Wenn man sie so beisammen sitzen sah, wirkten wie drei ganz normale Männer. Es war ein Abend in der zweiten Hälfte des Jahres 1946. Louie saß an einem Tisch im Florentine Gardens, einem Lokal in Hollywood, Cynthia saß eng an ihn geschmiegt neben ihm. Phil und Cecy waren zu Besuch aus Indiana, und Fred Garrett war mit dem Auto durch die Stadt gebraust, um sich ihnen zum Abendessen anzuschließen. Phil und Louie schauten sich grinsend in die Augen. Das letzte Mal hatten sie sich im Mai 1944 gesehen, als Phil von Ofuna weggebracht worden war und keiner sagen konnte, ob sie sich in ihrem Leben noch einmal wiedersehen würden.
Die Männer lachten und unterhielten sich. Fred, der kurz darauf anfing, als Fluglotse zu arbeiten, hatte eine neue Beinprothese. Er war so gut gelaunt, dass er sich zu den Tanzenden gesellte, um dem ganzen Saal zu beweisen, dass er immer noch eine flotte Sohle aufs Parkett legen konnte. Phil und Cecy hatten die Absicht, bald nach New Mexico umzuziehen, wo Phil einen Kunststoffhandel aufziehen wollte. Louie und Cynthia schwelgten noch immer im Glück ihrer Flitterwochen, die sie zeltend in Louies geliebten Bergen verbracht hatten. In den Nächten teilten sie sich einen Schlafsack, und Cynthia hatte trotz all der Jahre auf diversen Mädcheninternaten eine beträchtliche Begabung an den Tag gelegt, sich dreckig zu machen. Louie hatte wieder mit dem Laufen angefangen, er hatte den Kopf voller großer Pläne und war so redselig und gutgelaunt wie eh und je. Als die Männer die Köpfe zusammensteckten, um sich fotografieren zu lassen, schien all das, was sie durchgemacht hatten, endgültig vergessen zu sein.
Irgendwann näherte sich dem Tisch, an dem fröhlich geplaudert und gelacht wurde, ein Kellner mit einem Teller, den er vor Fred abstellte. Auf dem Teller lag neben der Vorspeise eine Portion Reis. Und mehr war nicht nötig. Fred rastete plötzlich aus, er bekam einen hysterischen Wutanfall, beschimpfte den Kellner und brüllte so laut, dass sein Gesicht dunkelrot anlief. Louie versuchte ihn zu beruhigen, aber er drang nicht zu Fred durch. Fred war völlig aufgelöst.1
|401|Der Kellner beeilte sich, den Teller mit dem Reis wegzubringen, und Fred gewann seine Fassung zurück, doch jetzt war der Damm gebrochen, und es war allen klar: An ein normales Leben wie in der Vorkriegszeit war für diese Männer nicht mehr zu denken.
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, begann für mehrere tausend ehemalige Kriegsgefangene der Japaner ihr Leben nach dem Krieg. Körperlich waren sie fast alle deutlich gezeichnet.2 Ein Kriegsgefangener im Pazifik hatte während der Gefangenschaft im Schnitt gut 27 Kilo an Gewicht verloren, was umso bemerkenswerter ist, als ungefähr drei Viertel der Männer bei ihrer Aufnahme in die Armee lediglich 72 Kilo oder weniger gewogen hatten. Tuberkulose, Malaria, Ruhr, Fehlernährung, Anämie, Augenkrankheiten und eiternde Wunden waren weit verbreitet. Innerhalb eines Krankenhausverbunds stellten die Ärzte bei 77 Prozent der Kriegsgefangenen nasses Beriberi, bei der Hälfte trockenes Beriberi fest. Von den Kanadiern trugen 84 Prozent einen Nervenschaden davon. Krankheiten der Atemwege, die sich aus Infektionen und der Zwangsarbeit unter unerträglichen Bedingungen in Fabriken und Minen entwickelt hatten, waren an der Tagesordnung. Viele ehemalige Gefangene waren verkrüppelt und entstellt, weil Knochenbrüche nicht richtig behandelt worden waren; ihre Zähne waren von Faustschlägen ruiniert und einer Ernährung, bei der sie über mehrere Jahre hinweg mit dem Essen Sand und kleine Steinchen kauen mussten. Andere waren aufgrund der Fehlernährung erblindet. Viele Männer waren so krank, dass sie auf Bahren aus den Lagern abtransportiert werden mussten, und es war völlig normal, dass die ehemaligen Gefangenen nach ihrer Heimkehr mehrere Monate im Krankenhaus verbrachten. Immer wieder gab es solche, die nicht mehr zu retten waren.
