Die Dunkelheit ist nicht das größte Problem. Mit ihr habe ich gerechnet. Das Problem sind die Wellen.
Seit ich die Küstenzone verlassen habe, seit die östliche Kanalströmung mich in sich aufgenommen hat und wie einen kleinen unbeleuchteten Satelliten langsam in Richtung Westen trägt, sind die Wellen unerwartet stark. Sie kommen von links, von rechts, von hinten. Manchmal aus allen Richtungen zugleich. Ich spüre, wie sie mich von unten hochheben, meinen Körper aus der Horizontalen hebeln und mich schräg nach vorne aus der Bahn werfen, mal zur einen Seite, mal zur anderen.
Korrigieren, denke ich zwischen zwei Atemzügen. Ich muss viel zu oft meine Richtung korrigieren.
Zum millionsten Mal drehe ich den Kopf unter der Achsel aus dem Wasser und inhaliere Luft – da schlägt eine Welle quer über mein Gesicht. Salzgeschmack tief im Rachen. Ich huste und spucke, ziehe krampfhaft Luft in meine Kehle und drehe mich für ein paar Sekunden auf den Rücken, um meinen Sauerstoffhaushalt zu regulieren.
So hatte ich das nicht geplant.
Über mir spannt sich ein schwarzer, sternenloser Himmel. Vom Festland ist nichts zu sehen. Hinter einem Wellenkamm blitzt das Topplicht am Mast der Sea Satin auf, des Fischerbootes, das mich begleitet. Joshua, Papa und Captain Mike müssen dort irgendwo stehen und in die Schwärze hinter der Reling starren. Ich sehe ihre angespannten Gesichter förmlich vor mir.
Aber hier im Wasser bin ich alleine.
Wieder hole ich Luft, schließe die Lippen und rotiere meinen Körper zurück auf den Bauch.
Unter mir gähnt die schwarze Unendlichkeit. Ein kaltes, gleichgültiges Universum, durch das sich Arme und Beine seit etwa drei Stunden einen Weg pflügen. Meine Arme scheinen in der Dunkelheit bei jedem Schlag unter Wasser, als wären sie aus Wachs.
Um mich zu sammeln, gehe ich in Gedanken meinen Körper durch, von den Füßen bis zum Kopf. Meine Zehen sind taub vor Kälte, so weit alles normal. Meine Beine schlagen im gewohnten Rhythmus, sind aber erschöpfter, als sie sein sollten. Das Gleiche mit Rumpf und Rücken. Die ständige Reaktion auf die Wellen kostet Kraft, die mein Körper zum Vorwärtskommen bräuchte. Und mir ist übel.
Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ablenkung. Ja, Ablenkung ist gut. Zum Beispiel Schmerzen. Habe ich welche? Ein paar Züge lang scanne ich die Signale, die meine Nervenenden an mein Gehirn senden. Da: im Nacken, in den Achseln, zwischen den Beinen. Wo seit Stunden Haut über Haut scheuert, brennt es. Die Vaseline ist längst abgewaschen.
Das Salzwasser nagt an mir.
Links, rechts, links. Atmen. Den Rhythmus kennt mein Körper im Schlaf. Rechts, links, rechts. Atmen.
Im Wasser bin ich auf Autopilot. Ich habe ihn in Millionen Zügen programmiert, seit ich ein Kind war. In zehntausend Stunden im Becken zu Hause in Marburg, auf Wettbewerben und internationalen Meisterschaften. Aber jetzt, um vier Uhr morgens im eiskalten Wasser, kommt mir eine grässliche Erkenntnis.
Für den Ärmelkanal ist das alles so gut wie nutzlos.
Im Becken gibt es keine Wellen. Keine unerwarteten Brecher, die dich von hinten treffen und dir beim Luftholen die Kehle volllaufen lassen. Im Becken wirst du nicht seekrank, auch nach sechs Stunden nicht. Im offenen Wasser aber gelten Regeln, die ich bisher noch nicht kenne.
Eine davon habe ich inzwischen verstanden: Mein Kopf ist das Problem. Ich halte ihn zu tief. Er müsste beim Luftholen viel weiter durch die Wasseroberfläche brechen, wie ein Schnorchel. Ich überlege fieberhaft, wie viel Kraft es mich kosten würde, die 32 Kilometer bis zur französischen Küste mit einer anderen Technik zu schwimmen. Da hebt mich ein Wellenberg seitlich hoch und wirft mich schräg nach vorne. Ich übergebe mich ins Meer.
