Die Weihnachtsfeier der Abteilung zerfloss im schläfrigen Honiglicht der Kneipe zu einer zähen Masse ohne Anfang und Ende. Edamame, frittiertes Hähnchen, Omelette, Garnelenchips. Immer blieben die Anstandsbissen träge auf ihren Tellern liegen und über sie hinweg wurde sich an Studentenpartys erinnert, auf Kunden geschimpft, erzählt, was man für die Gesundheit tat, und endlos über das Essen geredet. Die Themen kamen und gingen, verstrickten sich und ertranken irgendwann im Alkohol und Zigarettenqualm.

Ich kratzte mich unauffällig am Bauch, den ich heute mit einem Schal ausstaffiert hatte. Seit der Heißhunger, den ich nach Ende der kritischen Phase verspürt hatte, wieder abgeklungen war und ich regelmäßig spazieren ging, hatte ich mein altes Gewicht fast zurück. Es war daher umso wichtiger, den Bauch weiterhin zu betonen. Wie viel ich mir unter die Kleidung stopfen musste, verriet mir die Schwangerschafts-App. Momentan hatte mein Fötus die Größe einer Mango. Ich hatte zu meinem alten Wollschal gegriffen – im Nachhinein eine Fehlentscheidung, denn die Kneipe war so stark beheizt, dass mein Bauch schwitzte und juckte.

»Wie bitte?«

Ich drehte mich zu ihm um. Uns trennte der Tisch, doch die Fingerabdrücke und weißen Schmutzflecken auf den Gläsern seiner Hornbrille konnte ich nur zu deutlich erkennen. Die anderen beiden, die sich mit uns den Tisch teilten, suchten gerade die Toilette auf und neben uns machte der Rest der Abteilung Lärm. Wir hatten keine große Tafel, geschweige denn den ganzen Raum reservieren können, da gegen Jahresende immer alles ausgebucht war. Man hatte uns also auf mehrere Vierer- und Sechsertische aufgeteilt. An einem davon, schräg gegenüber von uns, schien der Abteilungsleiter pausenlos Witze zu reißen. Jedes Mal brach lautes Gelächter los und es wurde artig Beifall geklatscht. Die Kollegen erinnerten mich an Aufziehaffen, die eifrig ihre Becken aneinanderschlugen.

»Ich sagte: Sie sind schwanger, Frau Shibata, oder?«, wiederholte Herr Tanaka seine Frage.

»Ja, das bin ich. Warum?«

»Weiblein oder Männlein? Nun sagen Sie schon!«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Ein Frauenzimmer, tippe ich. Ist nur so ein Gefühl.«

Frauenzimmer. Was fiel ihm ein, so über mein fiktives Kind zu sprechen? Fast hätte ich gesagt, Herr Higashinakano vermute aber, dass es ein Junge werde, doch ich hielt mich lieber zurück. Herr Higashinakano war nämlich nicht da, weil er sich als erster in der Firma die Grippe eingefangen hatte, die laut Flurfunk dieses Jahr noch gar nicht richtig

»Bei Ihnen kann ich mir einen Kerl einfach nicht vorstellen, Frau Shibata«, sagte Herr Tanaka jetzt. »Hey«, rief er dann der Kellnerin zu und bestellte nach langem Überlegen ein Bier.

Es wurden große Teller mit gebratenem Reis und ein kleiner leerer für jeden von uns hergebracht. Sofort ertönte aus allen Richtungen das Geklapper chinesischer Porzellanlöffel. Herr Tanaka starrte den Berg Reis eine Zeit lang stumm an. Als ich ihm etwas auf seinen kleinen Teller tat und ihm diesen reichte, quittierte er die Geste mit einem knappen »Danke« und schlang das Essen in sich hinein. Dabei kleckerte er etwas Reis auf den Tisch.

»Das hat wirklich keiner erwartet, Frau Shibata.«

»Was?«

»Na, ist doch so, oder? Völlig aus dem Nichts.«

Ich sah, wie die beiden Kollegen von unserem Tisch nacheinander von der Toilette zurückkamen und ein mir unbekannter Mann in die Richtung ging. Als die Tür geöffnet wurde, entdeckte ich an der Innenseite ein Werbeposter für Peace Boat – das Kreuzfahrtschiff einer NGO zur Förderung des Friedens.

