Louie erfuhr nichts vom Tod des Bird. Als die Leichen auf dem Mitsumine gefunden wurden, lebte er in Hollywood, und seine gesamte Existenz ging zunehmend in die Brüche. Er trank viel, wurde in den Sog von Flashbacks gezogen und wieder ausgespien, kämpfte sich schreiend und um sich schlagend durch Alpträume, bekam aus unerfindlichen Gründen fürchterliche Wutanfälle. Den Bird zu töten war zu seiner heimlichen, fieberhaft verfolgten Obsession geworden, diesem Ziel hatte er sein gesamtes Leben verschrieben.1 In einer Turnhalle in der Nähe seiner Wohnung brachte er Stunden damit zu, seinen Hass mit geballten Fäusten in einen Sandsack zu hämmern und so seinen Körper für die Konfrontation vorzubereiten, die ihn dann endlich, so sein fester Glaube, retten würde. Tag für Tag kreisten seine Gedanken um seine Mordpläne.
In den Jahren 1947 und 1948 ließ er sich immer wieder überstürzt auf irgendwelche dubiosen Vorhaben ein, mit denen er hoffte, das Geld zu verdienen, das er brauchte, um nach Japan zu reisen. Als Cynthias Bruder Ric zu Besuch kam, traf er auf jede Menge Schmeichler und Mitläufer, die alle versuchten, Louie auszunutzen. Einer überredete Louie, 7000 Dollar in ein Unternehmen zu stecken, das angeblich Erdbaumaschinen auf den Philippinen kaufte und weiterverkaufte. Er versprach, dass er damit sein Geld verdoppeln könne. Louie unterschrieb einen Scheck, und das war dann auch das Letzte, was er von seinem Geld und dem Investor sah. Er gründete mit einem Partner zusammen eine Passagierschiffgesellschaft auf Tahiti, allerdings wurde das Schiff von Gläubigern gepfändet. Der Versuch, eine Filmgesellschaft in Ägypten zu gründen, nahm ein ähnliches Ende. Louie erwog sogar, sich als bezahlter Bombenschütze bei einem Staatsstreich in einem kleinen Land in der Karibik zu engagieren. Während er noch darüber nachdachte, wurde die ganze Sache abgeblasen. Mit einem Partner zusammen traf er eine mündliche Vereinbarung mit mexikanischen Beamten, aufgrund derer sie die Alleinvertretung für die Ausgabe von Fischereilizenzen an Amerikaner bekommen sollten. Auf dem Weg zur Vertragsunterzeichnung starb |420|sein Partner und mit ihm der Vertrag bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Lastwagen. Jedes Mal wenn Louie ein bisschen Geld zusammengekratzt hatte, ging es in einem weiteren scheiternden Unternehmen verloren, und seine Rückkehr nach Japan musste wieder aufgeschoben werden.
Der Alkohol verschaffte ihm Zeiträume, in denen er all das vergessen konnte. Mit unerbittlicher Folgerichtigkeit war allmählich aus dem Mann, der trank, weil er es wollte, ein Mann geworden, der trank, weil er nicht anders konnte. Tagsüber blieb er nüchtern, an den Abenden jedoch, wenn die Zeit des Schlafens und der Alpträume drohend näherrückte, konnte er den Drang nicht mehr bezwingen. Bald brauchte er so viel Stoff für seine Sucht, dass er für einen Besuch bei Cynthias Familie in Florida die Rückbank seines Autos ausbauen musste, um Platz für den ganzen Schnaps zu schaffen, ohne den er nicht mehr auskam.
