Fall aber unternahm er nichts dagegen. Hatto gab an, dass es im Lager beschäftigte Personen gab, die an der Art, wie Watanabe mit den Insassen umging, Anstoß nahmen, weil jedoch das Verhalten Watanabes im Interesse von Sakaba lag, war der Bird unangreifbar, und zwar auch von Männern, die ihm in der Hierarchie vorgeordnet waren. Das hatte zur Folge, dass der Bird seine Unangreifbarkeit offen zur Schau stellte und faktisch allein das Sagen hatte.19 Er sah die Kriegsgefangenen als seinen persönlichen Besitz an, was so weit ging, dass er manchmal sogar die eigenen Landsleute angriff, wenn sie mit den Amerikanern in Kontakt traten. Watanabe war nach den Worten von Hatto »nicht lediglich ein Wachsoldat, sondern der absolute Herrscher über die Kriegsgefangenen von Omori«.
|287|Es gab ein paar Japaner, unter ihnen auch Hatto, die den Kriegsgefangenen hinter Watanabes Rücken zu helfen versuchten.20 Keiner leistete in dieser Beziehung mehr als der Gefreite Yukichi Kano, der im Lager als Übersetzer tätig war. Wenn Männer aufgrund von Krankheit von ihrer Arbeit freigestellt wurden und damit automatisch ihre Essensration um die Hälfte gekürzt wurde, besorgte ihnen Kano leichte Jobs, mit denen sie offiziell weiter als »arbeitstauglich« galten und genug zu essen bekamen, um wieder gesund werden zu können. Wenn er bemerkte, dass Gefangene die Regeln verletzten, indem sie Gemüse aus dem Gartenbezirk aßen oder bei Ebbe außerhalb des Lagers Muscheln aus dem Meer holten, lenkte er die Wachen ab, damit ihnen diese Aktivitäten nicht auffielen. Im Winter hängte er die Wände der Krankenstation mit Decken ab und ließ Kohlen mitgehen, um die Räume zu heizen. Kranke Männer lotste er unauffällig an dem sadistischen japanischen Lagerarzt vorbei und stattdessen in die Hände eines Kriegsgefangenen, der ebenfalls Arzt war. Der Gefangene Pappy Boyington, als Träger einer Medal of Honor hochdekoriert, schrieb über ihn: »Es gab dort einen Mann, der sehr viel tapferer war als ich.« Kano »lebte in einem ständigen inneren Zwiespalt – auf der einen Seite empfand er Mitleid mit der Dummheit und der Brutalität von einigen seiner Landsleute, auf der anderen Seite konnte er sich vorbehaltlos in die Leiden der Gefangenen einfühlen.« Für Louie jedoch, das Lieblingsopfer Watanabes, konnte auch Kano nichts tun.
Als Louie erfuhr, dass für Mitarbeiter des Roten Kreuzes eine sorgfältig inszenierte Besichtigungstour durch das Lager organisiert wurde, war er überzeugt, dass nun endlich Abhilfe geschaffen würde.21 Doch er musste im Gegenteil bestürzt feststellen, dass der Bird den Rotkreuz-Vertretern nicht von der Seite wich und mit größter Aufmerksamkeit zuhörte, wenn einzelne Amerikaner die Fragen der Besucher nach dem Leben im Lager beantworteten. Kein Gefangener war so töricht, die Wahrheit zu sagen, wusste doch jeder, dass er das hinterher bitter bereuen würde. Es blieb Louie nichts anderes übrig, als den Mund zu halten.
Louie war völlig auf sich allein gestellt. Als die Angriffe nicht nachließen, wurde er zunehmend verbittert. Hier wiederholte sich die Erfahrung aus seiner Kindheit: die täglichen Prügel von seinen tyrannischen Mitschülern. Innerlich kochte er vor Zorn, und er war außerstande, diese Tatsache zu verbergen.