Die körperlichen Leiden und Verletzungen waren schlimm, sie schwächten die Gefangenen nachhaltig; viele starben. Eine Studie aus dem Jahr 1954 fand heraus, dass Soldaten, die eine Zeit der Gefangenschaft im Pazifik hinter sich hatten, in den ersten beiden Nachkriegsjahren fast viermal so häufig starben wie andere männliche Vertreter ihrer Altersgruppe; und es sollte sich an der ungewöhnlich hohen Sterbequote auch in den nachfolgenden Jahren nicht sehr viel ändern. Die gesundheitlichen Auswirkungen hielten oft noch Jahrzehnte lang an; eine Folgestudie ergab, dass ehemalige Pazifik-Gefangene 22 Jahre nach dem Krieg zwei- bis achtmal so oft wegen einer Vielzahl von Krankheiten in Krankenhäusern behandelt werden mussten.
Aber so fatal auch die körperlichen Folgen der Gefangenschaft waren, so waren die psychischen Wunden doch wesentlich heimtückischer, weiter verbreitet |402|und hartnäckiger. In den ersten sechs Jahren nach dem Krieg war Psychoneurose eine der verbreitetsten Diagnosen bei stationär behandelten ehemaligen Pazifik-Gefangenen. Fast 40 Jahre nach dem Krieg waren über 85 Prozent dieser Männer einer Studie zufolge an posttraumatischem Belastungssyndrom (Post-Traumatic Stress Disorder, PTSD) erkrankt, was sich in unvermittelt auftretenden Flashbacks niederschlug, in Angstzuständen und Alpträumen. Und eine Studie aus dem Jahr 1987 kam zu dem Ergebnis, dass acht von zehn ehemaligen Pazifik-Gefangenen »psychisch beeinträchtigt« waren, sechs von zehn hatten Angststörungen, mehr als ein Viertel litt unter PTSD, und nahezu ein Fünftel war depressiv. Es gab viele, die nur noch einen Ausweg wussten: In einer Studie von 1970 ist belegt, dass unter ehemaligen Pazifik-Gefangenen die Selbstmordquote um 30 Prozent höher lag als beim Durchschnitt ihrer Altersgefährten.
All diese Krankheiten, die körperlichen wie die psychischen, forderten einen schockierenden Tribut. Die Veteranen erhielten Entschädigungen, je nach dem Ausmaß ihrer Behinderung (zwischen 10 und 100 Prozent). Im Januar 1953 – also fast acht Jahre nach Kriegsende – wurde ein Drittel der ehemaligen Kriegsgefangenen im Pazifik als zwischen 50 und 100 Prozent behindert eingestuft.
