Ich bin fünf und mir ist langweilig. Der Strand vor dem Hotel ist in sechs lange Reihen Sonnenliegen aufgeteilt. Wenn Nicola und ich um die Wette rennen, vom Wasser bis zu den Palmen an der Terrasse, bin ich meist schneller. Wenn wir unten an der Wasserlinie mit matschigem Sand Burgen bauen, hat meine oft die höheren Türme mit schön hingetropften Spitzen und die stabileren Mauern. Ein Wettkampf folgt auf den nächsten: Wir hüpfen auf einem Bein, schlagen Räder oder ziehen eine Linie in den Sand, um zu schauen, wer weiter springt.
Ich liebe Wettbewerbe. Aber mit Nicola sind sie manchmal etwas langweilig. Kein Wunder: Ich bin anderthalb Jahre älter. Nicola ist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. Niemand versteht mich so wie sie, niemand bewundert mich mehr. Wenn ich eine Idee habe, was wir als Nächstes spielen können, ist sie begeistert. Und selbst wenn ich dann schneller laufe, weiter springe oder höher klettere, ist sie nie enttäuscht, sondern guckt mich jedes Mal mit ihren riesigen leuchtenden Augen an und klatscht in die Hände. Ich liebe meine kleine Schwester. Wäre sie doch nur schon genauso groß und schnell wie ich!
Wir sind im Urlaub, in dieser Stadt mit dem komischen Namen. Hier stehen überall sehr hohe, moderne Häuser direkt am Meer. Es ist eine Stadt, in der die Männer bodenlange weiße Kleider tragen und karierte Tücher auf dem Kopf, was ich nicht verstehe, weil sie doch den ganzen Tag in Badehosen am Strand spielen könnten, wie wir. Ich verstehe hier vieles nicht. Aber ich mag Dubai trotzdem.
Wir sind jetzt drei Tage hier. Ich werde morgens von alleine wach, weil ich nicht erwarten kann, zurück ans Meer zu kommen. Am dritten Morgen, während Nicola noch schläft und Papa und Mama nebenan im Bett liegen, ziehe ich meinen Badeanzug an und schleiche mich aus dem Zimmer. Ich habe mir extra gemerkt, wie der Weg zum Strand ist, den Gang mit dem Teppichboden nach rechts rauf, eine Treppe runter, rechts durch die Halle mit dem schwarzen spiegelnden Steinboden und durch die Glastür. Diesen Weg gehe ich alleine, ohne Mama und Papa, um nachzusehen, wie es unseren Burgen geht. Und dann ganz allein zu baden. Ich schiebe die Glastür auf und renne los, über die Terrasse, in Richtung der Palmen, sehe das türkise Wasser schon vor mir – da greift Papa mich an der Hand, er schnauft ganz doll und sagt mir, dass ich das bitte nie wieder machen soll.
Ans Wasser gehen immer nur mit Papa, hörst du?
Ja, höre ich natürlich. Dabei bin ich doch groß, zumindest größer als Nicola. Und überhaupt, was soll ich denn jetzt tun, wo wir schon alles gespielt haben und ich jedesmal gewonnen habe?
Die wenigen anderen Kinder im Hotel sind älter als wir oder blöd. Am ersten Tag haben wir versucht, mit zwei tiefgebräunten Brüdern aus Schweden Kontakt aufzunehmen. Sie schauten sich unsere ehrgeizigen Sandburgen an, bauten dann daneben ihre eigene, ziemlich schlampig. Die trampelten sie dann lachend kaputt, bevor sie auch nur annähernd so groß war wie meine. Völlig bescheuert. An Tag zwei haben wir Fangen gespielt mit einem größeren deutschen Mädchen und seinem Bruder, der so alt war wie ich. Aber der stolperte irgendwann und schlug sich auf der Terrasse ein Knie auf, seitdem haben wir sie nicht mehr gesehen. Ansonsten ist noch ein älterer Junge mit seinen Eltern hier, der sitzt die meiste Zeit auf dem Liegestuhl und spielt Gameboy. Alle halbe Stunde steht er auf, streckt sich, rennt ins Wasser und schwimmt bis raus an die Leine mit den kleinen gelben Bojen. Diese auf und ab hüpfende gelbe Leine grenzt den Schwimmerbereich unseres Hotels vom offenen Meer ab.
