Ein zweites Mal tauchten die Männer von Radio Tokio in Omori auf, lächelnd und offensichtlich angetan von Louies Ansprache.1 Was für eine sagenhafte Stimme er doch habe, wie fantastisch das Ganze gelaufen sei. Was er von einer zweiten Sendung halte?
Solange er einen von ihm selbst aufgesetzten Text lesen durfte, sah Louie keinen Grund, das Angebot abzulehnen. Er formulierte eine weitere Botschaft an seine Familie und fuhr dann mit den Rundfunkleuten nach Tokio. Als er im Studio ankam, teilten sie ihm mit, sie hätten ihre Pläne geändert. Louies Text bräuchten sie nicht; sie hätten schon selbst einen verfasst. Sie händigten Louie ein Blatt Papier aus, auf dem wortwörtlich folgender Text festgehalten war:2
Tja, also ob Ihr es glaubt oder nicht … Wahrscheinlich bin ich einer dieser »Glückspilze«, aber wer weiß, vielleicht entpuppt sich das Ganze ja auch als sagenhaftes Pech … Jedenfalls … Hier spricht wieder Louis Zamperini, 27 Jahre alt, aus Los Angeles, Kalifornien, in den guten alten Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn ich sage »Glückspilz«, dann meine ich damit, dass ich noch am Leben bin und gesund … Naja, und was ja nun wirklich ein starkes Stück ist … Ich habe gehört und habe es sogar mit meinen eigenen Augen gesehen, dass ich abserviert worden bin, also dass man gemeldet hat, ich sei im Kampf gefallen. … Ja tatsächlich, da gab es einen, der sich dafür richtig eingesetzt hat … So weit ich weiß, lautete die offizielle Meldung ungefähr folgendermaßen … »Oberleutnant Louis S. Zamperini, der bislang unangefochten den schulübergreifenden Rekord über eine Meile hält, wurde vom Kriegsministerium offiziell für tot erklärt … Zamperini, Läufer über die Distanz von einer Meile an der University of Southern California, gilt seit Mai 1943 als im Südpazifik vermisst« … Tja, was sagt Ihr dazu? … Junge. … Das ist der Hammer. … Hier sitze ich, so quicklebendig wie nur irgend möglich. … Und dabei, verdammt nochmal, halten mich alle für tot. … Also, das erinnert mich an einen Kumpel, der in derselben Bredouille ist wie ich oder jedenfalls war. … Der hat mir erzählt, dass es offiziell von ihm hieß, er sei »im Kampf gefallen«, dabei befand er sich in Wahrheit in einem Gefangenenlager. … Nach mehreren Monaten bekam er einen Brief von seiner Frau, in |303|dem sie ihm mitteilte, sie habe wieder geheiratet, weil sie angenommen hatte, er sei gefallen … Natürlich war sie erstaunt, als sie hörte, dass er in Sicherheit war, interniert in einem Lager. … Also wie auch immer, sie hat ihn getröstet und beteuerte ihm, sie sei bereit, sich scheiden zu lassen und ihn wieder zu heiraten, wenn er heimkam. … Also dieser Typ tut mir echt leid. Und schuld daran sind die Verantwortlichen im Ministerium, die die Veröffentlichung derart haltloser Informationen zulassen. … Schließlich ist das doch wohl das Mindeste, was man von ihnen erwarten kann: dass sie die Angehörigen in der Heimat darüber informieren, wo ihre Jungs sind …
Naja, das ist nicht mein Problem. Ich hoffe einfach, dass meine Angehörigen in der Heimat von der Tatsache, dass ich am Leben bin und die Absicht habe, am Leben zu bleiben, unterrichtet sind … Es ist schon ein Armutszeugnis, wenn es einem Menschen nicht erlaubt ist zu leben, ich meine, wenn ein Mensch von einer sogenannten »amtlichen Verlautbarung« umgebracht wird. … Was soll man dazu sagen? …
Louie war völlig entgeistert. Er hatte sich ja schon lange gefragt, warum man ihn auf Kwajalein nicht umgebracht hatte, nachdem doch die neun Marinesoldaten alle getötet worden waren, und warum er zwar den zermürbend qualvollen Gefangenenalltag in Ofuna hatte über sich ergehen lassen müssen, aber im Unterschied zu allen anderen nie ausgefragt worden war.3 Jetzt endlich gaben die Japaner ihre eigentlichen Absichten zu erkennen. Auf Kwajalein hatte ein Offizier, nachdem Louies Exekution bereits eine beschlossene Sache war, seine Vorgesetzten davon überzeugt, dass Louie, wenn man ihn am Leben ließe, als höchst nützliches Propagandawerkzeug eingesetzt werden konnte. Ein berühmter amerikanischer Olympiateilnehmer, so seine Argumentation, wäre von unschätzbarem Wert.27* Wahrscheinlich hatten die Japaner Louie den entwürdigenden Zuständen in Ofuna und anschließend in Omori unter dem Bird mit der Absicht ausgesetzt, sein Leben im Lager derart unerträglich zu machen, dass er bereit war, alles zu tun, sogar sein Land zu verraten, um dem zu entkommen. Sie hielten ihn bewusst vor der Öffentlichkeit versteckt, sorgten dafür, dass sein Name nicht auf den Listen des Roten Kreuzes auftauchte, und warteten ab, bis er von seiner Regierung offiziell für tot erklärt wurde, um dann zu verkünden, dass er lebte. Damit hofften sie, Amerika bloßzustellen und das Vertrauen der amerikanischen Soldaten in ihre Regierung zu unterminieren.