Die Zahlen schlugen sich konkret in qualvollen, häufig ruinierten Lebensläufen nieder. Flashbacks, in denen die Männer ihre Traumata noch einmal durchlebten, ohne die Vorstellung von der Realität unterscheiden zu können, waren an der Tagesordnung. Auch fürchterliche Alpträume und Schlafwandeln waren weit verbreitet. Die Männer durchlebten erneut die Qualen des Lagerlebens und wachten schreiend, schluchzend und um sich schlagend auf. Einige schliefen auf dem Boden, weil sie nicht mehr auf Matratzen schlafen konnten, andere zuckten in äußerstem Horror weg, wenn ein Flugzeug über sie hinweg flog, wieder andere horteten Nahrungsmittel.3 Einer hatte immer wieder eine Halluzination von seinen in der Kriegsgefangenschaft gestorbenen Freunden, die in einer langen Reihe an ihm vorbeischritten. Ein anderer war außerstande, sich überhaupt an den Krieg zu erinnern. Milton McMullen konnte nicht mehr aufhören, japanische Begriffe zu verwenden – eine Gewohnheit, die ihm während seiner Gefangenschaft eingeprügelt worden war.4 Dr. Alfred Weinstein, der in Mitsushima den Bird mit Diarrhö infiziert hatte, entwickelte das zwanghafte Bedürfnis, Mülleimer zu durchwühlen.541*6 |403|Bestürzend viele fingen an zu trinken. In einer Untersuchung zur Situation ehemaliger Pazifik-Gefangener wurde für mehr als ein Viertel Alkoholismus diagnostiziert.
Raymond »Hap« Halloran war ein Funker, der nach dem Abschuss seiner B-29 über Tokio mit dem Fallschirm absprang. Nach seiner Landung wurde er von einer Gruppe wütender Zivilisten durchgeprügelt, dann von japanischen Soldaten festgenommen, die ihn folterten, in einen Schweinekoben einsperrten und später in einem Pferdestall einschlossen, während Brandbomben über der Stadt niedergingen. Sie zogen ihn nackt aus und stellten ihn im Zoo von Tokio zur Schau, wo er aufrecht stehend an die Stäbe eines leerstehenden Tigerkäfigs gekettet wurde, damit die Zoobesucher sich am Anblick seines dreckigen, mit Wunden übersäten Körpers ergötzen konnten. Er bekam so extrem wenig Nahrung, dass er 45 Kilo Gewicht verlor.
Nach seiner Befreiung und einem achtmonatigen Krankenhausaufenthalt kehrte Halloran nach Hause zurück, nach Cincinnati. Er schrieb: »Ich war nicht mehr der 19-Jährige, der an jenem Vormittag im Herbst des Jahres 1942 von seiner Mutter einen Abschiedskuss bekommen hatte.« Er war extrem reizbar geworden; wenn sich ihm etwas von hinten näherte, verfiel er in Panik. Beim Schlafen durften seine Arme nicht bedeckt sein, weil er Angst hatte, seine Angreifer sonst nicht abwehren zu können. Er hatte fürchterliche Alpträume; wenn er aus ihnen hochschreckte, rannte er im Hof seines Hauses herum und schrie um Hilfe. Hotelübernachtungen waren ausgeschlossen, weil seine Schreie die anderen Gäste verstörten. Mehr als 60 Jahre nach dem Krieg hortete er noch immer zwanghaft Gegenstände: In seinem Schlafzimmer hatte er acht Kissen und sechs Wecker, er kaufte Kleidung und Vorräte in Mengen ein, die seinen Bedarf weit übertrafen, und lagerte palettenweise Lebensmittel. Dabei hatte Halloran noch Glück gehabt. |404|Von den fünf Überlebenden seiner Crew starben zwei an übermäßigem Alkoholkonsum.742*
Viele ehemalige Kriegsgefangene hatten extreme Wutanfälle. Es kam immer wieder vor, dass sie beim Anblick eines Asiaten oder wenn sie jemanden Japanisch reden hörten, anfingen zu zittern; dass sie weinten, zornig wurden oder sich in Flashbacks verloren. Ein normalerweise höflicher und unauffälliger Mann spuckte jedem Asiaten, der ihm vor die Augen kam, ins Gesicht.8 Im Letterman General Hospital versuchten unmittelbar nach dem Krieg vier Patienten, einen japanischstämmigen Mitarbeiter der Klinik anzugreifen – dass er ein amerikanischer Veteran war, wussten sie natürlich nicht.9
