Als ich bei meinen Eltern ankam, holte ich meine Reisetasche ins Haus und stellte sie auf die Schwelle im Eingangsbereich. Dann lockerte ich meinen Schal, der beinahe mein ganzes Gesicht bedeckt hatte, und sank vor Schreck fast zu Boden. Von der dunklen Treppe, die in den ersten Stock führte, blickten mich unzählige weiße Gesichter an. Meine Mutter, die eine Schürze trug, streckte ihren Kopf aus der Tür zur Küche.

»Pass auf beim Hochgehen. Ich lüfte die Puppen.«

Es handelte sich um die traditionellen Puppen, die meine Eltern früher zum Mädchen- und Knabenfest für mich und meinen Bruder aufgestellt hatten. Auf jeder Stufe saß eine von ihnen und starrte auf den eiskalten Flur hinab. Ich stieg die alte Treppe nah an der Wand hinauf, damit ich die Figuren nicht mit dem Saum meines Mantels umstieß. Ganz oben saßen die weißgesichtigen Puppen von Kaiser und Kaiserin, daneben die Mai-Puppe in ihrer Rüstung und die drei Hofdamen. Mein Fuß stieß an etwas und als ich mich umdrehte, sah ich, dass eine Reihe alter Herren, deren Namen ich nicht kannte, nun doch umgefallen war. Ich stellte sie eilig zurück.

Die Formation der Puppen setzte sich bis in den ersten

Im Erdgeschoss war es eiskalt. Ich ging ins Wohnzimmer, wo ich meinen Vater erwartete, fand aber nur ein angefangenes Sudoku auf dem Sofatisch vor und einen fröhlich ins Leere plappernden Fernseher, den ich ausschaltete. Ich warf einen Blick ins angrenzende Gästezimmer, das den Anschein erweckte, als sei es lange nicht benutzt worden. Durch die Schiebetür trat ich dann wieder zurück auf den Flur, wo es so kalt war, dass mein Atem in weißen Wölkchen aufstieg. Am Ende des Gangs öffnete ich die Tür zur Küche und sofort schlug mir heißer Kochdunst und der würzige Duft von Sojasoße entgegen. Meine Mutter stand vor dem Gasherd und drehte sich zu mir um.

»Ich habe hier noch zu tun«, sagte sie. »Ich wollte nur sagen, wenn dein Vater aus dem Bad kommt, kannst du danach rein.«

Ich stibitzte einen der Kekse, die meine Eltern zum Ende des Jahres von Bekannten geschenkt bekommen hatten, zog mir die Kimonojacke meiner Mutter über und las das Lokalblatt, während ich darauf wartete, dass das Bad frei wurde. Eine Papierzeitung hatte ich schon lange nicht mehr in den Händen gehalten. Die Schrift schien seit dem letzten Mal eine Nummer größer geworden zu sein. Zwei Bewohnerinnen eines städtischen Altenheims hatten in der Nacht heimlich Reiskuchen gegessen und waren an der klebrigen Masse erstickt, las ich. Hätten sie sich nicht etwas anderes aussuchen können, fragte ich mich. Es war allgemein bekannt, dass jedes Jahr zu Silvester mehrere alte Menschen an dieser traditionellen Speise erstickten. Und das Unglück war sogar noch vor Silvester passiert. Gleichzeitig hatte ich auch ein wenig Verständnis. Ihnen musste die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr unerträglich trist vorgekommen sein. Die Jahre voranschreiten zu sehen, ohne eine Aufgabe im Leben zu haben, ohne sich auf etwas freuen zu können, fühlte sich vermutlich wie ein Traum ohne Erwachen an.

»Darf ich etwas von den eingelegten Tintenfischstreifen haben?«, fragte mein Vater, der aus dem Band zurückgekommen war.

»Nein, die sind für morgen, wenn alle beisammen sind. Außerdem hattest du nach dem Mittagessen schon Reiscracker. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat«, antwortete meine Mutter.

 

»Überleg, was du mit den alten Comics und den Klamotten machen willst, die noch bei uns herumliegen. Morgen kommen dein Bruder und Satomi«, sagte meine Mutter, als wir in der Küche mit dem Abendessen begonnen hatten.

»Aber doch bestimmt erst nachmittags, oder?«, fragte ich, nahm mir Fleisch und Gemüse und schöpfte dabei Schaum von der Oberfläche des Eintopfes. Meine Eltern schienen das Schilfbeet aus bitterem Eiweißschaum, das sich am Rand des Topfes gebildet hatte, nicht zu bemerken.

Mein Vater zappte durch die Kanäle, da er die Band, die bei dem Gesangswettbewerb Kohaku spielte, nicht zu kennen schien. Doch die Alternativen waren wohl noch weniger nach seinem Geschmack, denn am Ende kehrte er zu Kohaku zurück, der Sendung, die heute an Silvester der Großteil der Bevölkerung verfolgte. Er schenkte sich Bier nach, vom Fleisch schien er genug zu haben. Meine Mutter hatte den Eintopf kaum angerührt. Das befremdlich laute Läuten unserer alten Standuhr erklang, als eine mir

 

Nachdem mein Vater mit Snacks und Getränken vor den Fernseher im Wohnzimmer übergesiedelt war, aß meine Mutter endlich auch etwas von dem Eintopf.

