Während der Winter langsam ausklang, konnte ich mich auf Amazon Prime für keinen Film mehr entscheiden. Nicht, dass es keinen mehr gegeben hätte, der mich interessierte, ganz im Gegenteil, es gab Tausende. Das Problem lag woanders.

Bis letzte Woche hatte ich mir fast täglich mindestens einen Film angesehen, anfangs solche, die ich zur Zeit ihres Erscheinens verpasst hatte, oder sogenannte Meisterwerke, die ich nur dem Namen nach kannte. Das hatte Spaß gemacht und mich vorübergehend beschäftigt. Grand Budapest Hotel, Any Day Now, Mein Onkel, Taro und Jiro in der Antarktis, Die fabelhafte Welt der Amélie. Als mir die Ideen ausgegangen waren, hatte ich mich durch »Diese Filme könnten Ihnen auch gefallen« geklickt. Unendlich viele Geschichten hatten sich vor meinen Augen abgespielt. Mal versuchte jemand, in einem kalten Land einen Imbiss zu eröffnen, mal kümmerte sich ein Auftragskiller nebenbei um ein kleines Mädchen, mal passierten einem Jungen allerlei seltsame Dinge, während er allein das Haus hütete. Was genau das alles war, entfiel mir schon bald, nachdem ich den Film gesehen hatte.

Mit der Zeit hatte ich mich von Amazon Prime regelrecht dazu genötigt gefühlt, täglich Auskunft darüber zu geben, was ich denn diesmal sehen wollte, weshalb ich letzte Woche stattdessen den Fernseher eingeschaltet hatte. Doch auch die Sendungen über Imbisse, für die man stundenlang Schlange stand, um eine hausgemachte Krokette zu ergattern, und die Quiz-Shows, in denen Prominente mit übertriebener Mimik Fragen beantworteten, fühlten sich wie alte Socken an, die auf der Straße gelandet und restlos platt getreten worden waren. Von den Nachrichtensendungen mit langen Monologen irgendwelcher Kommentatorinnen und Kritikerinnen hatte ich auch schnell genug gehabt, weshalb der Fernseher heute aus blieb.

Durch die dünne Wand meiner Wohnung hörte ich kaum vernehmbar meine Nachbarn reden. Kurz schwoll eine der

Bis zum Herbst letzten Jahres hatte eine Studentin neben mir gewohnt. Sie hatte ihr Haar immer gekonnt zurechtgemacht und sogar einen einfachen Pferdeschwanz unheimlich hübsch aussehen lassen. Manchmal war ich ihr zusammen mit einem jungen Mann auf dem Gang begegnet, wahrscheinlich ihrem Freund, und jedes Mal wurde ich nett gegrüßt. Die Frau, die vor einiger Zeit die Tür zur Nachbarwohnung aufgeschlossen hatte, war etwas älter als ich und hatte ein Gesicht wie eine Ameisenbärin. Es war ganz bestimmt nicht die Studentin von vorher.

Da ich von Filmen und Fernsehen genug hatte, war ich diese Woche noch häufiger zum Maternitybics gegangen. Zusätzlich zu dienstags und donnerstags hatte ich auch die Kurse am Montag und Mittwoch besucht und am Sonntag würde ich wieder hingehen. Ich war also fast täglich dort. Zum Glück zahlte ich einen Festbetrag.

An Werktagen waren die Gruppen klein und es wurde kaum geredet, sodass ich mich voll und ganz auf Stretching, Choreographie und Übungen konzentrieren konnte. Wenn die jeweilige Trainerin mit durchdringender Stimme rief: »Diese Muskeln hier anspannen! Geeenau! Wenn ihr das Kind herauspresst, nutzt ihr auch diesen Bereich!«, lenkte ich mein Bewusstsein auf die Bauch- und Beinmuskeln. Im Spiegel sah ich, dass ich meine Arme höher in die Luft riss als alle anderen. Später in der Umkleidekabine zog ich mir die vor Schweiß triefende Sportkleidung aus und trank

An Wochenenden verlief der Kurs vollkommen anders. Schon vor Beginn wurde lebhaft geredet und auch wenn das Geplapper während der Übungen kurzzeitig verstummte, ging es spätestens nach der Abkühlphase mit einem »Ich dachte, ich müsse sterben« wieder los. Man grüßte sich immer, zumindest taten das alle außer der Frau im neonblauen T-Shirt. Zum Schluss ging es plappernd in die Umkleidekabine und man konnte sich darauf verlassen, dass immer jemand fragen würde: »Ihr kommt aber noch mit in die Lounge, oder?«

Als ich mich an diesem Sonntag dem Tisch näherte, rückte Löckchen sofort auf, um mir Platz zu machen.

»Hallo Shibi.«

Letzte Woche hatte Hosono gesagt: »Du hast schöne Hände, Shibi.« Seitdem hieß ich in dieser Runde Shibi. Ich fragte mich, wann ich das letzte Mal einen neuen Spitznamen bekommen hatte.

Heute erkundigte sich Hosono bei Chiharu, was sie unbedingt mit ins Krankenhaus nehmen müsse, denn sie wolle langsam ihre Sachen packen.