Die ehemaligen Kriegsgefangenen hatten in ihrer Qual niemanden, an den sie sich wenden konnten. Als McMullen aus Japan zurückkam, wurde er jede Nacht von schrecklichen Alpträumen heimgesucht, und er war so nervös, dass er kaum zusammenhängend reden konnte. Als er seiner Familie gegenüber von dem sprach, was er durchgemacht hatte, beschimpfte ihn sein Vater als Lügner und verbot ihm, je wieder über den Krieg zu sprechen. Erschüttert und tief deprimiert konnte McMullen nichts mehr essen, und sein Gewicht fiel wieder auf 40 Kilo. Er wandte sich an ein Krankenhaus für Veteranen, bekam aber von den Ärzten nur Vitaminspritzen. Während er einem Militärbeamten von seinen Erfahrungen berichtete, hatte dieser nichts Besseres zu tun, als einen Telefonanruf entgegenzunehmen und mit dem Anrufer ein längeres Gespräch anzufangen. Nach zwei Jahren war McMullen vordergründig wieder einigermaßen stabilisiert, doch wirklich erholen konnte er sich sein Leben lang nicht. Selbst 60 Jahre nach dem VJ-(Victory over Japan-)Day transportierten ihn seine Träume immer noch in die Lager zurück. Von seinen Kriegserfahrungen zu sprechen war und blieb so schmerzhaft, dass es ihn jeweils für Wochen aus der Bahn warf.10
Die im Jahr 1945 aus der Gefangenschaft im Pazifikraum zurückkehrenden Soldaten waren menschliche Ruinen. Sie hatten hautnah nicht nur die enorme Leidensfähigkeit des Menschen erfahren, sondern auch die ebenso enorme menschliche Fähigkeit und gierige Bereitschaft, Leiden zuzufügen. Unsägliche Erinnerungen an Folter und Erniedrigung hatten sich ihnen eingebrannt, |405|dazu ein überwaches Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit, das von dem Wissen begleitet war, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit ein Mensch wehrlos gemacht und seiner Würde beraubt werden kann. Viele fühlten sich, nachdem sie Misshandlungen ausgesetzt waren, die sich Normalsterbliche überhaupt nicht vorstellen können, alleingelassen und isoliert. Man hatte ihnen ihre Würde genommen, und an deren Stelle war ein alles durchdringendes Gefühl von Scham und Wertlosigkeit getreten. Und jetzt mussten sie mit dem bitteren Wissen leben, dass es nicht nur damals, sondern immer noch niemanden gab, der sich zwischen sie und die Katastrophe stellte. Heimkehr bedeutete für sie eine Erfahrung äußerster, lebensgefährlicher Einsamkeit.
Für diese Männer war das Leben nach dem Krieg vor allem ein Kampf um die Wiedergewinnung ihrer Würde, sie mussten einen Weg finden, die Welt als etwas anderes denn nur als bedrohliches Dunkel zu sehen. Einen für alle tauglichen Weg zum Frieden gab es nicht; jeder Einzelne musste entsprechend seiner eigenen Geschichte seinen eigenen Weg finden. Es gab solche, die es schafften. Für andere aber würde der Krieg nie zu Ende sein. Einige zogen sich in die Isolation selbstquälerischer Grübeleien zurück oder verloren sich in Ausweichmanövern. Und für andere verdichteten sich die Jahre der unterdrückten Wut, des Terrors und der Erniedrigung zu dem, was der Holocaust-Überlebende Jean Améry »einen schäumend reinigenden Rachedurst« nannte.11
Die Flitterwochen in den Bergen waren Cynthias Idee gewesen. Louie liebte sie für ihre sportliche Unternehmungslust und dafür, dass sie einen Ort gewählt hatte, der ihm selbst so viel bedeutete. »Du musst dich umschauen und dir merken, wie die Bäume + Berge, die Seen + Bäche aussehen«, schrieb er ihr vor der Hochzeit. »… Mein ganzes Leben lang werde ich Dich zwischen ihnen sehen.«12 Wenn Louie abends neben Cynthia einschlief, sah er den Bird nach wie vor in seinen Träumen lauern, doch hielt der Sergeant sich zurück, als sei er durch irgendetwas eingeschüchtert, oder vielleicht wartete er auch einfach nur ab. Noch nie, seit die Green Hornet auf dem Wasser zerschellte, war Louie dem Frieden so nahe gewesen.