Er hatte sich zu einem Menschen entwickelt, der sich selbst fremd war.2 An einem Abend pflanzte er sich in einer Bar am Sunset Boulevard auf einen Hocker, trank den ganzen Abend, und als er sich schließlich erhob, war er sturzbetrunken. Hinter ihm ging ein Mann vorbei, der seiner Begleiterin half, an Louie vorbeizukommen. Louie drehte sich torkelnd um, streckte die Hand aus und grapschte nach dem Hintern der Frau. Das nächste, was Louie dann wieder mitbekam, war, dass er schwankend vor dem Lokal stand und sich auf einen Freund stützen musste. Sein Kiefer schmerzte höllisch, und sein Freund schimpfte lautstark auf ihn ein. Und langsam dämmerte ihm, dass er von dem Freund der Frau bewusstlos geschlagen worden war.
An einem anderen Abend ließ er Cynthia zu Hause zurück und ging mit zwei Freunden aus seiner Zeit als aktiver Sportler in ein Restaurant in Hollywood. Es war noch relativ früh, als Louie sich plötzlich nach nur einem Bier – zumindest war das seine Erinnerung – merkwürdig leicht fühlte. Er entschuldigte sich bei seinen Begleitern, er müsse kurz raus. Dann brach die Zeit in unzusammenhängende Stücke auseinander. Er saß in seinem Wagen, hatte aber keine Ahnung, wo er war und wie er dorthin gekommen war. Er kurvte orientierungslos durch die Straßen und landete in einer hügeligen Wohngegend mit großen Villen und breiten Vorgärten. In seinem Kopf drehte sich alles. Er hielt den Wagen an und stieg schwankend aus, um an einen Baum zu pinkeln.
Als er sich nach seinem Auto umdrehte, war es verschwunden. Er taumelte durch die neblige Dunkelheit um ihn herum und in seinem Inneren und suchte vergeblich nach irgendwelchen vertrauten Punkten, an denen er sich hätte orientieren können. Die ganze Nacht war er unterwegs, verängstigt, verloren und vergeblich um Klarheit ringend.
|421|Als die Morgendämmerung enthüllte, wo er sich befand, stellte er fest, dass er vor dem heimischen Wohnblock stand. Beim Öffnen der Wohnungstür kam ihm Cynthia entgegen, ganz außer sich vor Sorge. Er torkelte ins Bett. Als er aufwachte und sich anzog, konnte er sich an nichts mehr erinnern, was in der vorigen Nacht geschehen war, und wunderte sich nur, dass die Absätze seiner neuen Schuhe so abgelaufen waren. Er ging nach draußen und schaute sich nach seinem Auto um, doch das war verschwunden. Daher rief er bei der Polizei an und meldete es als gestohlen. Zwei Tage später bekam er einen Anruf von der Polizeistation; man teilte ihm mit, der Wagen sei im luxuriösen Villenviertel Hollywood Hills gefunden worden. Er begab sich zu der Fundstelle, und da kamen allmählich Erinnerungsfetzen an jene Nacht zurück, sie hatten die ätherisch-irreale Qualität eines Alptraums.
Cynthia flehte Louie inständig an, mit dem Trinken aufzuhören. Vergeblich.
Je tiefer Louie fiel, desto weniger konnte er es vor seiner Umwelt verheimlichen. Ric Applewhite stellte fest, dass Louie unter Waschzwang litt, ständig wusch er sich die Hände und scheuerte jedes Mal danach Waschbecken |422| und Armaturen sauber. Freunde versuchten, mit ihm über sein Alkoholproblem zu reden, doch er hörte nicht auf sie. Als Payton Jordan Louie traf, merkte er, dass es ihm nicht gut ging, aber Louie wollte nicht mit ihm darüber sprechen. Auch Pete machte sich Sorgen um Louie, wusste allerdings nur von seinen finanziellen Problemen. Er hatte keine Ahnung, dass Louie alkoholabhängig war oder wilde Pläne ausbrütete, einen Mann umzubringen.