»Auf jeden Fall Socken. Die Krankenhauszimmer können ganz schön kalt sein und man friert so leicht in den Hausschuhen. Dicke, flauschige Socken und Kompressionsstrümpfe würde ich dringend empfehlen.«

In der Mitte des Tisches lagen wieder Küchlein von Gachiko, diesmal waren es Mini-Castella. Zu Hause beschwerte sich ihr Mann, sie würde zu viel essen, erzählte sie uns

»Dabei isst und trinkt er selbst so viel. Und ich gehe abends nicht einmal mehr aus.«

»Deiner kümmert sich wenigstens, Gachiko. Mein Mann interessiert sich nicht mal für die Vorsorgeuntersuchungen. Er denkt wohl, ein Baby flutsche einfach so heraus. Deshalb habe ich mir das hier gekauft«, sagte Hoyalein.

Sie holte etwas aus ihrem Marimekko-Rucksack und Chiharu, die bis dahin ins Gespräch mit Hosono vertieft gewesen war, sprang sofort darauf an.

»Ach, wirklich? Du hast dir eins gekauft?«

»Ja, ich wollte, dass mein Mann es endlich auch hört. Im Moment ist es leider noch kaum wahrnehmbar.«

Das rosa Gerät sah aus wie ein Stethoskop, nein, es war ein Stethoskop.

»Wofür ist das?«, fragte ich unbedarft. Im ersten Moment hatte ich an etwas Obszönes gedacht.

»Das ist ein Stethoskop. Hast du noch nie eins benutzt, Shibi? Man kann damit den Herzschlag des Fötus hören, total toll. Vielleicht sollte ich mir auch eins besorgen.«

»Wofür denn, Chiharu? Dein Mann kommt doch zu den Untersuchungen mit«, sagte Hoyalein.

»Für mich selbst. Zu wissen, dass das Herz schlägt, ist beruhigend. Es ersetzt keine Ärztin, aber wenn man nachts nicht schlafen kann, gibt es einem sicher Kraft. Außerdem würde ich die Zwillinge gern den Herzschlag ihres Bruders hören lassen.«

»Willst du es mal ausprobieren?«

Chiharu nahm Hoyalein das Stethoskop ab, rollte den Pullover hoch und legte das Kopfstück an ihren Bauch. Die älteren Männer am Nachbartisch sahen zu uns herüber, woran sich Chiharu nicht störte.

»Hörst du es?«, fragte Hoyalein.

»Moment. Ah, ja! Ich höre es!«

Danach ging es der Reihe nach.

»Ich höre keinen Ton«, beschwerte sich Gachiko. »Weiter unten«, erklärte Chiharu und setzte das Stethoskop für sie an. Unsere Seite des Tisches unterhielt sich derweil über Geburtsvorbereitungskurse. Ich hörte Löckchen zu, wie sie über ihren Mann klagte, der bei einem Schwangerschaftsworkshop etwas Beleidigendes zu einer anderen Teilnehmerin gesagt hatte. Dann kam das Stethoskop zu uns. Hosono wollte es ausprobieren und rollte bereits ihren dünnen, hellblauen Pullover hoch. Ihr stattlicher Bauch ließ keinen Raum für Zweifel, dass sich darin ein Kind befand.

»Hmm, ist es dieses Geräusch?«, fragte Hosono.

»Man hört ziemlich genau, dass es ein Herzschlag ist«, antwortete Chiharu.

»Dann muss es irgendetwas anderes sein. Shibi, kannst du mir mal helfen?«

Um besser zu hören, wollte Hosono sich beide Ohren zuhalten, also drückte sie mir das Stethoskop in die Hand. Ich wusste nicht, wo ich es ansetzen sollte, also ließ ich es nach und nach über ihren Bauch wandern. Als ich das Stethoskop entgegengenommen hatte, waren Hosonos Hände

»Hey! Ich höre es!«

Hosonos freudige Stimme hallte durch die Lounge, als meine rechte Hand ganz leicht ihren Bauch streifte. Obwohl ich sie sofort wieder wegzog, blieb das Gefühl der heißen, glatten Haut an meinen Fingern haften. Die Gewissheit, dass dort drinnen etwas erdrückend Wirkliches lebte, erschütterte mich bis ins Mark.

»Ich höre wirklich den Herzschlag! Er ist viel schneller als bei einer Erwachsenen. Du solltest das auch mal probieren, Shibi«, sagte Hosono euphorisch, während sie den Pullover wieder über ihren Bauch zog. »Ein andermal«, erwiderte ich schwach. Mehr brachte ich nicht heraus.

 

Am nächsten Tag wurde ich gleich nach Ankunft in der Firma vom Abteilungsleiter herbeigeordert. Es gab ein Problem mit dem Rohpapier, das vorige Woche in der Fabrik eingetroffen war. Ich rief sofort bei unserem Zulieferer an und fand heraus, dass der Fehler dort passiert war. Nachdem ich um eine Neulieferung gebeten und aufgelegt hatte, bemerkte ich, dass mich Herr Higashinakano besorgt ansah. Er roch wie immer nach Kleber.

»Alles in Ordnung, Frau Shibata?«

»Was soll in Ordnung sein?«

»Oh, Verzeihung, aber die Sache mit dem Rohpapier scheint sehr nervenaufreibend zu sein und Sie wirken ohnehin etwas blass.«

»Danke, aber es ist nichts.«

Wieder starrte mich Herr Higashinakano an. Als ich aufgelegt hatte, funkelte ich böse zurück. »Verzeihung, Verzeihung«, stammelte er und wandte sich seinem Bildschirm zu.