Und dann ließen sie die offene Weite der Berge hinter sich und kehrten nach Los Angeles zurück, in die engen Mauern des Hauses von Harry Reads Mutter. Cynthia fühlte sich dort nicht wohl, und Louie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr das Heim bieten zu können, das sie sich wünschte. Es war jetzt an der Zeit, einen Beruf zu ergreifen, er aber sah sich dazu nicht in der Lage. Er hatte die University of Southern California kurz vor den Abschlussprüfungen verlassen, hatte also keinen Universitätsabschluss. Dieser aber hätte ein wichtiger Qualifikationsnachweis sein können auf einem Arbeitsmarkt, auf dem es von arbeitslosen Veteranen und ehemaligen Beschäftigten in der Kriegsindustrie nur so wimmelte. Wie viele andere Elite-Sportler hatte Louie sich während der gesamten Schulzeit auf seinen Sport konzentriert und nie ernsthaft über ein Leben nach dem Laufen nachgedacht. Jetzt war er fast 30, und er hatte keine Ahnung, wovon er und Cynthia leben sollten.
|406|Cynthia Zamperini während der Flitterwochen
Um eine herkömmliche Berufslaufbahn, einen geregelten 8-Stunden-Job bemühte er sich erst gar nicht. Aufgrund seiner Berühmtheit kam er immer wieder mit Leuten in Berührung, von denen viele ihn in Geschäfte hineinziehen wollten, in die er seine Lebensversicherungssumme investieren konnte, die er hatte behalten dürfen. Er ging zu Ausverkaufsveranstaltungen von Armeebeständen, kaufte Quonsethütten und verkaufte sie an Filmstudios weiter. Dasselbe tat er mit Kühlschränken, dann investierte er in Telefonanlagen. Er erzielte recht beträchtliche Gewinne, doch das Geld war jeweils auch schnell wieder verbraucht. Immerhin hatte er monatlich genug Geld zur Verfügung, um für sich und Cynthia eine Wohnung zu mieten. Es war nur ein winziges Apartment in einer billigen Wohngegend von Hollywood, doch Cynthia gab sich alle Mühe, daraus ein echtes Zuhause zu machen.
Am Abend des ersten Tages in der neuen Wohnung ging Louie ins Bett, schloss die Augen, und sofort setzte ein Traum ein. Wie immer war der Bird |407|anwesend – jetzt allerdings hatte er nichts Zögerliches mehr an sich. Der Sergeant baute sich über Louie auf, ließ den Gürtel aus seiner Hand schnellen und peitschte Louie ins Gesicht. Jede Nacht kam er wieder, und wieder war Louie hilflos, außerstande, vor ihm zu fliehen oder ihn abzuwehren.
Louie warf sich jetzt wieder auf sein Lauftraining.13 Aus langen Wanderungen wurden Trainingsläufe. Seine Fitness kehrte zurück, und sein verletztes Bein machte ihm keine Schwierigkeiten mehr. Er ging es langsam an, immer begleitet von dem Gedanken an London ’48. Er trainierte für die 1500 Meter; für den Fall, dass er das nicht schaffen sollte, sagte er sich, dass er ja dann immer noch für die 5000 Meter antreten könne, gegebenenfalls sogar für den Hindernislauf. Doch ohne dass es größerer Anstrengung bedurft hätte, lief er die Meile in 4: 18, nur zwei Sekunden langsamer als der Gewinner des Zamperini Invitational-Rennens, das er im März als Zuschauer besucht hatte. Er war auf dem besten Weg, wieder zu seiner früheren Form zurückzufinden.