Ich bin nicht abergläubisch, aber die Gräber vor dem Hotelfenster hätten mir zu denken geben sollen. Seit einer Woche übernachte ich in einem hellgrün gestrichenen Zimmer mit fleckigem Teppichboden, das direkt auf einen Friedhof blickt. Das kleine englische Hotel mit dem engen Treppenhaus liegt neben einer uralten Feldsteinkirche – und jeden Morgen, wenn ich die Vorhänge öffne, um mein Training zu beginnen, begrüßen mich ein paar Hundert Grabsteine, moosig und schief vom nassen Westwind. Wie viele der hier begrabenen Toten sind wohl im Ärmelkanal ertrunken? Tolle Gedanken, um sich morgens so richtig in Stimmung zu bringen. Ich hätte natürlich am liebsten direkt wieder ausgecheckt. Aber das »Marquis of Granby« ist das letzte Hotel, das mitten im August freie Zimmer hat.
Die Küstenstadt Dover ist berühmt für zwei Sachen: ihre weißen Klippen, die man bei gutem Wetter sogar von Frankreich aus als silbernen Streifen am Horizont erkennt. Und die Kanalüberquerung. Jeden Sommer zieht die Hafenstadt Schwimmer und Draufgänger aus der ganzen Welt an. Genau hier liegen sich das europäische Festland und die Insel Großbritannien am nächsten, 34 Kilometer.
Deshalb ist hier der einzige Ort, an dem man zu einer bestimmten Zeit im Jahr, zwischen Juni und Oktober, die legendärste und berüchtigste Herausforderung für Schwimmer überhaupt versuchen darf. Die Kanalüberquerung. Pro Jahr dürfen etwa 300 Channel Swimmers den Versuch starten. Sie sind streng ausgewählt und mussten sich teils Jahre vorher für einen Slot anmelden. Jeder startet für sich, an einem exakt festgelegten Zeitpunkt vom Shakespeare Beach, dem Strand direkt neben dem Hafen von Dover. Jeder wartet auf die ideale Verbindung aus wenig Wellengang, richtiger Strömung und Windstille. Und ich? Bin zum ersten Mal dabei und wäre auch ohne den morgendlichen Blick auf den Friedhof ganz schön aufgeregt.
Am Morgen nach der Anreise lernen meine Schwimmerkollegen und ich uns kennen. Joshua, mein Trainer, Papa und ich fahren morgens um acht im Nebel runter zum Hafen. Hier treffen sich diejenigen, die einen Slot ergattert haben, um in diesem Sommer die Überquerung zu wagen. Auf dem Parkplatz neben der Hafenmauer, die hundert Meter ins Wasser ragt, ist der Treffpunkt. Hier kommen jeden Morgen zwischen Juli und September die Schwimmer zusammen, die sich auf die Herausforderung vorbereiten.
Sie tragen Joggingklamotten, bequeme Schuhe und trinken dampfenden Tee aus Thermosbechern. Zehn Männer zwischen 30 und Mitte 50 und zwei Frauen. Alle sind gebräunt und breitschultrig wie die meisten Schwimmer, mit denen ich seit meiner frühen Kindheit so gut wie meine gesamte Freizeit verbringe.
Aber etwas ist anders. Sehr anders.
Kurz bin ich irritiert, dann wird mir klar: Es sind die Proportionen. Die Schwimmer auf diesem Parkplatz sind nicht sehnig und feingliedrig wie die meisten Beckenschwimmer. Ihre Oberkörper sind breit, aber nicht auf eine athletische, stromlinienförmige Art. Eher wie Whiskyfässer. Sogar ihre Gesichter wirken rund, wie aufgepumpt, mit roten Bäckchen. Ich habe in den letzten Monaten oft davon gehört, aber jetzt sehe ich es zum ersten Mal mit eigenen Augen: Channel Fat. Der Überlebenstrick der Kanalschwimmer.
Statt Wasserwiderstand zu reduzieren, um im Becken schneller vorwärtszukommen, essen sich Freiwasserschwimmer absichtlich Körperfett an. Das Fett ist lebenswichtig, es dient als Energiereserve und vor allem als Schutz gegen die Kälte. Das Wasser im Ärmelkanal hat im Hochsommer 15 Grad. Das ist eiskalt, Menschen sind von Natur aus nicht dafür gemacht, darin länger als ein paar Minuten auszuhalten. Im Grunde sind Kanalschwimmer menschliche Robben.