|304|Louie weigerte sich, die Erklärung zu verlesen. Die Aufnahmeleiter hörten nicht auf zu lächeln, sie baten ihn vielmehr, sie auf einem kleinen Rundgang zu begleiten.4 Zuerst nahmen sie ihn mit in eine Cafeteria, wo er ein fantastisches amerikanisches Menü serviert bekam, dann wurde er in einen privaten Wohnbereich geführt, in dem es Betten mit Matratzen und Bettwäsche gab. Wenn Louie die Sendung machen würde, so die Radioleute, dann könne er hier leben und müsse nie mehr einen Fuß ins Lager von Omori setzen. Schließlich wurde Louie noch einigen Männern vorgestellt, Australiern und Amerikanern. Seine Begleiter erklärten Louie, dass diese Männer ihnen bei der Herstellung ihrer Sendungen halfen. Als Louie seine Hand ausstreckte, schauten die Propaganda-Gefangenen betreten zu Boden. Ihren Mienen war eines ganz klar abzulesen: Falls Louie nachgab und den für ihn vorbereiteten Text verlas, dann würde er sich mit einem Leben als Propagandaknecht seiner Feinde einverstanden erklären.
Louie wurde ins Studio zurückgebracht und noch einmal aufgefordert, die Sendung zu machen. Er weigerte sich. Jetzt verschwand das Lächeln von den Gesichtern, und die Mienen verhärteten sich. Die Produzenten befahlen ihm, den Text zu lesen. Louie sagte nein. Die Radioleute verließen den Raum, um sich zu beraten.
Louie war nun allein im Studio. Vor ihm lagen mehrere Durchschläge der Botschaft, die er hätte verlesen sollen. Er steckte seine Hand durch einen Riss in seiner Tasche, schnappte sich eine Kopie und schob sie unter seinen Mantel. Die Männer kamen zurück.
»Okay«, sagte einer von ihnen. »Ich denke, Sie gehen dann jetzt zurück ins Straflager.«5
Omori wurde zwar als Straflager bezeichnet, doch die Radioleute bezogen sich offensichtlich auf eine andere Einrichtung. Für Louie war jedes Lager besser als Omori, da es nur in Omori den Bird gab. Die Produzenten forderten ihn ein letztes Mal auf, seinen Entschluss zu überdenken. Er tat es nicht.
Also wurde Louie wieder nach Omori gesteckt. Der Bird wartete schon auf ihn und glühte in neu geschürtem Hass. Er setzte mit noch größerer Verbissenheit seine regelmäßigen Angriffe auf Louie fort. Vielleicht wurde Louie dafür bestraft, dass er sich geweigert hatte, die Sendung zu machen; vielleicht hatte auch der Produzent, dem Louie erzählt hatte, was er unter dem Bird zu erdulden hatte, diesen von Louies Anschuldigungen unterrichtet. Bei jedem Angriff Watanabes blieb Louie wie angewurzelt stehen, steckte die Schläge ein, während seine Rebellenseele in ihm tobte, und erwartete sehnlichst den Tag, an dem er in das andere »Straflager« verbracht |305|wurde. Und wie alle anderen Kriegsgefangenen beobachtete er den Himmel und betete, dass sich die Verheißung jener ersten B-29 erfüllen möge.
Am frühen Nachmittag des 24. November, einem Freitag, begannen in Tokio die Sirenen zu heulen.6 Vom Himmel kam ein fürchterlicher, durchdringender Lärm. Die Kriegsgefangenen schauten nach oben. Dort, so weit oben, dass sie wie glitzernde Schlitze im Himmel aussahen, flogen Heerscharen von B-29-Maschinen, insgesamt 111, die auf eine Flugzeugfabrik am Stadtrand zuhielten. Sie rasten in einem Windband dahin, das später als Jetstream bezeichnet werden sollte, worin sie Geschwindigkeiten bis zu 720 Stundenkilometer erreichten, gut 150 Stundenkilometer mehr als die Höchstgeschwindigkeit, für die sie eigentlich konstruiert waren. Jetzt waren die Amerikaner da.
