Kapitel 11

LOVA

 

Ich war ehrlich überwältigt, als meine Väter und Marla plötzlich bei Hedda aufkreuzten. Doch gleichzeitig warf ich so erleichtert. Ich hatte solche Angst, es Papa und Dad zu erzählen, wer wusste schon, wie sie reagieren würden. Warum ich auch nur eine Sekunde dachte, dass meine Väter meine Sorge nicht ernst nehmen würden, wusste ich nicht. Das war wohl die irrationale Seite meines Gehirns, die dort sprach. Doch ich war auch froh, dass ich es ihnen nicht erzählen musste, sondern Marla dies für mich getan hatte. In ihren Armen zu sein war, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen. Und es fühlte sich gut an. Ich wusste - tief in meinem Herzen - dass ich immer auf meine Väter zählen konnte, und sie jederzeit für mich da waren.

Der Abend hatte mich dennoch auch wirklich fertig gemacht. Ich war wie ausgelaugt. Die Treppen hinauf in die erste Etage und zu dem Gästezimmer, welches gerade meines war, schaffte ich es nur mit großer Mühe. Zum Glück hatte ich Marla an meiner Seite, die mir half. Oh man. Marla. Sie endlich wieder hier zu haben, war auch etwas besonderes. Dadurch, dass die Städte nicht weit voneinander entfernt waren, würde man denken, wir schafften es häufiger, uns zu sehen. Aber dem war leider nicht so. Gott sei dank gab es Facetime. Glücklich und geschafft lagen wir wenig später im Bett, die Gesichter zueinander.

“Du hast mir gefehlt,” flüsterte sie. “Du mir auch,” seufzte ich. “Ich hoffe ich habe dir bereits gesagt, wie dankbar ich dir bin. Und dass du jetzt hier bist…,” Ich schüttelte immer noch etwas fassungslos den Kopf, “kann es immer noch nicht glauben.” Marla gab mir ein schwaches Lächeln.

“Für dich doch immer. Tut mir leid, dass ich nicht eher mal hier war. Aber es ist einfach nur so viel zu tun und dann mit Robins Dienstplan…” Sie zuckte entschuldigend die Schultern. Doch ich konnte ihr nicht böse sein.

“Schon ok. Ich verstehe das. Ich hätte auch zu dir fahren können. Doch irgendwie hat es nie so recht gepasst.” Wir grinsten uns an. Erleichtert, dass wir auf einer Wellenlänge waren.

“Wie geht es dir wirklich?”, fragte Marla in die Stille. Ich holte tief Luft und ließ sie dann langsam entgleiten. Ja, wie fühlte ich wirklich? Es war alles so viel, besonders in den letzten Tagen. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich bereits genügend Zeit hatte, dies alles zu verdauen.

“Schwer zu sagen, ehrlich gesagt. Es war doch ziemlich viel auf einmal. Eine ganze Weile dachte ich, ich müsste damit alleine klar kommen. Und dann immer diese Angst. Ich kann es nicht mal beschreiben. Doch sie nahm mich ein, wie nichts anderes. Ich traute mich nicht mal richtig aus dem Haus. Zum Glück hatte ich Viktor. Dennoch. Es war … heftig. Und die ganze Zeit habe ich mir eingeredet, dass es niemand weiter wissen wollte. Dass es lächerlich war, dass ich solch eine Panik hatte. Nachdem ich es zumindest auch dir anvertraut hatte, fühlte ich mich etwas besser.” Ich biss mir auf die Unterlippe, während ich über meine nächsten Worte nachdachte. Marlas Augen lagen gebannt auf mir, die Sorge darin unverkennbar. “Danke,” wisperte ich schließlich und sah sie direkt an. Ich schluckte schwer. “Alleine habe ich es nicht über mich gebracht es Hedda zu erzählen. Ich hatte mir irgendwie eingeredet, dass sie mich auslachen würde. Oder mich als kleines hilfebedürftige Kind sieht.” Ich schüttelte den Kopf erneut. Laut ausgesprochen klingen einige Dinge doch wirklich dumm. Und so viel anders, als in seinem Kopf. Marlas Lippen umspielte ein Lächeln.