Allerdings war Rennen nicht mehr dasselbe wie früher. Einst hatte er sich durch das Laufen befreit gefühlt; jetzt kam es ihm verzwungen vor. Rennen machte keinen Spaß mehr, aber ihm fiel auch nichts anderes ein, womit er seine qualvolle innere Zerrissenheit hätte beschwichtigen können. Er verdoppelte seine Trainingsanstrengungen, und die Reaktion seines Körpers ließ nicht lange auf sich warten.
Eines Tages machte Louie einen Testlauf, um zu sehen, wie schnell er zwei Meilen schaffte. Cynthia stand mit einer Stoppuhr am Rand der Bahn. Schon relativ bald spürte Louie einen Stich im linken Knöchel, genau an der Stelle, die er sich in Naoetsu beim Sturz verletzt hatte.14 Er wusste, dass es töricht war, weiterzulaufen, aber eine Alternative hatte er nicht. Nach der ersten Meile zuckten Schmerzstachel durch seinen Knöchel. Er lief weiter, immer auf London zu.
Als er die letzte Runde fast geschafft hatte, spürte er, wie etwas in seinem Knöchel zerriss. Humpelnd überquerte er die Ziellinie und brach zusammen. Er war die für das Jahr 1946 schnellste Zeit über die Zwei-Meilen-Distanz an der Pazifikküste gelaufen, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Eine Woche lang konnte er überhaupt nicht laufen, und noch Wochen später hinkte er. Ein Arzt teilte ihm mit, dass er die Folgen seiner Kriegsverletzung noch katastrophal verschlimmert habe.
Jetzt war alles aus.
Louie war am Boden zerstört. Das große Ziel, das ihn als Jugendlichen gerettet hatte, war zunichte geworden. Damit brach auch der letzte Schutzwall |408|zusammen. Tagsüber war er außerstande, die Gedanken an den Bird zu verscheuchen. Nachts peitschte ihn der Sergeant, gierig, brutal. Wenn der Gürtel ihn traf, kämpfte Louie sich frei und klammerte seine Hände um die Kehle seines Peinigers. Doch wie hart er auch zudrückte – die Augen des Bird hörten nicht auf, über ihm zu flackern. Regelmäßig wachte Louie schreiend und schweißgebadet auf. Er fürchtete sich vor dem Einschlafen.
Dann begann er wieder zu rauchen. Auch der Verzicht auf Alkohol war nicht mehr nötig, also fing er jetzt abends schon während des Kochens an, Wein zu trinken, und Cynthia durfte ihr Abendessen in der Gesellschaft eines betrunkenen Ehemannes einnehmen. Nach wie vor trudelten Einladungen in Clubs ein, und nun sprach ja nichts mehr dagegen, die Gratisgetränke anzunehmen, die ihm jedes Mal angeboten wurden. Erst trank er lediglich Bier, dann stieg er auf Schnaps um. Wenn er genug getrunken hatte, konnte er die Erinnnerung an den Krieg eine Zeitlang im Alkohol ersäufen. Bald trank er so viel, dass er das Bewusstsein verlor, was ihm aber gerade recht war; wenn er solche Blackouts hatte, musste er nicht ins Bett gehen und auf sein Monster warten. Cynthia konnte ihn nicht vom Alkohol abhalten, daher ging sie jetzt nicht mehr mit ihm aus. Und Louie ließ sie jeden Abend in der Wohnung zurück und zog allein los, um den Krieg zu verlieren.
Wilde, ziellose, unbändige Wut ergriff immer mehr von ihm Besitz. Einmal beschimpfte er aus dem Auto heraus einen Mann, der vor ihm zu langsam die Straße überquerte, und der Mann spuckte ihm auf den Kühler. Louie kurvte mit quietschenden Reifen an den Bordstein, sprang aus dem Auto und schlug auf den Mann ein, bis der zu Boden ging. Die verzweifelten Rufe Cynthias, er solle aufhören, ignorierte er. Ein anderes Mal ließ jemand in einer Bar aus Versehen eine Tür vor ihm zufallen. Louie baute sich vor dem anderen auf, und es entspann sich ein Handgemenge, das damit endete, dass Louie das Gesicht seines Gegners in die Gosse drückte.