»Es war ein kalter, klarer, sonniger Tag«, schrieb der Kriegsgefangene Johan Arthur Johansen, der sich zu diesem Zeitpunkt in einem Sklavenlager befand.7 »Die Flugzeuge glitzerten im Sonnenschein vor dem blauen Himmel wie Silber … Es war ein wunderbarer Anblick, der auch unsere Stimmung |306|bis in den Himmel hob.« Die Männer brachen in laute Rufe aus: »Runter mit den Bomben!«, »Gute Landung!« und »Welcome back!« Die Wachen starrten nach oben, sie waren vom Auftauchen der Flugzeuge so überrumpelt, dass sie die Schreie der Männer gar nicht wahrzunehmen schienen.
Eine B-29 über Japan.
In Omori stand Yuichi Hatto, der Finanzverwalter des Lagers, mit einer Gruppe von Kriegsgefangenen zusammen.8 Sie beobachteten, wie ein einzelnes japanisches Kampfflugzeug auf die amerikanischen Maschinen zuraste, dann ganz plötzlich erstaunlicherweise direkt in einen der Bomber hineinflog. Das kleinere Flugzeug zerschellte, und seine Bruchstücke regneten in die Bucht von Tokio hinunter. Der Bomber begann abzustürzen, weißer Rauch stieg von ihm auf. Ein Fallschirm löste sich von seiner Seite, und einer der Kriegsgefangenen schrie: »One safe! Safe!« Diese englische Wendung stach für Hatto heraus; er hatte sie bislang nur im Rahmen von Baseballspielen gehört. Der Bomber schlug auf der Wasseroberfläche auf, was sicherlich keiner von der Besatzung überlebte. Der einsame Überlebende an seinem Fallschirm schwebte über Tokio hinunter, so sanft wie ein Löwenzahnsame. Immer tiefer sank er über der Stadt hinunter, und Hatto wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, was mit dem Soldaten weiter geschehen würde, wenn er unten ankam. Die anderen Bomber flogen weiter. Wenige Minuten später hörte man aus der Ferne Explosionen.
In diesem Herbst kreuzten dann fast täglich B-29-Maschinen über Omori, manchmal nur vereinzelt, manchmal in großen Verbänden. An sonnigen Tagen standen die Männer draußen und beobachteten sie; bei bedecktem Himmel hörten sie sie nur, ein Grollen über den grauen Wolken. In Tokio heulten die Sirenen mit solcher Häufigkeit, dass der Lärm die Kriegsgefangenen nicht einmal mehr im Schlaf störte.9
Am 27. November flogen 81 Bomber über das Lager hinweg. In der regnerischen Nacht vom 29. auf den 30. November wurden die Gefangenen von zwei Brandbombenangriffen auf Tokios Industriegebiete aufgeweckt.10 In weiter Ferne hörte man Explosionen, und die Insassen sahen, wie auf dem Festland Feuerzungen hochschlugen; die letzten der 2773 in dieser Nacht zerstörten Gebäude gingen in Flammen auf. Ein Strom von Zivilisten begann sich über die Brücke in Richtung Omori zu bewegen. Die Menschen ließen sich mit Zelten vor den Lagermauern nieder, sie hofften, hier vor den Bombenangriffen sicher zu sein.
Eines Tages stand Louie draußen auf dem Hof und beobachtete, wie japanische Kampfflugzeuge wie Wölfe eine Gruppe von B-29-Bombern umkreisten.|307|11 Der Kampf spielte sich so hoch oben am Himmel ab, dass nur die riesigen, glänzenden Bomber dauernd sichtbar blieben; die japanischen Maschinen, die im Vergleich zu ihnen geradezu winzig waren, fielen nur dann ins Auge, wenn die Sonnenstrahlen direkt auf sie trafen. Immer wieder blitzte kurz grelles Licht neben den Bombern auf. Auf Louie wirkte es wie die Explosion von Feuerwerkskörpern. Es waren die Kampfflugzeuge, die im Beschuss der B-29s explodierten. Die Bomber flogen unaufhaltsam weiter. Der Bird beobachtete das Geschehen mit gequälter Miene. »Hikoki dame«, sagte er. »Hikoki dame.«12 Die japanischen Flugzeuge, so seine Klage, taugten nichts.