Niemand in meiner Familie schwimmt. Also, das stimmt nicht wirklich. Alle können schwimmen. Aber jedes Mal im Urlaub liegen Mama, Papa, Oma und Opa lieber im Liegestuhl und lesen oder reden oder telefonieren. Papa hat mir vor ein paar Monaten in einem Kinderbecken in Marburg beigebracht, wie ich mich über Wasser halte: Ich muss mit den Beinen »Frosch« machen, mit den Armen »Hampelmann«. Ich kann mich also ein paar Züge lang über Wasser halten, vier, fünf Meter weit, vom Beckenrand zu Papa und wieder zurück. Das ist mehr als Nicola, die immer noch Schwimmflügel braucht. Und ehrlich gesagt habe ich auch niemanden in meiner Familie jemals weiter schwimmen sehen als vier, fünf Meter am Stück.
Wie gesagt, wir sind keine Schwimmer.
Aber während ich mich am Strand zwischen den Liegestühlen langweile, wächst meine Neugier auf das, was da rechts hinter den Palmen schimmert. Ein Pool. Aber kein rundes Kinderbecken wie das, in dem mir Papa die Froschtechnik gezeigt hat. Sondern ein riesiger, rechteckiger Pool mit tiefem, dunkelblauem Wasser. Lange Leinen mit kleinen roten Bojen unterteilen das Becken längs in schmale Bahnen. Der Pool gehört zu einem Fitnessclub, der ihn sich mit dem Hotel teilt. Und dort herrscht eine komplett andere Stimmung als hier am Strand. Keine Kinder, die Burgen zertrampeln oder schreien, weil sie aufs Knie gefallen sind. Dort sind nur Jugendliche und Erwachsene mit Badekappen und Schwimmbrillen. Sie machen Kopfsprünge ins Wasser und ziehen dann stundenlang ihre Bahnen, hin und zurück, ohne zu sprechen, wie märchenhafte Wesen, halb Mensch, halb Fisch. Jeder in einem eigenen Rhythmus und mit eleganten Bewegungen, die so gar nicht nach Frosch oder Hampelmann aussehen.
Ein kleiner, drahtiger Mann mit weißem Polohemd und dichtem schwarzen Haar schreitet den Beckenrand ab, lässig, aber konzentriert. Gelegentlich pustet er in eine rote Trillerpfeife, die ihm um den Hals baumelt. Dann geht er neben dem Becken in die Hocke und wechselt mit einem der Schwimmer ein paar Worte. Die Schwimmer nicken dann und setzen ihre Bahnen fort, meist noch ein bisschen eleganter als zuvor. Wenn die Schwimmer aus dem Wasser steigen, nicken sie dem Mann im Polohemd zu, als würden sie sich bedanken wollen. Nachmittags, wenn der Letzte den Pool verlassen hat, räumt der Mann im Polohemd in aller Ruhe die weißen Plastikliegen zu einem akkuraten Stapel und schiebt mit einem Abzieher das verspritzte Wasser zurück ins Schwimmbad.
Ich bin fasziniert. Und glaube, ich habe soeben das Gegengift für meine Langeweile gefunden.
Papa ist sofort dabei, wie immer. An seiner Hand gehe ich Richtung Schwimmbecken. Der Mann im Polohemd begrüßt ihn und zwinkert mir lächelnd zu. Die beiden sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Der Mann nickt, strahlt, zeigt mir den hochgestreckten Daumen. Dann geht Papa in die Hocke zu mir und erklärt: Der Mann heißt Ramesh und ist ganz nett. Er zeigt mir gerne, wie man im großen Becken schwimmt.
