Die Wörter verschwimmen auf dem Papier. Seit Stunden saugt die Karteikarte die Luftfeuchtigkeit des Schwimmbads auf, und meine nassen Hände machen die Sache nicht besser. Ich kneife die Augen zusammen, um zu entziffern, was da steht:
Shear, sheared, shorn.
Englischvokabeln, mit Filzstift auf das linierte Kärtchen geschrieben. Meine Schwimmbrille verzerrt die Buchstaben zusätzlich.
Wer zum Teufel hat sich nur diese irregulären englischen Verben ausgedacht? Sicher niemand, der dabei Rücksicht auf deutsche Schülerinnen genommen hat, die sich diesen Wahnsinn ins Hirn prügeln müssen. Und zwar während sie eigentlich genug damit beschäftigt wären, endlich die hundert Meter in weniger als einer Minute zu kraulen. Ich nehme die nächste Karte vom Stapel.
Grow, grew, grown.
Damit landet der Haufen Kärtchen wieder auf den beheizten Fliesen, ich murmle die drei Worte ein letztes Mal, hole Luft und stoße mich mit den Füßen vom Rand ab.
Es ist eine Technik, die meine Freundinnen Mara, Alisa und ich über die Jahre entwickelt haben, um den wachsenden Lernstoff überhaupt noch irgendwie zu schaffen. Während wir bei einer unserer Mütter hinten im Auto sitzen, morgens oder abends auf dem Weg ins Schwimmbad, schreiben wir alles auf Pappkarten, was wir wissen müssen: Vokabeln, Matheformeln, Kurzgedichte. Einmal sogar den gesamten Zitronensäurezyklus. So zerkleinert in seine einzelnen Bestandteile, stapeln wir den Lernstoff in den Tagen vor Klausuren am Beckenrand.
Mir fällt das Lernen nicht leicht. Ich werde unruhig und hibbelig, wenn ich zu lange sitzen muss – das hat sich seit meiner Kindheit nicht geändert. Aber die Kartentechnik hilft. Nach den täglichen sechs Kilometern Training bleibt das meiste davon irgendwann hängen. Der Gleichmut und die unendliche Geduld des Wassers färben immer auch ein kleines Stück auf mich ab.
Swim, swam, swum.
Ich bin in der zwölften Klasse Gymnasium. Meine Schule heißt Steinmühle und liegt direkt an dem kleinen Flüsschen namens Lahn, das in aller Ruhe durch Marburg dümpelt. Ein weitläufiger Campus etwas außerhalb der Stadt, mit einem Schulgebäude, einem Speisesaal, einer Sporthalle und Tennisplätzen. Die Schule hat viele engagierte Lehrer und bietet eine gute Betreuung. Der Unterricht endet um fünf Uhr nachmittags.
Alles schön und gut. Nur wird das Letztere für mich allmählich zum Problem.
Ganztagsschule bedeutet: Das Training nach der Schule beginnt erst um sechs Uhr abends und zieht sich bis neun, manchmal halb zehn. Morgens zu trainieren ist für mich inzwischen Gewohnheit, meine ganze Schulzeit schwimme ich schon zwei Stunden, bevor der Unterricht beginnt. Aber nun kommt das Abitur. Und ich frage mich, wie ich die schriftliche Prüfung in Deutsch oder Mathe bestehen soll, wenn ich weiterhin morgens und abends meine Bahnen ziehe. Soll ich die Interpretation der Buddenbrooks auf Karteikarten kritzeln?