Jede B-29, die sich in Richtung Tokio bewegte, verschlimmerte die Kränkung des Birds. Er verfolgte die Gefangenen mit endlosen Kontrollen, verbot das Rauchen, Singen und das Kartenspiel und untersagte Gottesdienste. Ohne abzusetzen ohrfeigte er einen Offizier fünf Minuten lang, ließ ihn vier Stunden ohne Mantel in Hab-Acht-Stellung in der Kälte ausharren, und dann erhielt dieser Mann den Befehl, über zwei Wochen für täglich zwei Stunden die benjos zu reinigen. Einen Helfer in der Küche schlug er mit einem Löffel von der Größe eines Ruders. Er durchwühlte die Besitztümer der Männer, konfiszierte persönliche Aufzeichnungen und Fotos der Angehörigen und vernichtete sie unter dem Vorwand, es sei »verdächtiges« Material. Er verhielt sich vollkommen paranoid. »Wenn Ihr Krieg gewinnt, Ihr behandelt alle Japaner wie schwarze Sklaven!«,13 schrie er einen Gefangenen an. Er zerrte Martindale in sein Büro, beschuldigte ihn, einen Brandanschlag auf eine Baracke zu planen, und schlug mit Fäusten und einem Kendo-Stab so versessen auf ihn ein, dass sämtliche Möbel umfielen.14
Im Dezember 1944 verließ der Bird das Camp für mehrere Tage, und während dieser kurzen Zeit ging es in Omori relativ friedlich zu.15 In der Nacht vor dem Tag jedoch, an dem er eigentlich zurückerwartet wurde, wurden die Gefangenen aus dem Schlaf gerissen und hörten ihn, wie er bei strömendem Regen durch das Lager stürmte und brüllte, es finde jetzt eine Feueralarmübung statt. Als sich die diensthabenden Feuerwehrleute im eisigen Regen versammelten, schlug der Bird mehrere von ihnen mit der Faust ins Gesicht, rannte brüllend durch die Baracken, griff andere Männer an und befahl dann allen, sich draußen in einer Reihe aufzustellen. Als Louie und die anderen dem Folge leisteten, zog der Bird sein Schwert, fuchtelte damit herum und kreischte Befehle und Beleidigungen. Zwei Stunden lang zwang der Bird die Männer, Wasser auf Phantomfeuer zu pumpen, eingebildete Brandherde mit Besenhieben auszulöschen und Lebensmittel und Dokumente aus den Gebäuden zu schaffen, um sie zu »sicherzustellen«.
|308|B-29 »Superfortress«.
Im weiteren Verlauf des Dezembers wurde die Besessenheit Watanabes immer schlimmer. Er trommelte die Offiziere zusammen und hetzte sie über die Brücke nach Tokio hinein;16 als Vorwand gab er an, aus ausgebombten Häusern solle Feuerholz beschafft werden. Entlang der Straßen waren Wasserbehälter zur Feuerbekämpfung aufgestellt, und als die Männer die Straße entlangmarschierten, sprang der Bird auf einen dieser Behälter, zog sein Schwert und brüllte »Keirei!« Die Männer salutierten vor ihm, und der Bird, der vollständig in seinen Wahnvorstellungen verloren war, stand in einer Befehlshaberpose auf seinem Bottich, die Tom Wade in ihrer absurden Übertriebenheit an Mussolini erinnerte. Zivilisten liefen zusammen und spendeten Beifall. Nachdem die Gefangenen alle an ihm vorbeigegangen waren, sprang der Bird von seinem Posten herunter, rannte an die Spitze der Kolonne und bestieg einen zweiten Wasserbehälter, nahm seine Pose wieder ein und forderte die Offiziere erneut schreiend zu Ehrenbezeugungen auf. Noch mehrere Male wiederholte er diese Farce und trieb die Männer auf diese Weise meilenweit vor sich her.
Bei Bombenangriffen schnappte der Bird völlig über, er rannte schwertschwingend und brüllend durch das Lager, Schaum flog ihm vom Mund, die Lippen waren in einem erschreckenden Rictus zurückgezogen, das eine |309|Augenlid hing herunter, und sein Gesicht war purpurrot angelaufen. Während mindestens zwei Bombardierungen verbot er den Männern, die Schutzgräben aufzusuchen. Einmal jagte er die Gefangenen ins Freie, ließ sie in Habachtstellung stehen und befahl den Wachsoldaten, mit den Gewehren auf sie zu zielen.17 Während die Bomben explodierten, rannte der Bird die Reihe der zu Tode erschreckten Gefangenen auf und ab und fuchtelte mit seinem Schwert über ihren Köpfen herum.