Es beginnt damit, dass Ramesh mir eine Badekappe und eine Schwimmbrille gibt. Ich fühle mich schon fast wie eines der Fisch-Mensch-Mischwesen. Dann gehen wir an das flache Ende des Beckens, wo Ramesh mit ins Wasser steigt – er kann hier stehen. Er gibt er mir ein Styroporbrett, das meinen Oberkörper über Wasser hält. Ich zeige ihm, wie gut ich die Froschbewegung kann. Mit dem Brett flitze ich nur so durch das flache Becken. Ramesh nickt zufrieden und lächelt. Dann nimmt er das Brett an sich und lässt mich aus dem Becken klettern. Er zeigt mir, dass ich etwas machen soll, das ich mich bis jetzt noch nie ohne Papa getraut habe: vom Rand springen. Und zwar nicht in seine Arme, sondern einfach ins Wasser. Ich gucke rüber zu Papa, der auf einer Liege sitzt und interessiert guckt. Dann zurück zu Ramesh. Irgendetwas an der Selbstverständlichkeit, mit der er mir seine Anweisungen gibt, nimmt mir jede Furcht. Ich springe ins Wasser, tauche mit dem Kopf unter, sehe das himmelblaue Wasser klar durch die Brille, mache Frosch und Hampelmann und durchbreche die Oberfläche. Wie Ramesh gesagt hat: Ich kann das. Ich muss lachen.
Noch mal. Und noch mal. Ramesh zeigt mir, dass ich mir nicht die Nase zuhalten muss, um kein brennendes Chlorwasser einzuatmen. Es reicht, unter Wasser langsam Luft durch die Nase zu pusten, um sie frei zu halten. Und er hat recht! Dann lässt er mich im Wasser auf den Rücken legen, ganz ohne Bewegung, ohne Schwimmbrett. Erst halten mich seine Hände – dann nimmt er sie weg. Und tatsächlich: Die Luft in der Lunge wirkt wie eine der gelben Bojen drüben im Meer. Wenn ich tief atme und Arme und Beine ruhig von mir strecke, treibe ich oben.
Das Wasser ist mein Freund. Es trägt mich, wenn ich ihm vertraue. Wenn ich nicht versuche, es zu kontrollieren. Das Wasser ist etwas, gegen das ich nicht gewinnen kann, gewinnen muss, wie meine kleine Schwester. Aber es hilft mir, wenn ich es nur lasse.
Ich habe schon immer mehr Energie als alle anderen. Zu Hause in Marburg bin ich permanent draußen. Ich renne durch den Garten, springe auf einem Bein, baue Höhlen im Wald, klettere auf Bäume. Meine Eltern geben sich Mühe, meine Energie in Bahnen zu lenken. Sie melden mich an zum Kinderballett. Zum Tennis. Zum Klavierunterricht. Ich mache mit, tanze ein paar Pirouetten, schlage ein paar Bälle, spiele die ersten Takte des Flohwalzers. Aber dann verliere ich die Lust.
Was mir Spaß macht, sind Herausforderungen, die ich mir selber suche. Die nicht schon irgendwer vorher festgelegt und aufgeschrieben hat. Und ich finde sie, fast überall wo ich hinschaue.
Ein Osterbrunch in Marburg. Meine Eltern sind mit uns in einem Restaurant mit riesigem Garten. Das Lokal ist österlich dekoriert, auf den Fensterbrettern liegen kleine Nester mit bemalten Deko-Eiern, auf jedem Tisch sitzen kleine geschnitzte Hasen aus Holz. Für die jungen Gäste haben die Kellnerinnen Eier und Schokohasen im Garten versteckt. Vor dem Essen bekommen Nicola und ich jeweils ein Körbchen, dann stürmen wir los, vorbei an anderen Kindern, die erst mal vorsichtig den Garten mustern. Wir wissen, ohne es auszusprechen: Wir haben eine Mission.
Zwanzig Minuten später kommen wir zurück zum Tisch der Erwachsenen, außer Puste und mit Blättern in den zerzausten Haaren. Die anderen Kinder sitzen längst wieder an ihren Tischen, essen Schokoeier und gucken uns an wie zwei Außerirdische.
»Schau, Papa, was wir alles gefunden haben!«
»Na toll, da wart ihr aber fleißig!«
Aber Papa guckt dabei etwas … verhalten. Freut er sich nicht für uns? Wir lassen ihn unsere Fundstücke zählen, denn natürlich müssen wir wissen, wer gewonnen hat. Ich habe 32 Eier und neun Hasen gefunden, Nicola 24 Eier und sieben Hasen. Was für eine Ausbeute! Der Osterhase muss stolz auf uns sein. Vor Freude hüpfen wir um den Tisch und liegen uns in den Armen. Dann erst folge ich Papas Blick rüber zum Nachbartisch, in Richtung der Körbchen der anderen Kinder.