»Darf ich Ihren Bauch mal anfassen?«, fragte Herr Tanaka plötzlich. »Nicht? Ha, ha! Ach, sorry, war doch nur ein Scherz.«

Reflexartig hatte ich die Arme vor meinem Bauch verschränkt, woraufhin er lachte, ohne dass ich mitlachte, und

»Ich meine ja nur, Sie und ein Kind, Frau Shibata.«

»Sehe ich so aus, als möge ich keine Kinder?«

»Um mögen geht es doch gar nicht.«

Herr Tanaka nahm einen Schluck von seinem Bier und kratzte sich am Bauch. Eines der Reiskörner an seiner Hand fiel zu Boden. Unsere Kollegen setzten sich zurück zu uns an den Tisch.

»Das kam doch völlig unerwartet, oder?«, fragte Herr Tanaka nach Zustimmung heischend. »Ich rede von Frau Shibatas Schwangerschaft.« Die beiden warfen sich einen kurzen Blick zu und lächelten unbehaglich. Einer von ihnen war unser jüngster Kollege, der andere war zwei, drei Jahre älter als ich. »Ja, eine Überraschung war es schon«, bemerkte der ältere. Der jüngere nickte zustimmend. »Mich hat es auch erstaunt«, meinte er. »Ich freue mich aber sehr für Sie. Glückwunsch noch einmal.« Er prostete mir zu und das Kondenswasser an seinem Glas tropfte auf den danebengefallenen Reis. Der ältere Kollege griff nach meiner Serviette und wischte damit über den Tisch, während ich wortlos an meinem Oolong-Tee nippte.

Eine Zeit lang beobachtete Herr Tanaka stumm die zwei Männer beim Essen, dann beugte er sich unvermittelt zu

»Dass Sie plötzlich schwanger werden, Frau Shibata … Nie hört man Sie vom Heiraten oder von irgendwelchen Männergeschichten reden und jetzt das. Sie sind also doch nicht die Unschuld vom Lande. Hätte ich nicht erwartet.«

Meine Serviette war vom Tisch gefallen, nachdem man sie als Putzlappen missbraucht hatte. Nun trat jemand im Vorbeigehen darauf. Plötzlich wurde es mir zu viel.

»Hätten Sie nicht erwartet, sagen Sie?« Meine Stimme bebte. »Kennen Sie mich denn so gut? Ich kenne Sie jedenfalls kaum, Herr Tanaka, und habe auch kein gesteigertes Interesse an Ihnen. Wollen Sie vielleicht bei der Geburt meines Kindes zusehen, um zu erkennen, dass es eine Welt außerhalb Ihrer Vorstellungskraft gibt? Dass es mein Kind gibt!«

Leider trug meine Stimme wohl nicht besonders gut, denn obwohl ich ziemlich laut geworden war, ignorierte mich Herr Tanaka und rief die Kellnerin herbei, als sei nichts gewesen. Ihre gebräunte Haut kam unter der weißen Uniform gut zur Geltung. Auf dem Schild an ihrer Brust stand ein Name, der offensichtlich nicht japanisch war. Herr Tanaka machte einen Scherz darüber, lachte selbst am lautesten und bestellte drei Whisky-Highballs und einen warmen Tee, der anscheinend für mich gedacht war. Als die Kellnerin kurz darauf die Getränke brachte, lächelte sie professionell und ließ sich, falls der Scherz sie gekränkt hatte, nichts anmerken. Am Nachbartisch wollte eine Unterhaltung über Klassentreffen einfach nicht enden.