Jede Intensivierung der Bombenangriffe zog eine Eskalation seiner Angriffe auf Louie nach sich. Rasend vor Zorn stürmte er auf der Suche nach dem Amerikaner durch das Lager. Louie versteckte sich, doch der Bird spürte ihn immer auf. Drei- oder viermal pro Woche stürzte er sich auf Louie mit einem Anlauf, den Frank Tinker seinen »Todessprung« nennen sollte, er griff ihn mit fliegenden Fäusten an, schlug ihn auf den Kopf und ins Gesicht.18 Blutend und halb ohnmächtig ging Louie aus diesen Angriffen hervor. In ihm verfestigte sich zunehmend die Gewissheit, dass Watanabe so lange nicht aufhören würde, bis er ihn umgebracht hatte.
Louie spürte, wie die ständigen Angriffe ihn immer mehr zermürbten. Nachts verfolgte ihn der Bird in seinen Träumen, schreiend, schäumend vor Wut, den Gürtel mit der schweren Schnalle gegen Louies Schädel schwingend.19 In diesen Träumen gewann Louies unterdrückte Wut die Oberhand, und er sah sich selbst, wie er auf dem Monster hockte, seine Hände um dessen Hals krallte und das Leben aus ihm herauspresste.
Während Louie sich durch den Dezember schleppte, siechte knapp 500 Kilometer von ihm entfernt sein ehemaliger Pilot in einer verdreckten, ungeheizten Baracke im Gefangenenlager von Zentsuji dahin.20 Phil war im August nach Zentsuji gebracht worden und traf dort mit dem beinamputierten Fred Garrett zusammen, der von Ofuna hierher verlegt worden war.
Die verhörenden Offiziere in Ofuna hatten Zentsuji ein »Nobel«-Lager genannt, eine Belohnung für kooperationsbereite Kriegsgefangene, aber davon konnte überhaupt keine Rede sein. Die Verpflegung war derart unzureichend, dass die völlig ausgehungerten Männer das Gelände nach Unkraut absuchten, das sie dann verschlangen. Das einzige Wasser, das ihnen zur Verfügung stand, kam aus einem Wasserspeicher, in dem sich der Abfluss der mit Exkrementen gedüngten Reisfelder sammelte, und wenn sie nicht verdursten wollten, mussten die Gefangenen dieses Wasser trinken, was bei neun Zehnteln der Lagerinsassen zu Ruhrerkrankungen führte. In einer Stube verloren die Männer im Lauf von 18 Monaten durchschnittlich 24 Kilo an Gewicht. Nach Schätzungen eines Offiziers wurden täglich im |310|Schnitt 20 Männer ohnmächtig. Fast alle litten unter Beriberi, und einige Gefangene erblindeten aufgrund ihrer Unterernährung. Am letzten Tag im November wurde ein Amerikaner beerdigt, der verhungert war.
Einen Vorteil hatte Zentsuji. Phil durfte in Form von Postkarten kurze Nachrichten an seine Angehörigen schicken. Er machte ausgiebig davon Gebrauch, und die Karten wurden auch aufgegeben, aber sie gingen bei der Beförderung verloren. Der Herbst neigte sich seinem Ende entgegen, es ging wieder auf Weihnachten zu, doch seine Angehörigen hörten nichts von Phil.
Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit Phil verschwunden war. Seine Familie befand sich in einem bangen Zustand der Ungewissheit; seit dem Absturz seines Flugzeugs hatten sie nichts von ihm gehört. Im November hatten auch sie von Louies Radiobotschaft erfahren.21 Die Neuigkeiten waren aufregend, aber letztlich änderten sie nichts an der Situation von Phils Familie. Louie hatte andere Soldaten erwähnt, mit denen er zusammengewesen war, doch waren die Namen durch das atmosphärische Rauschen nur verzerrt zu hören, und auch die Umschrift hatte ihnen keine Gewissheit verschafft. Hatte Louie Allen nun erwähnt oder nicht?
An einem Freitagabend im Dezember 1944 läutete bei Kelsey Phillips das Telefon. Am Apparat war ein Major aus dem Büro des Generaladjutanten im Kriegsministerium.22 Das Ministerium hatte, wahrscheinlich über das Rote Kreuz, Nachricht aus Zentsuji bekommen. Allen lebte.