Darin liegen jeweils drei, vier Eier.
Auf unserem Tisch türmen sich derweil nicht nur Berge an Schokolade, sondern auch das gesamte Sortiment an Deko-Eiern und Holzhasen.
Tag zwei mit Ramesh. Weil ich den ganzen letzten Nachmittag von nichts anderem geredet habe, hat Papa die Schwimmstunde direkt auf den Vormittag gelegt. Vermutlich hofft er, dass ich mich so wenigstens nicht wieder morgens alleine an den Strand schleiche. Heute lässt er uns alleine.
Mein neuer Mentor lässt mich ins Wasser springen, dann gibt er mir wieder das Brett zum Festhalten. Aber heute ist es vorbei mit der Froschbewegung. Er zeigt mir, dass wir etwas Neues probieren. Die Beine bleiben eng aneinander und knicken abwechselnd an den Knien ab. Die Füße bewegen sich wie Flossen bei Tauchern. Nur viel schneller. Fast so schnell wie bei den großen Schwimmern im Becken. Die neue Beintechnik gefällt mir allein schon deshalb, weil damit das Wasser überallhin spritzt. Aber ich bemerke noch etwas. Das Schwimmbrett, auf dem mein halber Oberkörper liegt, bewegt sich erstaunlich schnell vorwärts. Und zwar nicht stoßweise, wie mit der Froschtechnik, sondern konstant, als hätte ich an meinen Füßen einen kleinen Motor aktiviert. Mit breitem Grinsen steuere ich das Brett mit diesem Motor in die Mitte des Pools, dann auf die andere Seite. Ich lache vor Freude.
Ich war das! Ohne fremde Hilfe!
Ramesh gibt mir ein High Five.
Als die Stunde vorbei ist und Papa mich abholen kommt, bleibe ich einfach im Wasser. Niemand wird mich hier rausholen. Ramesh macht keine Anstalten, mich zu vertreiben, er bleibt am Rand hocken und schaut mir zu, wie ich mit dem Beinschlag immer weiter durchs Wasser pflüge, hin, her, hin, her. Erst als Papa das Mittagessen erwähnt, erkläre ich mich bereit, mein neues Element zu verlassen, zumindest ganz kurz. Nach dem Essen falle ich in den tiefsten Mittagsschlaf seit Langem.
Der Strand sieht mich kaum noch. Täglich übe ich mit Ramesh mehrere Stunden. Manchmal stutzt er, wenn ich nach zwei Stunden im Pool, mit verschrumpelten Fingern und blau gefrorenen Lippen, rufe, dass ich weitermachen will, mehr lernen, mehr üben.
Und dann macht er weiter.
Nach den Beinen sind die Armbewegungen dran. Das hier ist kein Kinderschwimmen mehr, es ist Training. Ich lerne Kraulen. Und zwar im Zeitraffer. Ich war noch nie von irgendetwas so begeistert. Im Wasser gibt es keine Noten, nach denen ich spielen muss. Keine Musik, zu der ich tanzen soll, keine Holzhasen, die ich aus irgendeinem Grund nicht einsammeln darf.
Hier gibt es nur die Regeln der Natur. Du bleibst oben, oder du gehst unter. Du machst dich auf der Wasseroberfläche lang, schlägst deine Beine in einer Flossenbewegung, während deine Hände das Wasser nach hinten wegschaufeln – und dein Körper schraubt sich nach vorne. Es ist meine Entscheidung, Ramesh zeigt mir nur, was möglich ist. Meine Lernkurve ist senkrecht.
Am dritten Tag sind wir bei einer Bewegung, die ich besonders elegant finde, wenn ein erwachsener Schwimmer sie am Ende des Beckens macht: die Rollwende. Ein Purzelbaum unter Wasser, aus dem der Schwimmer in die entgegengesetzte Richtung wieder herausschießt! Ich fühle mich wie eine Meerjungfrau.