Cynthia war verzweifelt über den Zustand ihres Mannes. Sein Benehmen in der Öffentlichkeit war beängstigend und peinlich. Daheim verhielt er sich ihr gegenüber häufig schroff und gereizt. Sie versuchte nach Kräften, ihn zu besänftigen, doch es half alles nichts. So bemalte sie etwa in der Hoffnung, ihm damit eine Freude zu machen, die tristen Küchenwände mit hübschen Weinranken- und Tiermotiven. Er bemerkte es gar nicht.
Cynthia, gekränkt und in Sorge, schaffte es nicht, Louie zur Vernunft zu bringen. Aus Kränkungen wurde Zorn, und zwischen ihr und Louie entbrannten erbitterte Streitereien. Sie gab ihm Ohrfeigen und warf Geschirr nach ihm; er packte sie so hart an, dass Blutergüsse zurückblieben. Einmal stellte er bei seiner Heimkehr fest, dass sie in einem Zimmer sämtliches Porzellan zerschlagen hatte. Während Cynthia auf der im Hafen ankernden Jacht eines Freundes während einer Party das Abendessen vorbereitete, machte Louie ihr gegenüber im Beisein der Freunde so abfällige Bemerkungen, dass sie das Schiff verließ. Er rannte hinter ihr her und packte sie im Genick. Sie schlug ihn ins Gesicht, da ließ er sie los. Cynthia flüchtete sich zu seinen Eltern, Louie ging allein nach Hause.
Irgendwann kam sie dann zurück, und die beiden rackerten gemeinsam weiter. Louie hatte kein Geld mehr, er musste einen Freund anhauen, der ihm 1000 Dollar lieh und dafür seinen Chevy als Pfand nahm. Als das Geld weg war, eine weitere Geldanlage sich zerschlug und die Rückzahlung fällig wurde, musste Louie die Autoschlüssel aushändigen.
In seiner Kindheit war Louie einmal auf dem Weg in die Schule gestolpert und auf einer langen Treppe hingefallen. Er war aufgestanden und gleich danach noch einmal gestolpert und hingefallen, und dasselbe hatte sich noch ein drittes Mal wiederholt. Danach war er überzeugt, dass Gott selbst ihn zu Fall gebracht hatte. Jetzt regte sich in ihm wieder der gleiche Gedanke. Er war sicher, dass Gott ein grausames Spiel mit ihm spielte. Wenn er im Radio jemanden predigen hörte, schaltete er ärgerlich ab, und er verbot Cynthia, in die Kirche zu gehen.
1948, im Frühjahr, eröffnete Cynthia Louie, dass sie schwanger war. |423|Louie war außer sich vor Freude, gleichzeitig aber bereitete ihm die Aussicht auf noch mehr Verantwortung verzweifelte Schuldgefühle. In London gewann im Sommer desselben Jahres der Schwede Henry Eriksson olympisches Gold über 1500 Meter. In Hollywood wurde es mit Louies Alkoholkonsum nur immer schlimmer.
Niemand drang zu Louie durch, denn er war nie wirklich nach Hause zurückgekehrt. Im Gefangenenlager war er in einen unmenschlichen Gehorsam gegenüber einer Weltordnung geprügelt worden, in der der Bird der unumschränkte Herrscher war, und unter dieser Weltordnung lebte er nach wie vor. Der Bird hatte ihn seiner Würde beraubt, hatte ihn erniedrigt, beschämt und ohnmächtig zurückgelassen, und Louie war sicher, dass es auch allein dem Bird gelingen werde, ihm seine Würde zurückzugeben, und zwar indem er, Louie, ihn eigenhändig quälte, eigenhändig erwürgte. Aus dem ehemals so hoffnungsfrohen Louie war ein Mann geworden, dem nur noch die Hoffnung auf Mord geblieben war.
Die Paradoxie der Rachsucht besteht darin, dass sie den Menschen von demjenigen abhängig macht, der ihm Unrecht zugefügt hat – der Rachsüchtige ist überzeugt, einzig dadurch Erlösung zu finden, dass er den Peiniger leiden lässt. Indem Louie darauf hinarbeitete, den Bird zu töten, um sich selbst zu befreien, kettete er sich nur ein weiteres Mal an den Tyrannen. Während des Krieges hatte der Bird alles darangesetzt, Louie nicht loszulassen; jetzt war Louie unfähig, den Bird loszulassen.