Kelsey war außer sich vor Glück. Sie bat den Major, ihrem Mann und der Verlobten ihres Sohnes ein Telegramm zu schicken, und Cecy konnte dann in Washington die Nachricht entgegennehmen, auf die sie so lange gewartet hatte. Die Wahrsagerin hatte prophezeit, dass Allen vor Weihnachten gefunden sein würde. Es war der 8. Dezember. Überglücklich rief Cecy ihren Bruder an und teilte ihm jubelnd die frohe Botschaft mit, dann kündigte sie ihren Job, flitzte durch ihre Wohnung, warf schnell ihre Kleider und die Bilder von Allen in einen Koffer und stieg in ein Flugzeug nach Indiana, um dort ihren heimkehrenden Verlobten zu erwarten.23
Vier Tage vor Weihnachten erreichte eine Karte von Allen, die er im Oktober geschrieben hatte, seine Familie. »Ihr Lieben alle: Hoffe, Ihr seid alle gesund, freue mich, bald wieder daheim bei Euch zu sein. Dad, ich hoffe, wir können Kaninchen jagen gehen, bevor die Saison zu Ende ist. Grüßt Cecy, Martha und Dick von mir. Alles Gute zum Geburtstag, Dad.« Kelsey betrachtete dieses kostbare Stück Papier immer wieder, und der vertraute Schwung der Handschrift ihres Sohnes tröstete sie. Kaplan Phillips, der jetzt in Frankreich stationiert war, erfuhr am Weihnachtsabend, dass sein Sohn |311|am Leben war. »Was ich fühle, kann nicht in Worte gefasst werden«, schrieb er an seine Tochter. »Ich lebe jetzt in einer ganz neuen Welt. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Man hat das Gefühl zu spüren, was letztlich mit dem Wort ›Himmel‹ gemeint ist.«24
In einem Schreiben, das den Kriegsgefangenenstatus von Allen offiziell bestätigte, wurden seine Angehörigen gebeten, die Tatsache, dass Allen am Leben und nicht mehr vermisst war, nicht öffentlich zu machen.25 Später hielt Kelsey sich an diese Aufforderung, doch hatte der Brief sie zu spät erreicht; am Morgen nach dem Anruf des Kriegsministeriums hatte die Neuigkeit schon in der ganzen Stadt die Runde gemacht, und die Nachricht, dass Allen am Leben war, stand in den lokalen Zeitungen. Die Zamperinis hatten einen ähnlichen Brief erhalten, in dem außerdem mitgeteilt wurde, dass das Kriegsministerium mittlerweile von der Echtheit von Louies Rede überzeugt war. Auch Louies Angehörige wurden aufgefordert, diese Fakten für sich zu behalten. Das Kriegsministerium wollte wahrscheinlich verhindern, dass sein Irrtum bezüglich des Todes der beiden Flieger publik wurde, gerade auch im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Japaner diesen Umstand propagandistisch ausschlachteten.
Kelsey erhielt die Erlaubnis, ihrem Sohn ein Telegramm zu schicken, und dann brachte sie viele Stunden damit zu, Briefe an ihn zu schreiben. Am 14. Dezember schrieb sie an Louise Zamperini. Wegen Allen war sie zwar erleichtert, aber etwas anderes bedrückte sie nach wie vor.26 Von der gesamten Besatzung der Green Hornet waren nur Louie und Allen gefunden worden. Hug Cuppernells Mutter war so betroffen, dass sie den Briefwechsel mit den anderen Müttern nicht weiter fortsetzen konnte. Sadie Glassman, die Mutter des unteren Rumpfschützen, schrieb an Louise und fragte sie, ob sie nicht irgend etwas von Frank gehört habe. »Wir selbst haben zwar nichts gehört«, schrieb sie, »aber die Tatsache, dass Sie möglicherweise etwas wissen, vermittelt uns das Gefühl, dass es vielleicht doch noch ein wenig Hoffnung gibt.«27
»Es ist – bei aller Freude, die ich im Herzen empfinde – schwer, diese Freude nach außen zu zeigen, wenn ich an all die anderen Mütter denke, die ich liebgewonnen habe, und mir klarmache, wie schrecklich sie jeweils unter ihrem Verlust zu leiden haben«, schrieb Kelsey in einem Brief an Louise. »Ich fühle so sehr mit ihnen, und ich werde an jede schreiben.«28
Während es auf Weihnachten zuging, wurde Louie immer schwächer. Der ständige Hunger zermürbte ihn. Die gelegentlichen Geschenke der Diebe halfen ein wenig, aber es reichte bei Weitem nicht aus. Am schlimmsten war, |312|dass es in unmittelbarer Nähe Lebensmittel in Hülle und Fülle gab. Zweimal in diesem Herbst waren vom Roten Kreuz Hilfspakete für die Kriegsgefangenen ausgeliefert worden,29 doch statt sie zu verteilen, hatte das Lagerpersonal sie beiseitegeschafft und sich selbst daraus bedient.28*30 Sie gaben sich nicht die geringste Mühe, ihren Diebstahl vor den Augen der Gefangenen zu verbergen. »Wir konnten beobachten, dass sie Einwickelpapier von amerikanischen Lebensmitteln wegwarfen, dass sie losen Kakao und Zucker schüsselweise davontrugen; sie versuchten sogar, amerikanischen Käse zur Reinigung von Wäsche einzusetzen«, schrieb Tom Wade.31 Der schlimmste Räuber war der Bird, er rauchte Lucky Strike-Zigaretten und hatte die Lebensmittel vom Roten Kreuz offen in seinem Zimmer stehen. Von 240 Paketen, die das Rote Kreuz ausgeliefert hatte, stahl der Bird allein 48; das waren mehr als 225 Kilo an Waren.32
Gegen Ende Dezember trommelte der Bird sämtliche Männer im Hof zusammen. Dort stand ein Lastwagen, randvoll beladen mit Äpfeln und Orangen. In seiner ganzen Zeit als Kriegsgefangener hatte Louie lediglich ein einziges Stück Obst gesehen: die Mandarine, die er damals von Sasaki bekommen hatte. Die Männer erhielten die Erlaubnis, sich jeweils zwei Stück zu nehmen. Sie stürzten sich auf die Obstberge, und sofort wimmelte es um sie herum von japanischen Fotografen, die eifrig ihre Kameras betätigten. Dann, als die Männer gerade anfangen wollten, die Früchte zu essen, kam der Befehl, alles zurückzulegen.33 Die ganze Aktion war lediglich eine Propagandainszenierung für die Fotografen gewesen.