Abends zeige ich alles Papa und Mama. Sie applaudieren, auch wenn ich merke, dass sie sich ungläubige Blicke zuwerfen. Wahrscheinlich fragen sie sich gerade, ob es eine gute Idee war, ihr Kind in die Hände eines Bademeisters zu geben, der sich offenbar in den Kopf gesetzt hat, eine Fünfjährige direkt für Olympia zu qualifizieren …
Andererseits hatten die beiden schon länger nicht mehr so viel Zeit für sich. Der Schwimmunterricht bindet so viel meiner Energie, dass ich jeden Tag freiwillig eine volle Stunde Mittagsschlaf mache und abends noch vor Nicola ins Bett gehe. Und abgesehen davon grinse ich vor Glück, während ich immer wieder die Rollwende vorführe. Ramesh steht etwas abseits und stemmt schweigend die Hände in die Hüfte. Er sieht stolz aus.
Das Schwimmbad gehört nun mir. Jeder Rettungsschwimmer, jede Kellnerin, jeder Hotelangestellte kennt mich, den blonden Zwerg im Badeanzug, immer nass, mit verschrumpelten Händen, der seine Badekappe und Brille nur zum Essen auszieht. Selbst die älteren Schwimmer nicken mir zu, was mich besonders stolz macht. Um überhaupt noch was von seiner älteren Tochter mitzubekommen, verlegt Papa seinen Platz vom Liegestuhl am Strand auf einen Barhocker an der Poolbar.
Die Tage fließen ineinander. Eine Woche lang habe ich die beste Zeit meines Lebens.
Und dann wird sie noch besser.
In der Lobby des Hotels steht eines Morgens eine Tafel mit bunter Schrift, Mama liest mir vor.
Diesen Sonntag: Wettschwimmen für alle kleinen Gäste! Preis: ein großer Eisbecher. Oder ein Sandspielzeug aus dem Hotelshop.
Als ich eine Stunde später zum Unterricht komme und Papa die Neuigkeit auf Englisch übersetzt, wirkt Ramesh kein bisschen überrascht. Er hat schon vor mir gewusst, dass seine jüngste Schülerin mitmacht.
Sonntagnachmittag. Das Geschrei und Gelächter am Schwimmbecken hallt von der Glasfront des Hotels. Auf den Plastikliegen sitzen ein paar Eltern und andere neugierige Gäste. Ramesh und zwei Kollegen haben unter einer Palme ein Büfett aufgebaut. Es gibt Cocktails für die Erwachsenen und Eis in Plastikbechern für die Kinder. Über dem Pool flattert eine Schnur mit Wimpeln. Nicola, Mama, Papa und ich sind pünktlich. Die zwei Tage zuvor hat Ramesh mit mir geübt, das Becken auf der kompletten Länge zu durchschwimmen. Der Anfang ist kein Problem. Aber ab der Hälfte geht mir die Puste aus, weil ich mich verausgabt habe. Langsam, hat mir Ramesh gesagt. Slowly, das Wort klingt lustig, deshalb habe ich es mir gemerkt.
Wir sollen uns an der Startbrücke aufstellen. Der Schiedsrichter ist ein anderer Bademeister, den ich vom Sehen kenne. Ich bin die Kleinste. Deshalb dirigiert er mich ganz an den Rand, in die äußerste Bahn des Beckens. Wahrscheinlich, damit ich mich am Rand festhalten kann, falls ich unterwegs schlapp mache.
Rechts neben mir bauen sich meine Gegner auf: die beiden gebräunten Schweden, die ich vom Burgenbauen kenne. Sie tun so, als würden sie sich gegenseitig ins Wasser stoßen, und gackern wie Hühner. Daneben steht das ältere Mädchen mit dem kleinen Bruder, der beim Fangenspielen hingefallen war. Auch der Junge mit dem Gameboy steht da. Er sagt nichts und blickt teilnahmslos in den Himmel. Keinen hier habe ich in den letzten Tagen trainieren sehen. Ist das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Immerhin vom Jungen mit dem Gameboy weiß ich, dass er im Meer bis zur Bojenlinie schwimmen kann, viel weiter als ich.