Louie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Wenn er in einer Bar saß, konnte es vorkommen, dass er sich bei einem plötzlichen lauten Geräusch, etwa wenn ein Auto eine Fehlzündung hatte, zusammengekrümmt auf dem Boden wiederfand. In der Bar wurde es dann ganz still, und alle Gäste starrten ihn befremdet an. Ein andermal saß er gedankenverloren bei seinem Schnaps, als jemand in seiner Nähe im angeheiterten Gespräch mit Freunden irgendetwas laut herausgrölte. Für Louie klang es wie »Keirei!« Unwillkürlich sprang er auf, nahm Haltung an und erwartete mit rasendem Herzklopfen, dass der Gürtel des Bird auf ihn niederging. Die Illusion war so |409|schnell verschwunden wie sie gekommen war, und wieder spürte Louie, dass die Blicke sämtlicher Gäste auf ihn gerichtet waren. Er kam sich töricht und erniedrigt vor.
Eines Tages wurde er plötzlich von einem merkwürdigen, unerklärlichen Gefühl gepackt, und urplötzlich war um ihn herum und in seinem Inneren der Krieg, keine Erinnerung, sondern das unmittelbare Erleben – grelle Blitze, Kreischen, Gestank, Geheul, die alles beherrschende Panik. Einen Moment später wurde er verwirrt und schockiert aus der Halluzination wieder herauskatapultiert. Das war sein erster Flashback. Danach passierte es immer wieder: Wenn er Blut sah oder in einer Bar Zeuge einer Rauferei wurde, dann schoss alles zur Präsenz des Gefangenenlagers zusammen, und seine psychische Verfassung, das Licht, die Geräusche, sein Körper, alles war genau wie damals und ebenso unentrinnbar. Es kam sogar hin und wieder vor, dass er auf seiner Haut Läuse und Flöhe spürte, obwohl da gar nichts war. All das führte dazu, dass er mehr und mehr trank.
Cynthia flehte Louie an, er solle sich um Hilfe bemühen, also begab er sich widerwillig in die Beratungssprechstunde eines Veteranenhospitals. Er erzählte vom Krieg und von seinen Alpträumen, doch das änderte nichts an seiner Verstörung. Nach zwei oder drei Sitzungen ließ er es daher sein.
Eines Tages schlug er eine Zeitung auf und stieß auf einen Artikel, der sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Mann, der in japanischer Kriegsgefangenschaft gewesen war, hatte in einem Laden einen seiner ehemaligen Peiniger wiedererkannt. Er rief die Polizei, die den mutmaßlichen Kriegsverbrecher festnahm. Als Louie die Geschichte las, ballte sich die angestaute Wut in ihm auf einen Punkt zusammen. Er stellte sich vor, wie er den Bird fand, wie er ihn überwältigte, wie er ihm das Gesicht blutig schlug und dann seine Hände um den Hals des Bird schloss. In seiner Phantasie brachte er den Bird langsam um und genoss die Schmerzen, die er ihm zufügte. Er ließ den Mann, der ihn so fürchterlich gequält hatte, all den Schmerz, den Schrecken und die Hilflosigkeit spüren, die er selbst empfunden hatte. Er spürte ein brennendes Verlangen in seinen Adern.
Louie hatte keine Ahnung, was aus dem Bird geworden war, war aber ganz sicher, dass er ihn kriegen konnte, wenn es ihm irgendwie gelang, wieder nach Japan zu kommen. So sollte seine entschlossene Reaktion auf die unablässigen Anläufe des Bird aussehen, seine Menschlichkeit auszulöschen: Ich bin immer noch ein Mensch. Er konnte sich nicht vorstellen, was er sonst tun sollte, um sich selbst zu retten.
Louie hatte ein Ziel gefunden, das die geplatzten Olympiaträume ersetzen konnte. Er würde den Bird umbringen.15