Am Weihnachtsabend wurden dann endlich einige Rotkreuzpakete ausgegeben. Louie beschrieb dieses Ereignis frohlockend in seinem Tagebuch.34 Sein Paket hatte ein Gewicht von rund fünf Kilo, und es enthielt Corned Beef, Käse, Pastete, Lachs, Butter, Marmelade, Schokolade, Milch, Dörrobst und vier Packungen Zigaretten der Marke Chesterfield. Den ganzen Abend lang tauschten die Männer von Omori ihre Reichtümer aus, rauchten und schlemmten.
An diesem Abend gab es noch eine weitere vergnügliche Veranstaltung, die den Schlusspunkt einer Reihe kurioser Zwischenfälle markierte. Es gab unter den Kriegsgefangenen einen chronisch ungewaschenen, genialen, möglicherweise pathologischen Kleptomanen namens Mansfield.35 Kurz vor Weihnachten gelang Mansfield an sieben Wachen vorbei ein Einbruch ins Lagerhaus, |313|er erbeutete mehrere Rotkreuzpakete, die er unter seiner Baracke vergrub. Sein Versteck wurde entdeckt, und man sperrte Mansfield in einer Zelle ein. Mansfield brach aus, stahl weitere 16 Pakete und schmuggelte sie in sein Zimmer. Er versteckte den Inhalt der Pakete in einem selbst geschreinerten Geheimfach; an der Tür brachte er eine Botschaft für andere Kriegsgefangene an: Lebensmittel, bedient euch, hier anheben. Er wurde ein zweites Mal geschnappt und an einen Baum gebunden, wo er ohne Nahrung und Wasser im Schnee stehen musste, am Leib nichts als seinen Pyjama, und Schläge bekam er noch obendrein. In einem Bericht heißt es, man habe ihn zehn Tage lang dort gelassen. Als Louie einmal spät in der Nacht vom benjo zurückkam, sah er Yukichi Kano, den Lagerdolmetscher, der neben Mansfield kauerte und eine Decke um ihn schlang. Am nächsten Morgen war die Decke verschwunden, weggeschafft, bevor sie dem Bird auffiel. Irgendwann wurde Mansfield losgebunden und in ein Zivilgefängnis gebracht, wo man ihn wieder aufpeppelte.
Die erfreuliche Nachwirkung dieser Zwischenfälle ergab sich daraus, dass Mansfield im Lager auf eine Truhe voller Theaterrequisiten und -kostüme gestoßen war, die ebenfalls vom Roten Kreuz stammte. Er berichtete den anderen Gefangenen davon, was diese dann auf die Idee brachte, die allgemeine Stimmung durch die Inszenierung und Aufführung eines weihnachtlichen Theaterstücks zu heben. Die Zustimmung Watanabes sicherten sie sich, indem sie sein Ego tätschelten, ihn zum »Showmaster« erklärten und ihm einen Thron ganz vorne im »Theater« reservierten. Als Theater fungierte das umfunktionierte Badehaus, wo man mit über Wannen gelegten Brettern eine Bühne errichtet hatte. Es wurde beschlossen, eine Musicalfassung von Cinderella einzuüben und aufzuführen;36 verfasst wurde das Stück mit gewissen kreativen Freiheiten von einem englischen Kriegsgefangenen. Frank Tinker brachte seine darstellerischen Qualitäten als Prinz Leander von Pantoland ein. Die gute Fee wurde von einem muskulösen Cockney in Tutu und Strumpfhose gegeben. Louie meinte, es sei das lustigste Theaterstück gewesen, das er je gesehen hatte. Der Gefreite Kano übersetzte für die Wachen, die in den hinteren Reihen saßen, lachten und klatschten. Der Bird sonnte sich im Rampenlicht, und an diesem Abend ließ er Louie und die anderen in Ruhe.