Jedes Mal wenn der Bird über ihn herfiel, ballten sich Louies Hände zu Fäusten. Bei jedem Schlag, der ihn traf, stellte er sich vor, wie er den Bird erwürgte. Der Bird forderte Louie auf, ihm ins Gesicht zu schauen; Louie tat es nicht. Der Bird versuchte, Louie zu Boden zu schlagen; Louie schwankte, |288|fiel aber nicht hin. Aus den Augenwinkeln konnte Louie sehen, wie der Bird wütend auf seine geballten Fäuste starrte. Andere Gefangene warnten Louie: Der Bird würde nie aufhören mit seinen Angriffen, wenn Louie sich ihm nicht fügte.22 Das aber war für Louie undenkbar. Wenn er seine Augen aufschlug, stand darin der blanke Hass. Für Watanabe, dessen einziger Lebenssinn darin bestand, anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen, war Louies Widerstand eine nicht hinnehmbare, persönliche Beleidigung.
Die Gefangenen konnten über die Bucht von Tokio immer häufiger Fliegeralarm hören. Es war lediglich blinder Alarm, trotzdem gab er den Männern Auftrieb. Louie suchte den leeren Himmel ab und hoffte, die Bomber würden kommen, bevor der Bird ihn umbrachte.
Um halb sieben Ortszeit am Mittwoch, dem 18. Oktober 1944, fing die von Radio Tokio ausgestrahlte abendliche Sendung Postman Calls an.23 Es handelte sich dabei um eines von zwölf Propagandaprogrammen der Japaner in englischer Sprache, deren Zielgruppe die Truppen der Alliierten waren. Die Moderatoren waren Kriegsgefangene, sogenannte »Propagandagefangene«, die ihre Arbeit normalerweise unter der Androhung von Schlägen oder gar Exekution verrichteten.
An diesem Abend wurde eine Durchsage ausgestrahlt: »Hier spricht der Postbote, er ruft Kalifornien: Mrs. Louise Zamperini in der Gramercy Street 2028, Torrance, Kalifornien. Es folgt eine Botschaft von ihrem Sohn, Oberleutnant Louis Silvie Zamperini, gegenwärtig interniert in einem Lager bei Tokio. ›Meine geliebte Familie, ich bin unverletzt und gesund. Ich vermisse euch alle schrecklich und träume oft von euch. Ich bete, dass ihr gesund seid, und hoffe, euch alle eines Tages wiederzusehen. Bestellt allen Verwandten und Freunden herzliche Grüße. Gebt auf meine Sachen und mein Geld acht. Liebe Grüße, Louis.‹«24
Louie, nur ein paar Kilometer entfernt vom Ausstrahlungsort, hatte von der Sendung keine Ahnung.25 Die Japaner hatten sie selbst verfasst oder einen ihrer Propagandagefangenen gezwungen, den Text zu formulieren.
In Amerika wurde das Programm nicht ausgestrahlt, dafür empfing in der Stadt Claremont in Südafrika ein gewisser E. H. Stephan entweder mit einem Kurzwellenradio die Sendung selbst, oder er erfuhr auf anderem Wege davon. Stephan war bei einer Organisation tätig, die Radiosendungen abhörte und Informationen von Kriegsgefangenen an Familienmitglieder weiterschickte. Stephan übertrug die Informationen aus der Sendung auf eine Karteikarte. Louie, so die Information auf der Karte, befinde sich als Kriegsgefangener in einem Lager der Achsenmächte.
|289|Stephan klammerte eine Umschrift der ausgestrahlten Botschaft an die Karte. Er adressierte sie, indem er die Kontaktinformationen aus der Sendung benutzte, die er teilweise falsch verstanden hatte: Die Adresse lautete auf Louise Vancerini, 2028 Brammersee Street, Terence, California. Dann brachte er alles zur Post.
Wegen der falsch geschriebenen Adresse und der kriegsbedingten Verzögerungen im Postverkehr war die Karte monatelang unterwegs. Im Januar 1945 tauchte sie in Trona auf, einer kleinen Siedlung in der kalifornischen Wüste.26 Ende Januar dann, fast dreieinhalb Monate nach der Ausstrahlung, nahm sich irgendjemand in Trona die Karte vor, kritzelte Vielleicht Torrance? auf die Vorderseite und schickte sie weiter.