“Das habe ich doch gerne gemacht. Ich wusste Hedda war die Richtige für die Situation. Zudem ihr euch so nah gekommen seid in den letzten Jahren.” Warum auch immer, aber bei ihren Worten musste ich schwer schlucken. Irgendwie klangen sie… ich konnte es nicht beschreiben. Ja, Hedda und ich waren uns nah. Sehr sogar. Näher als ich den meisten war. Doch was bedeutete es? Und wollte Marla mir damit etwas sagen? Oder interpretierte ich hier einfach schon wieder zu viel hinein? “Sie ist nicht dein Ersatz oder so…”, begann ich schwach mich zu verteidigen. Doch weiter kam ich nicht, Marla schüttelte vehement ihren Kopf.

“So meinte ich es auch gar nicht. Nur weiß ich, dass sie dir eine sehr gute Freundin geworden ist und ich wusste niemand anderen, der sich so um dich kümmern würde, wenn es dir schlecht geht, wie sie es tut. Und ich bin ihr auch sehr dankbar, dass sie dich zu ihr geholt hat. Denn du solltest jetzt wirklich nicht in deiner Wohnung sein, wenn dieser Psycho weiß, wo du wohnst.” Schwach nickte ich. Sie hatte vermutlich recht. Marla griff nach meiner Hand zwischen uns und drückte sie sanft.

“Sie tut dir gut. Das sieht man.” Stirnrunzelnd sah ich zu meiner besten Freundin. Ihre Augen funkelten, und etwas lag in ihnen, das ich nicht zu deuten vermochte. Doch ich war auch viel zu müde dafür. Marla lehnte sich rüber, küsste meine Stirn und wünschte mir dann eine gute Nacht. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich dies erwidert hatte. So schwer waren meine Lider und ich war froh, als der Schlaf mich einnahm und für einen Moment alles andere vergessen ließ.

 

“Endlich habe ich dich. Endlich bist du mein. Mein allein,” säuselte die tiefe, kratzige Stimme über mir. Doch ich konnte mich nicht regen. Alles an mir war erstarrt. Meine Hände gefesselt ans Bett. Das Klebeband an meinem Mund fing an zu jucken und brennen. Mein Kopf schmerzte, als hätte ich mich irgendwo schwer gestoßen. Mein Puls ging immer schneller, die Augen feucht. Ein unangenehmer Geruch stieß mir in die Nase und ich wollte mich nur übergeben. Doch stattdessen musste ich die Säure wieder runterschlucken. Eine viel zu raue Hand streifte mein Gesicht, griff in mein Haar und zog mich ein Stück hoch. Die Nase vergrub er in meiner Halsbeuge und atmete tief ein. Ein Schauer lief mir den Rücken entlang, als ich seinen Atem spürte. “Du riechst so unglaublich,” säuselte er weiter. Ich schloss die Augen in der Hoffnung, diesem Alptraum zu entgehen. Doch dies war mir nicht vergönnt. Mit seiner anderen Hand griff er nach meiner Hüfte und zog sie zu sich heran. In kreisenden Bewegungen rieb er seinen Unterleib an mir. Es fühlte sich so falsch an. Falsch und fremd. Alles, was ich wollte, war hier schreiend wegzurennen. Mich stundenlang zu duschen, um sein Geruch und seine Berührungen wegzubekommen. Ein Schluchzen konnte ich nicht unterdrücken. Es rang aus meiner Kehle, gedämpft durch das Tape.

“Oh mein süßer Engel. Du musst nicht weinen, gleich wirst du sehen, wie wundervoll wir zusammen sind!” Nein!, schrie alles in mir. Ich wand mich unter ihm, doch er verstärkte nur seinen Griff und ließ nicht von mir ab. Die Tränen bahnten sich ihren Weg und tränkten das Kissen unter mir. Mein Flehen blieb unerhört.