Ich schaue quer über das Becken und sehe Papa, der mir etwas steif zuwinkt und den Daumen hochstreckt. Vor ihm steht Nicola, in der Hand ein weich gewordenes Erdbeereis, das sie noch nicht angerührt hat. Sie wirft mir den bewunderndsten Blick zu, den ich je von ihr bekommen habe. Ich fühle, wie mein Puls schneller geht, mein Kopf unter der Gummikappe wird heiß.
Der Schiedsrichter hebt den Arm, und der Lärm wird etwas ruhiger. Ich gehe in die Position, die Ramesh mir am Vortag gezeigt hat. Ein Bein nach hinten, eines nach vorne, mit den Zehen um den Beckenrand greifen. Dann bücke ich mich in eine kompakte Haltung, meine Fingerspitzen berühren die nassen Fliesen. Der Schiedsrichter nimmt eine Trillerpfeife zwischen die Lippen.
Ich schwimme nun seit knapp einer Woche. Es war die glücklichste Woche meines Lebens.
Der Pfiff durchschneidet den Lärm. Ich springe.
Sofort ist Ruhe. Ich mag aufgeregt sein, aber das Wasser ist wie immer. Still und emotionslos. Rechts von mir platschen fünf andere Körper ins Becken, aber ich merke es nicht. Ich gleite unter Wasser, immer noch angetrieben von meinem Sprung, mit den Händen zuerst, wie Ramesh es mir gezeigt hat. Sie bilden vor meinem Kopf einen Keil, der Platz für den Rest meines Körpers macht. Als ich langsamer werde, hebt mich der Auftrieb meiner gefüllten Lunge nach oben, als hätte ich ein Schwimmbrett unter den Fingern.
Ich durchbreche die Oberfläche, und der Lärm ist betäubend. Klatschen, Kreischen, »Go, go, go!«, rechts von mir höre ich das bedrohliche Patschen von Händen auf Wasser, einer der Schweden brüllt irgendwas. Ich bin noch nie um die Wette geschwommen und erschrecke mich, lasse mich von der Hektik anstecken. Ich paddle, so schnell wie noch nie, mit den Armen. Meine Beine strampeln um ihr Leben. Rameshs Lektion ist plötzlich weit weg.
Slowly, wie bitte?
Ich hacke durch den Pool, links, rechts, links, rechts. Im Vergleich zum Training fühlt sich alles an wie in doppelter Geschwindigkeit. Am schlimmsten sind die Atemzüge. Wenn sich mein Kopf aus dem Wasser dreht, höre ich das Gebrüll am Beckenrand, das nur bedeuten kann, dass die anderen Kinder längst an mir vorbeigezogen sind.
Nach ein paar Sekunden komme ich in den Rhythmus. Jetzt bleibt nach jedem Luftholen für einen Augenblick die Zeit stehen. Mit den Ohren unter Wasser, mit dem Blick nach unten, kommt langsam das Gefühl zurück, das mich die letzten Tage so in seinen Bann gezogen hat.
Die Welt hier unten ist so viel schöner …
Ich schiebe mit dem linken Arm Wasser nach hinten, lasse meinen Körper nach vorne gleiten.
So ruhig und friedlich und schwerelos …
Der schwarze Streifen am Grund des Beckens zieht längs von oben nach unten durch mein Sichtfeld. Ich werfe den rechten Arm nach vorne und schaufle ihn mit aller Kraft nach hinten.
Fische haben es gut. Niemand brüllt, niemand pfeift, niemand klatscht. Niemand sagt ihnen, was sie dürfen oder …
Plötzlich stutze ich. Der schwarze Streifen am Grund ist zu Ende. Kann das sein? Bevor ich es richtig begriffen habe, berühren meine Fingerspitzen den Beckenrand und ich tauche auf in eine laute Welt.
Ich sitze auf dem gefliesten Rand und sehe den aufgewühlten Pool durch ein feines Netz aus Sternen. Papa hat mich von hinten in den Arm genommen und zieht mich sanft auf die Beine. Ich schäle die Schwimmbrille vom Gesicht und schaue mich um. Mama lacht mich an und hat feuchte Augen. Andere Eltern klatschen. Der Schiedsrichter drüben am anderen Ende des Pools klatscht. Ramesh steht schräg hinter ihm vor dem Eisstand, nickt und zwinkert mir zu.
Ich habe gewonnen.