Es ist völlig klar: Ich bin zu dünn. Dabei habe ich mich monatelang mit Joshua auf die Überquerung vorbereitet. Auf Mallorca habe ich mich über Wochen hinweg an kaltes Wasser gewöhnt, in täglichen Runden vor der Küste Palmas. Erst im dicken Neoprenanzug, dann im dünneren, schließlich nur im Badeanzug. Wer den Kanal überqueren will, muss nachweisen, dass er oder sie sechs Stunden bei 15 Grad im Meer schwimmen kann. Und zwar ohne Neo, so wollen es die Regeln und die Tradition im Ärmelkanal.
Der erste Mensch, der ihn lebendig durchschwamm, hatte nämlich ebenfalls keinen Anzug – so etwas war damals noch nicht erfunden. Dieser erste erfolgreiche Kanalschwimmer war im Jahr 1875 ein englischer Seemann namens Captain Matthew Webb. Nachdem er gehört hatte, dass ein anderer Engländer vergeblich versucht hatte, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, kündigte er seinen Job bei der Handelsmarine und fing an zu trainieren. Zwei Jahre später schmierte er sich von oben bis unten mit Schweinswalfett ein und schwamm in Dover los, begleitet von drei Ruderbooten. Er brauchte knapp 22 Stunden, bis er in Frankreich an Land kroch, weil er Strömung und Seegang falsch berechnet hatte.
Seine Durchquerung machte ihn schlagartig weltberühmt. Captain Webb ist bis heute der Held aller Freiwasserschwimmer, der Sir Edmund Hillary des Meeres. Seinetwegen also sind Neoprenanzüge verboten, darfst du nichts am Körper haben als Badeanzug, Kappe und Schwimmbrille, seinetwegen packen sich Schwimmer schon Monate vorher kiloweise Channel Fat auf die Rippen, um nicht zu erfrieren.
Matthew Webb ertrank übrigens ein paar Jahre später. Er hatte versucht, die Stromschnellen unter den Niagarafällen zu durchschwimmen.
Es ist zum Glück nicht alles verboten, was die Tortur etwas weniger unangenehm macht. Was zum Beispiel erlaubt ist: kurze Pausen mit Getränken und Snacks. Diese darf man jedoch nur zu sich nehmen, wenn man dabei das Boot nicht berührt. Deshalb werfen die Teambegleiter den Schwimmern Flaschen zu, die an Seilen befestigt sind, an denen man sie nach der Pause wieder zurück an Bord ziehen kann. Sogar der heilige Captain Webb hatte sich seinerzeit unterwegs gestärkt, und zwar mit der damals offenbar in England üblichen Sportlernahrung: Bier, Brandy und Rinderbrühe.
Joshua und ich gehen es etwas zeitgemäßer an und kaufen im örtlichen Supermarkt einen Vorrat aus Toast, Tomatensuppe und Cola. Und dann schlagen wir Zeit tot, eine ganze Woche. Meine Tage unterteilen sich in Training, Essen und Warten. Morgens schwimme ich zwei Stunden mit den anderen an der Hafenmauer entlang, um mich an die Wassertemperatur zu gewöhnen. Jeden Morgen aufs Neue komme ich schlotternd und mit taubgefrorenen Händen und Füßen zurück an Land.
Dann kommt gegen Mittag das Wetter-Update des Kapitäns. Captain Mike ist einer von 18 Kapitänen, die Kanalschwimmer bei ihrer irrwitzigen Herausforderung begleiten. Es geht im Ärmelkanal fast zu wie auf dem Mount Everest – das Schwimmen ist ein Business geworden.
Mike ist ein Mann mit fußballrundem Kopf, einem drahtigen grauen Bart und Händen wie aus Treibholz. Er überwacht rund um die Uhr akribisch die Strömungs- und Wellenvorhersage, sucht nach Löchern in den Sturmfronten der Nordsee, die groß genug sind, um seine Schützlinge hindurchzuleiten. Aber wir haben Pech. Sieben Tage lang peitscht der Südwind so energisch Regen an die englische Küste, dass man als Schwimmer kaum aus dem Hafenbecken herauskäme. Das Friedhofzimmer und ich verbringen mehr Zeit miteinander, als mir lieb ist.
Andererseits ist es mir nicht unrecht, meinem Körper etwas mehr Zeit zu geben, bevor es drauf ankommt – bevor ich meine größte schwimmerische Herausforderung wagen kann. Die Kanalüberquerung ist mein Lebenstraum.