 

Mit einem Schrei schreckte ich hoch. Mein Puls raste. Panisch sah ich mich um, verwirrt wo ich hier war. Mit meiner rechten Hand griff ich nach meinem linken Handgelenk. Nichts. Keine Fessel, keine Handschellen. Schweißgebadet saß ich da und versuchte, mir bewusst zu machen, dass es nur ein Traum war. Ein Alptraum. Aber dennoch nicht Realität. Nur der Gedanke an den gesichtslosen Mann, der über mir lag und meine Hilflosigkeit ließen mich zittern. Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und stellte überrascht fest, dass es tränennass war. Eine Hand auf meinen Rücken ließ mich erneut zusammenfahren.

“Ssch, Lo. Ich bins, Marla. Was hast du?” kratzig vom Schlaf erinnerte mich Marlas Stimme an jene aus meinem Traum. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle, welches ich nicht kontrollieren konnte. Oh man. Ich war doch ein hilfloses Fall.

“Lo, ist gut. Niemand kann dir hier was tun. Du bist in Sicherheit.” Marla zog mich sanft an sich heran und ich ließ es geschehen. Sanft streichelte sie mein Haar. Doch immer wieder kamen die Bilder zurück. Es hatte sich so verdammt real angefühlt. Mir wurde wieder schlecht. Schnell sprang ich aus dem Bett. Mit wackeligen Beinen bahnte ich mir den Weg ins Badezimmer. Dort ließ ich mich vor dem Klo auf meine Knie fallen - die Schmerzen würde ich am nächsten Tag ordentlich spüren - und konnte gerade noch die Brille hoch machen, bevor ich meinen gesamten Mageninhalt dort hinein leerte. Die nächste Hand an meinem Gesicht ließ mich nicht zusammenschrecken. Dennoch schaute ich ängstlich zur Seite. Heddas tiefbraunen Augen sprachen voll Sorge. Ich schloss die Augen. Konnte nicht ertragen, dass ich dafür verantwortlich war. Niemanden wollte ich Kummer bereiten. Sollte ich doch vernünftig werden. Doch dieser Traum. Es hatte mich selber überrascht, mit welcher Heftigkeit ich reagiert hatte.

“Lo, Liebling, alles gut. Lass es raus,” Heddas Stimme war klar und nah bei mir. Sie erdete mich auf eine Art, wie nur sie es vollbrachte.

“Ein Alptraum,” vernahm ich Marlas Stimme. Nun weniger kratzig. Und viel mehr die melodische, die ich gewohnt war. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Ich lehnte mich zurück, sicher, dass mein Magen leer war und nichts weiter raus wollte. Jedoch wagte ich es nicht, eine der beiden anzusehen. Ich hoffte nur, dass ich niemand sonst geweckt hatte. Die Situation war schon peinlich genug.

“Tut mir leid,” hauchte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Hedda reichte mir stumm ein Glas Wasser und ich nahm es dankend an.

“Ist ok, Lova. Wirklich. Magst du drüber reden?”, versuchte Hedda mich zu beruhigen. Marla hatte sich neben uns gesetzt und sah mich erwartungsvoll an. Wollte ich das? Nein. Nein, im Moment auf jeden Fall nicht. Zu groß die Scham und Irritation über diesen Traum. Daher schüttelte ich den Kopf und wandte mich von beiden ab. Ohne ein weiteres Wort nahmen mich beide in den Arm und ich versuchte, dies zu genießen. Ihre Wärme, Nähe, diese Geborgenheit. Hier war ich sicher. Das wusste ich. Jetzt musste es nur noch mein Kopf raffen.

“Komm, du musst noch etwas schlafen,” meinte Hedda nach einer Weile. Gemeinsam halfen wir uns dabei aufzustehen. “Danke. Und tut mir leid.” Meine Kehle wie zugeschnürt. Marla und Hedda winkten ab. Zusammen brachten sie mich wieder ins Bett. Marla nahm mich fest in den Arm. Auch Hedda blieb noch einen Moment und streichelte meinen Kopf. Zu gerne hätte ich es gehabt, dass sie bei mir blieb. Doch dies konnte ich nicht verlangen, oder? Daher schwieg ich. Eine Stimme in meinem Kopf fragte mich, warum es mir nicht genügte, dass Marla mich tröstete, und für mich da war. Allerdings war ich zu müde, um wirklich darüber nachzudenken, was dies bedeutete.