Gegen Ende des Jahres 1948 lag Louie eines Nachts im Bett, neben ihm Cynthia. Er tauchte in einen Traum ab, und der Bird baute sich über ihm auf. Der Gürtel sauste durch die Luft, Louie fühlte, wie die Schnalle gegen seinen Kopf krachte, fühlte den Schmerz wie einen Blitz in seine Schläfe einschlagen. Der Gürtel wirbelte, links, rechts, peitschte auf Louies Kopf ein. Louie erhob seine Hände zur Kehle des Bird, sie schlossen sich um seinen Hals. Jetzt war Louie über dem Bird, und die beiden droschen aufeinander ein.
Irgendjemand schrie – Louie? Der Bird? Louie kämpfte weiter, verbissen darum bemüht, alles Leben aus dem Bird herauszuquetschen. Und dann veränderte sich auf einmal alles. Louie, der über dem Bird kniete, schaute nach unten. Die Gestalt des Bird verschwamm.
Louie kauerte über Cynthia, es war ihr Hals, den seine Hände umklammerten. Aus ihrer zugeschnürten Kehle drangen erstickte Schreie. Louie war im Begriff, seine schwangere Frau zu erwürgen.
Er ließ entsetzt los und rückte von ihr ab. Sie zuckte zurück, rang nach Luft, weinte laut. Im Dunkeln saß er fassungslos neben ihr, sein Schlafanzug war schweißdurchtränkt. Zu schweren Stricken zusammengeknüllt lagen um ihn herum die Bettlaken.
Die kleine Cynthia Zamperini, kurz Cissy genannt, kam zwei Wochen nach Weihnachten zur Welt. Louie war so hingerissen von ihr, dass niemand außer ihm sie halten durfte; die Arbeit des Wickelns besorgte er ganz allein. Aber auch sie schaffte es nicht, ihn aus seiner Alkoholsucht oder seiner mörderischen Besessenheit zu befreien. Unter den verschärften Bedingungen von Stress und Schlafmangel, die ein Neugeborenes mit sich bringt, gingen Louies und Cynthias erbitterte Streitereien pausenlos weiter. Als Cynthias Mutter zu Besuch kam, um zu helfen, brach sie in Tränen aus, als sie den Zustand der Wohnung sah. Louie trank hemmungslos.
Eines Tages kam Cynthia nach Hause und traf Louie an, der eine brüllende Cissy gepackt hielt und heftig schüttelte. Mit einem Schrei riss sie ihm |425|das Baby weg. Louie, erschüttert über das, was er getan hatte, ließ sich ein ums andere Mal volllaufen. Und Cynthia hatte jetzt endgültig genug. Sie rief ihren Vater an, der ihr das für ihre Rückkehr nach Miami nötige Reisegeld schickte. Sie war fest entschlossen, die Scheidung einzureichen.
Cynthia packte ihre Sachen zusammen, nahm das Baby und verließ die Wohnung. Jetzt war Louie allein. Ihm blieb nur noch der Alkohol und sein Groll, die Emotion, die, wie Jean Améry es später formulieren sollte, »jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit nagelt«.3
Auf der anderen Seite der Welt saß Shizuka Watanabe an einem Herbstabend im Jahr 1948 im Erdgeschoss eines zweigeschossigen Restaurants in Tokios Shinjuku-Distrikt. Auf der Straße draußen wimmelte es von Menschen. Shizuka hatte ihren Blick auf die Eingangstür gerichtet und beobachtete die vorübereilenden Passanten.
Und plötzlich sah sie ihn.4 In der Tür, den Blick fest auf sie gerichtet, stand ihr toter Sohn.