»Wie lange bist du schon in deiner jetzigen Wohnung?«, fragte sie.

»Fast sechs Jahre.«

Meine Mutter zerteilte den Tofu geschickt mit ihren Stäbchen, während sie mich ausfragte. Sie schüttete massenweise Soja-Zitrus-Soße über ihr Essen und öffnete einen Shochu Highball aus der Dose. »Möchtest du auch einen Schluck?«, fragte sie. »Nein, danke«, gab ich zurück. Seit letzter Woche hatte ich keinen Alkohol mehr angerührt.

»Wie läuft es in der Firma?«

»So wie immer.«

Meine Mutter lehnte sich vor, um nach den Kochstäbchen zu greifen. Ihre Kopfhaut sah unter der Küchenlampe unheimlich weiß aus und es kam mir vor, als wäre ihr Haar dünner geworden. Zum nächsten Geburtstag sollte ich ihr ein gutes Shampoo schenken, dachte ich. Ich reichte ihr die Stäbchen und drehte den elektrischen Heizofen unter dem Tisch voll auf.

»Stimmt. Die meisten bleiben.«

»Bei deinem großen Bruder ist das ganz anders, weißt du. Er und Satomi hatten mit Hiroto schon alle Hände voll zu tun und seit letztem Jahr haben sie auch noch Haruna. Natürlich freuen wir uns, jetzt eine Enkeltochter zu haben, aber leicht ist es für die Eltern nicht. Hast du die Puppen gesehen? Das sind eure alten. Ich lüfte sie, um sie deinem Bruder morgen für die Kinder mitzugeben.«

Ich fragte mich, ob er schon von seinem Glück wusste. Mir kam der hellblaue Kombi in den Sinn, mit dem mein Bruder und seine Frau jedes Jahr aus der benachbarten Präfektur angereist kamen. Mein Neffe Hiroto saß immer mit einem Berg Kuscheltiere auf dem Rücksitz, und wenn es Zeit war, sich zu verabschieden, winkte er, bis wir außer Sichtweite waren.

»Heutzutage haben doch die wenigsten etwas über, und ein Kind großzuziehen kostet viel Zeit und Geld. Aber wenn man ein Kind haben will, dann besser früher als später«, fuhr meine Mutter fort.

Und Schwangerschaft ist auch kein Zuckerschlecken, dachte ich und nickte.

Meine Mutter beendete ihr Essen und lenkte das Thema auf den Hula-Tanzkurs, den sie im Bürgerzentrum besuchte. »Sieh mal«, sagte sie, legte ihr Besteck nieder und tanzte mir etwas vor. Sie war überraschend gut. Eine Frau aus dem Kurs habe ihr einen Schwarzwurzeltee empfohlen, erzählte

Als die Melodie erklang, die das Ende von Kohaku ankündigte, holte meine Mutter Eis aus der Truhe. Häagen-Dazs. Seit ich allein wohnte, hatte ich das kaum mehr gegessen.

»Kalt und süß«, schwärmte meine Mutter, während sie sich aus meinem Becher bediente. Ein ganzes schaffe sie nicht, meinte sie. Immer wenn sie den Peter-Rabbit-Löffel ableckte, blieb ein dünner Streifen pinkfarbener Eiscreme an der Außenseite hängen, und wenn sie lachte, blitzte in ihrem Mund eine silberne Krone auf. Abrupt stand meine Mutter auf und holte eine Zeitschrift. Ich dachte schon, sie wolle sie jetzt lesen, aber sie zeigte mir bloß, dass eine meiner ehemaligen Mitschülerinnen aus der Grundschule darin abgebildet war. »Du weißt schon, die Hübsche aus deiner Klasse«, erklärte sie, aber ich konnte mich kaum erinnern. Eine Zeit lang redete meine Mutter über das Mädchen und ich sah mir die Bilder an, dann stand sie auf, räumte den Tisch ab, putzte sich die Zähne und verschwand im Schlafzimmer, ohne den Jahreswechsel abzuwarten.

Ich trank Tee aus einer Snoopy-Tasse und löffelte die Reste des Eises, das schon am Schmelzen war, aus dem Becher. In beheizten Räumen schmeckte Eis besonders süß. Peter Rabbit, Snoopy, Doraemon, Hello Kitty. Wie Geister bewohnten die Figuren aus unserer Kindheit weiter dieses Haus, das mein Bruder und ich längst verlassen hatten.

Als ich fertig war, wusch ich Löffel und Tasse ab, machte das Licht in der Küche aus und trat auf den Flur. Feuchte, kalte Luft zog von den alten Dielen hinauf und meine

 

Mein ehemaliges Zimmer war zur Nähkammer meiner Mutter umfunktioniert worden und ich schlief stattdessen in dem Raum, wo normalerweise die Wäsche zum Trocknen hing. Während ich meinen nach Mottenkugeln riechenden Gästefuton ausbreitete, hörte ich aus einiger Entfernung Jubelrufe, die schnell wieder verstummten. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass das neue Jahr angebrochen war.

»Frohes neues Jahr«, sagte ich laut.

Sechster Monat: Es empfiehlt sich, das Baby regelmäßig anzusprechen.