Fast wäre ich gar nicht gekommen. Noch vier Wochen vor meinem Slot hatte ich eine Mandelentzündung, die ich mit Antibiotika niedergekämpft habe, um irgendwie noch fit für Dover zu werden. Und obwohl ich im Training schon wieder die volle Leistung bringe, tut jeder Tag Ruhe gut. Meine Abwehrkräfte sind noch deutlich geschwächt.
Und dann ist es so weit. Ein Tag mit spürbar weniger Wind. Auf dem Weg zum Hafen bewegt sich in den Baumkronen kein Blatt. Kleine weiße Wolken scheinen bewegungslos am Himmel zu stehen, als würde sich das Wetter kurz ausruhen, um nach den sieben Tagen Sturm neue Kraft zu sammeln.
Mittags nach dem Schwimmen summt mein Handy in der Hosentasche: »Wind und Strömung sehen gut aus. Haltet euch bereit.« Ich schwebe den Rest des Tages auf einer kribbelnden Wolke aus Adrenalin. Sobald meine Gedanken kurz woanders sind und ich mich erinnere, was mir nun vielleicht unmittelbar bevorsteht, durchfährt mich ein Schauer aus Angst und Vorfreude. Papa motiviert mich und redet mir gut zu: »Du schaffst das locker! Wenn es überhaupt jemand schafft, dann du!« Papa begleitet mich seit meiner frühen Kindheit zu all meinen Schwimmen. In schwierigen Momenten ist er meine Stütze, mein Motivator und größter Fan.
Aber heute meine ich, in seiner Stimme eine leichte Nervosität zu hören, die ich so noch nicht kenne.
Um sieben Uhr abends sitze ich angespannt im Hotel und schüttle mit Joshua die Kohlensäure aus vier Zweiliter-Colaflaschen. Ein Ritual, das wir vor jedem langen Schwimmen vollziehen: Cola gibt mir mit seinem Zuckergehalt viel Energie, und es beruhigt meinen Magen. Aber Getränke mit Sprudel sind Gift für Schwimmer, im Wasser kann die Luft im Magen wegen der horizontalen Lage nicht entweichen. Also schütteln, Deckel aufdrehen, Deckel zudrehen, schütteln. Ansonsten schweigen wir. Joshua weiß, dass mich jedes Gespräch jetzt noch nervöser machen würde.
Sss-Sssssss. Mein Handy auf dem Nachttisch vibriert. SMS von Mike. »Es geht los. Treffpunkt zwei Uhr morgens am Hafen.«
Ich esse zwei große Teller Nudeln mit Butter, meine liebste Kraftnahrung vor langen Schwimmstrecken. Kohlenhydrate und Fett, genau das braucht mein Körper. Dann gehen Joshua und ich ein letztes Mal die Reihenfolge durch, in der ich in den Pausen unterwegs Essen und Trinken bekomme. Erst das Energie-Gel, dann Tomatensuppe, dann Tee. Nur auf Wunsch Toastbrot, gegen die Seekrankheit. Ich schreibe das ganze Menü auf einen Zettel, der bei Papa und Joshua bleibt.
Das sind immer besondere Momente für mich: im Hotelzimmer zu sitzen, zum letzten Mal auf festem Boden, und alles durchgehen, was am nächsten Tag passieren kann. Ich schlafe besser, wenn ich weiß, dass ich alles getan habe, was man vorab tun kann. Stück für Stück fülle ich unsere großen Sporttaschen mit den Dingen, die mich am nächsten Tag am Leben halten werden.
Warme Cola ohne Kohlensäure.
Tomatensuppe ohne Salz.
Schlabbriges Toastbrot ohne Rand.
Gezuckerter Schwarztee.
Pappsüßes Gel aus der Plastiktube.
Was für ein Menü. In jeder anderen Situation würde es mich sofort zum Würgen bringen. Aber ich weiß, dass mir diese Dinge, wenn ich sie mir später im Wasser zwischen die vor Kälte tauben, salzverkrusteten Lippen schiebe, alles bedeuten werden.
Die Momente, in denen Freiwasserschwimmer etwas trinken oder essen dürfen – im Abstand von mindestens 30 Minuten – nennt man Feedings. Fütterung, wie bei den Orcas in amerikanischen Freizeitparks. Diese Momente sind meine einzigen zeitlichen Orientierungspunkte im Wasser. Und spätestens ab Stunde drei die einzigen Lichtblicke, auf die ich mental hinarbeite.