In Zentsuji feierten auch Phil und Fred Garrett Weihnachten.37 Einige Kriegsgefangene hatten Musikinstrumente aufgetrieben, und vor 700 hungernden Männern, die begeistert einstimmten, gaben sie mitreißende Stücke zum Besten. Mit den Nationalhymnen Englands, Hollands und der Vereinigten Staaten beendeten sie ihre Darbietung. Die Kriegsgefangenen von |314|Zentsuji standen schweigend und lauschend zusammen und waren in Gedanken in ihrer Heimat, bei ihren Verwandten und Freunden.
Nach Weihnachten war plötzlich Schluss mit den Angriffen Watanabes auf die Kriegsgefangenen, sogar auf Louie. Stattdessen wanderte der Bird nur in sich gekehrt durch das Lager. Die Männer beobachteten ihn und fragten sich, was da vor sich gehen mochte.
Mehrere Male in jenem Jahr hatte Prinz Yoshitomo Tokugawa, ein hoher Würdenträger, das Lager besucht.38 Er war ein prominenter und einflussreicher Mann, angeblich ein Nachfahr des ersten Shogun, und er visitierte die Lager im Auftrag des japanischen Roten Kreuzes. In Omori war er mit dem Kriegsgefangenen Lewis Bush zusammengetroffen, der ihm von der Grausamkeit Watanabes berichtete.
Dem Bird blieb das nicht verborgen. Nach dem ersten Besuch Tokugawas verbot Watanabe Bush, noch einmal über ihn zu sprechen. Als der Prinz das nächste Mal ins Lager kam, missachtete Bush das Verbot des Birds, der ihn daraufhin nach der Abreise des Prinzen brutal durchprügelte. Tokugawa kam noch mehrere Male, und Bush besprach sich noch mehrere Male mit ihm. Der Bird schlug und trat Bush, der sich aber nicht einschüchtern ließ. Tokugawa war äußerst betroffen von dem, was er da erfuhr, er wandte sich an das Kriegsministerium und ans Rote Kreuz und drängte darauf, dass im Zusammenhang mit Watanabe etwas unternommen werden musste. Allerdings stieß er, wie er Bush berichtete, auf Widerstand. Dann, kurz vor Neujahr, setzte er sich endlich durch. Der Bird erhielt die Weisung, Omori zu verlassen.
Von einem Sieg Tokugawas konnte allerdings letztlich nicht die Rede sein. Die Verantwortlichen setzten sich nicht dafür ein, dass der Kontakt Watanabes mit Kriegsgefangenen fürderhin unterbunden war. Sie ordneten lediglich seine Versetzung in ein abgelegenes Lager an, wo er wieder genau dieselbe Macht über die Gefangenen hatte, nur diesmal ohne den kritischen Blick des Prinzen und des Roten Kreuzes. Um klarzustellen, dass es nicht darum ging, Watanabe abzustrafen, beförderte ihn Colonel Sakaba zum Unteroffizier.39
Der Bird schmiss für sich eine Abschiedsparty und befahl einigen der in Omori einsitzenden Offiziere die Teilnahme. Diese sammelten im ganzen Lager Stuhlproben der am heftigsten betroffenen Durchfallpatienten ein, rührten eine grausame Sauce zusammen und gaben sie über eine Platte voll Reiskuchen.40 Bei der Party übergaben sie dem Bird die Kuchen als Ausdruck ihrer Wertschätzung. Während die Männer Watanabe wieder und |315|wieder versicherten, wie sehr sie ihn vermissen würden, griff dieser tüchtig zu. Offenbar war er untröstlich über seinen Abschied.
Im weiteren Verlauf des Tages schaute Louie aus dem Fenster und sah, dass der Bird mit einigen Leuten am Tor stand und Hände schüttelte. Unter den Gefangenen herrschte Hochstimmung. Louie fragte, was los war, und irgendjemand antwortete, der Bird werde für immer verschwinden.41 Louie rastete fast aus vor Freude.
Falls die Reiskuchen die gewünschte Wirkung zeitigten, geschah das jedenfalls nicht sofort. Der Bird überquerte die Brücke zur Hauptinsel und machte einen völlig gesunden Eindruck. In Omori aber war die Zeit der Schreckensherrschaft vorüber.