»Wissen Sie, ob man den Zuschuss, der zur Geburt eines Kindes ausgezahlt wird, auch bekommt, wenn man nicht verheiratet ist?«

Ich stieß mehrmals kurz Luft aus, in der Hoffnung, es klänge vielleicht wie ein Lachen, was aber anscheinend nicht der Fall war. Meine Kollegen schwiegen. »Vermutlich schon«, setzte Herr Tanaka dann mit gesenkter Stimme an. »Fragen Sie doch mal im Personalbüro nach.« Gleich darauf begann die Rede des Abteilungsleiters: »Das Jahr ist noch nicht ganz zu Ende, aber ich bedanke mich schon einmal für Ihre gute Arbeit. Wir hatten mit hohen Materialkosten und dem Bankrott einiger langjähriger Kunden zu kämpfen, doch trotz der kritischen Lage in unserer Branche können wir stolz darauf sein, mit vollzähliger Belegschaft ins neue Jahr zu starten und …«

Jemand öffnete die Tür zur Toilette und ich sah wieder das Poster. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mich auf dieses Peace Boat.

Als wir die Kneipe verließen und sich die Runde langsam auflöste, verdrückte ich mich schnell in eine andere Richtung als diejenigen, die zur nächsten Bar weiterzogen. Auf

Dezembernächte in Ginza führten nirgendwohin. Menschen trieben wie Fischschwärme langsam die Straßen entlang, ihr Alkoholatem war schwer von längst erzählten Anekdoten und Gerüchten, auswegloser Unzufriedenheit, schamlosem Verlangen und endgültiger Versuchung. An einer Kreuzung blieb ich stehen und vergaß fast, dass es Nacht war, so dicht drängten sich die Menschen. Ich spürte ihre Gegenwart, die Wärme ihrer Körper und plötzlich sah ich alles vergrößert, wie durch die Linse einer Laterna Magica. Die Personen verschmolzen zu einer einzigen riesenhaften Gestalt, die meinen Geist mit ihrer rechten Hand sanft streichelte und mir mit der linken eine Ohrfeige verpasste. Mit einem Gefühl diffuser Offenbarung, wie sie nur Betrunkenen zuteilwurde, ließ ich mich von einer großen Weihnachtsbeleuchtung anziehen, schritt an glitzernden Geschenkpaketen und goldenen Teddybären vorbei und kam in einer menschenleeren Straße vor einem kleinen Gebäude zum Halt.

Das Haus war zwischen einen mit Markennamen übersäten Laden und eine alte, schiefe Pfandleihe gedrängt. Im

»Du hattest es bestimmt auch nicht leicht«, hörte ich mich sagen. »Bestimmt nicht. Erst wirst du ohne dein Zutun schwanger, dann bekommst du Besuch von einem Engel und wem nicht sonst noch alles, während dir sterbenselend zumute sein muss. Obwohl – eigentlich kann ich das gar nicht beurteilen, denn ich hatte noch nie Schwangerschaftsübelkeit. Du warst noch ziemlich jung, soweit ich weiß. Waren deine Angehörigen nicht total überrascht? Dachte dein Verlobter, der Hirte – oder war er ein Zimmermann? –, Josef hieß er jedenfalls … Dachte er nicht, du wärst einfach nur fremdgegangen? War er wütend? Tut mir leid, dass ich mich so schlecht mit deiner Geschichte auskenne.

Hör mal. Ich tue im Moment so, als wäre ich schwanger. Würdest du mir das übel nehmen? Bislang sind bei mir weder Engel noch Weise erschienen und ich habe nicht einmal meinen Eltern von dieser Sache erzählt. Meine Arbeitskollegen waren aber ziemlich von den Socken. Einer betont ständig, wie wenig er das von mir erwartet hätte, aber

 

Quietschen. Rattern. Autoreifen über Gullydeckel.

Ein Taxi preschte aus einer Seitenstraße direkt auf mich zu und der Fahrer machte keine Anstalten, die Geschwindigkeit zu drosseln. In letzter Sekunde taumelte ich zur Seite, wobei der Wagen ganz leicht den Saum meines Mantels streifte. Heftig zuckte ich zusammen, so stark, dass es mich selbst überraschte. Das Taxi fuhr unbeirrt weiter.