Durchhalten. Noch 2400 Schwimmzüge, dann krieg ich wieder Toast und ein paar Schlucke warme Cola!
Als alles besprochen ist, lädt Joshua die Taschen ins Auto. Und ich gehe schlafen. Was zwar gut klingt, aber letztlich eine Lüge ist, die ich mir selbst erzähle. Du kannst so gut trainiert sein, wie du willst – dein Körper spürt, wenn er in wenigen Stunden eine Aufgabe bewältigen soll, bei der er sterben könnte und an der vier von fünf Menschen scheitern. Das Letzte, was er dir erlaubt, ist zu schlafen.
Zehn Stunden. So lange schwimme ich inzwischen. Grobe Schätzung. Ich habe keine Uhr an. Aber die Sonne steht jetzt senkrecht. Der Wind hat aufgefrischt. Hat Captain Mike sich im Wetterbericht geirrt? Es ist eisig. Vom Boot weht die Stimme Captain Mikes herüber.
»Do you want to be a Channel swimmer or not?«
Er brüllt diesen Satz nun schon seit Stunden. Als würde er mich damit irgendwie motivieren. Dabei klingt er eher hämisch, als hätte er es mir ja gleich gesagt: Aus dir, junges Mädchen, wird bestimmt keine Kanalschwimmerin!
Meine Zähne klappern. Die Wellen sind jetzt grau. Und nicht größer, aber chaotischer als in der Nacht. Beim Feeding komme ich kaum zur Flasche mit Schwarztee, die Joshua mir zugeworfen hat. Ich sehe, wie er versucht, die Sorge in seinem Gesicht zu verbergen. Ich mache es genauso und zeige ihm den hochgereckten Daumen. Ich will ihm keine Angst machen.
Wir wissen beide: Eigentlich müssten wir am Ufer schon gelben Sand erkennen. Aber Frankreich ist immer noch eine zarte bläuliche Linie. Sie hüpft am Horizont herum, wenn ich es schaffe, den Kopf mal kurz über einen Wellenkamm zu heben.
Meine Lunge fühlt sich an, als hätte ich brennenden Alkohol inhaliert. Mein Rhythmus ist kaputt. Ich bin außer Atem. Als wäre ich gerade zehn Stockwerke hochgesprintet, um direkt im Anschluss 50 Klimmzüge zu machen. Dazu kommt, dass mein Mund nach verbranntem Diesel schmeckt. Der Auspuff der Sea Satin leitet die Motorabgase nach unten ins Wasser – und ich schwimme offenbar genau dort, wo sie wieder nach oben blubbern. Muss das Boot so nah sein? Egal. Weiter.
Die Luft reicht mir nicht mehr für drei Züge. Nicht mal mehr für zwei.
Links, atmen. Rechts, atmen.
Es geht nicht anders. Ich habe das Gefühl, auf der Stelle zu schwimmen.
Links.
Atmen.
Rechts.
Atm-
Da schwappt mir eine Welle übers Gesicht. Mir wird ganz heiß in der Brust. Ich schaufle mit den Armen weiter, Autopilot. Aber auch mein Gehirn ist plötzlich ganz warm. Ich denke an Captain Matthew Webb, eingeschmiert in Schweinswalfett, vor den Niagarafällen, in der Hand ein Glas Brandy. Dann an Berge. Den Mount Everest. Sir Edmund Hillary. Ich sehe tote Bergsteiger, die man kurz vor dem Gipfelanstieg findet. Erfroren, aber im T-Shirt.
Das Hirn, habe ich gelesen, spiegelt dem unterkühlten Körper im letzten Moment vor dem Tod auf einmal vor, ihm sei ganz warm. So ziehen sich Menschen tatsächlich die Klamotten aus und erfrieren, 8000 Meter über dem Meer, in dem Glauben, ihnen sei warm.
Was für ein freundlicher Schubser der Natur in Richtung Erlösung, denke ich. Dann versinke ich in einem Sumpf aus Gleichgültigkeit. Ich komme erst wieder zu mir, als man mich aufs Boot gezogen hat. Eingewickelt in Handtücher und am ganzen Körper zitternd, liege ich unter Deck auf einem Sofa in der Kajüte. Die Sea Satin peitscht Vollgas zurück in Richtung Dover, wo der Rettungswagen schon mit Blaulicht und laufendem Motor wartet.