Nun war die Straße wieder leer. Aus einer Richtung hörte ich Stimmen und das immer lauter werdende Lachen mehrerer Personen. Bald tauchten die dazugehörigen Gesichter auf. Es waren etwa zehn Betrunkene, die torkelnd wie eine Schaukel auf mich zukamen. Sie trugen Partyhüte, deren rotgrüne Glitzerstreifen mich in der Dunkelheit wie ein Geheimcode anblinkten. Eine Frau mit langen Flamingobeinen führte die Meute an. Sie zeigte auf ein Reklameschild und grölte etwas, worauf der Rest in Gelächter ausbrach. Ich meinte, ihre Alkoholfahne schon aus der Entfernung riechen zu können. Einer von ihnen zerriss die Stille mit einem gellenden Pfiff.

Ich wollte weg, hatte keine Lust, irgendetwas hiermit zu tun zu haben, sah aber auch nicht ein, warum immer ich für andere Platz machen sollte. Ich wollte doch meine Unterhaltung mit der Frau im Fenster noch ein wenig fortführen.

Also wandte ich der Gruppe den Rücken zu, holte bewusst langsam mein Handy aus der Tasche und tat so, als wartete ich auf jemanden. Stocksteif stand ich da, den Blick gesenkt,

»Fröhliche Weihnachten!«

Es war die Flamingofrau. Sie sprach laut und als ich mich zu ihr umdrehte, sah sie mich direkt an. In ihren fast transparenten Pupillen spiegelte sich mein verdutztes Gesicht für eine Ewigkeit, wie es mir schien.

»Fröhliche Weihnachten!«, »Fröhliche Weihnachten!«, riefen nun auch die anderen. Der Trupp war eine bunte Mischung aus Jung und Alt, Männern und Frauen. Glückwünsche prasselten in der stillen Winternacht auf mich ein. Nicht lange und die Gruppe war am anderen Ende der Straße verschwunden. Zum Schluss drehte sich einer von ihnen noch einmal zu mir um, machte eine Bewegung, als streichele er sich über den Bauch, und klatschte stumm Applaus, als wolle er mich zu einer Zugabe ermutigen. Dann war die nächtliche Prozession vorübergezogen.

»Fröhliche Weihnachten«, flüsterte ich nun endlich auch in die Stille hinein. Erneut blickte ich zu der Maria im Fenster auf. Ihr Lächeln war unverändert.

»Als man dir sagte, du seist schwanger«, setzte ich wieder an, »war das bestimmt ein Schock für dich. Aber immerhin feiert man sogar heute noch die Geburt deines Sohnes. Ihr beide gebt vielen Menschen Kraft. Trotzdem stelle ich es mir anstrengend vor, immer nur ›als die Mutter von …‹ zu gelten. Du hattest doch bestimmt auch Hobbys, oder? Warst du in einen Star verknallt? Was hast du gemacht, wenn du dich

Mein Blick fiel auf mein weißes Spiegelbild im Schaufenster. Ich sah mich an, streckte meinen gewölbten Bauch heraus und flüsterte fast unhörbar: »Glückwunsch.«

Zum Abschied winkte ich der Frau im Fenster kurz zu und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Ich streckte den Rücken, öffnete meine Schultern und ließ kalte Nachtluft in meine Lungen strömen. Die alten Gebäude, der Asphalt, die Luft – alles leuchtete wie helle Sternbilder.

Hinter einer Allee aus Weiden lag versteckt der Eingang zur U-Bahn. Kurz lauschte ich noch dem Lärm der Menschen und Autos, der gedämpft von der Hauptstraße zu mir herüberdrang, dann stieg ich die menschenleere Treppe hinab.

Zu Hause trank ich ein alkoholfreies Bier und machte mir eine Nudelsuppe, zu der ich die Reste vom Vortag aß – gekochte Rettichstreifen und gedünstetes Geflügel. Die Häppchen in der Kneipe hatten mir nicht gereicht. Nach dem Essen trug ich in die Schwangerschafts-App ein, was ich heute verzehrt und wie viel ich mich bewegt hatte. Sportliche Betätigung: Zwei Stationen zu Fuß gegangen.

Mein allererster Eintrag in der Blaulichtbibel.