Im Verein bin ich fest eingeplant. Mein neuer Trainer Wolfgang – der die älteren Jugendlichen trainiert – und mein Team zählen auf mich; ich bin die stärkste Schwimmerin. Bei Wettkämpfen lande ich seit Jahren fast immer auf den ersten fünf Plätzen. Zweimal im Jahr lädt mich sogar der hessische Landesverband zum Sichtungslehrgang ein. Ich bin kurz davor, in den deutschen Kader aufzusteigen. »Wenn«, sagt mein Trainer an dieser Stelle immer mit feurigem Blick durch seine Brille, »wenn du jetzt bloß nicht nachlässt, Nathalie!«
Ich bin mit jeder Faser Schwimmerin. Seit jenem Urlaub und dem Privatunterricht mit Ramesh brenne ich für eine Sache – und nur für die. Fast alle anderen Sportarten habe ich restlos aus meinem Leben gestrichen. Noch im selben Jahr bin ich als Jüngste dem Jugendteam des örtlichen Schwimmvereins beigetreten. Nach dem ersten Probetraining nimmt Manfred, der Trainer, Papa zur Seite: Dieser Ehrgeiz, diese Disziplin, sagt er, seien sehr selten bei einem so kleinen Kind! Er will mich unbedingt im Team haben.
Kurze Zeit später, bei meinem ersten Wettkampf über 25 Meter Freistil, belege ich den dritten Platz. Manfred jubelt mit mir. Er freut sich fast mehr als ich selbst – er ist der ideale Coach für ein Team aus Vorschulkindern. Papa und Mama stehen in dem überheizten, braun gefliesten Schwimmbad in einem Vorort von Marburg und haben wieder diesen leicht ungläubigen Blick: Was ist nur passiert? Ist das wirklich ihre Nathalie, die da neben Kindern steht, die zwei Köpfe größer sind, und Medaillen gewinnt in einer Disziplin, die sie erst vor wenigen Wochen gelernt hat?
Noch vor meiner Einschulung gehe ich viermal die Woche bei Manfred ins Training. So wenig wird es nie wieder sein.
Manfreds Stoppuhr wird mein neuer Begleiter, meine persönlichen Bestzeiten mein neuer Antrieb. Mit sanftem, spielerischem Druck lenkt er meinen Drang, alles zu geben, Erste zu werden, in neue Kategorien. Sie heißen nicht mehr »auf einem Bein hüpfen« oder »Räder schlagen«, sondern »50 Meter Rücken«, »100 Meter Freistil« oder »200 Meter Lagen«. Und wie immer, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, nehme ich die Sache ernst. Ich will die meisten Ostereier sammeln und die Dekoration gleich noch dazu.
Nun, mit 17, ist der Höhepunkt der Leistungsphase erreicht. Als Kind ist das Wettbewerberfeld noch relativ breit gestreut. Unter Gleichaltrigen gewinnt üblicherweise das Kind, das besonders früh eine Wachstumsphase erwischt hat und damit gerade die längsten Arme hat. Weil ich eine Spätzünderin bin, lande ich in meiner Altersgruppe nur selten auf dem ersten Platz. Was mich natürlich fuchst.
Sobald Schwimmer aber ausgewachsen sind, verdichten sich die Ergebnisse. Natürlich macht die Körpergröße, vor allem die Länge der Arme und Beine, weiterhin den größten Unterschied: Je größer die Armspannweite, desto stärker der Vortrieb im Wasser. Aber abgesehen von diesen genetischen Voraussetzungen wird auch gnadenlos sichtbar, wer wie fleißig im Training war. Jetzt zählt jede Hundertstelsekunde.
Kaum ein Sport ist so trainingsintensiv wie Schwimmen. Es ist ein Ausdauersport, ähnlich wie Laufen. Deshalb müssen Athleten irre Strecken zurücklegen, um ihre Ausdauerfähigkeit zu vergrößern. Allerdings ist der Widerstand im Wasser deutlich höher. Deshalb macht die Technik einen viel größeren Unterschied als bei Läufern. Und das wiederum bedeutet: noch mehr üben.
Zehn Jahre hartes Training, sagt man, sind nötig, um als Schwimmerin die persönliche Bestleistung zu erreichen. Zehn Jahre, die nach sportwissenschaftlichen Erkenntnissen mit spätestens acht Jahren beginnen müssen und genau durchgetaktet sind. Mit exakten Kilometerzahlen, die pro Jahr und Trainingseinheit geschwommen werden müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, auf Wettkämpfen zu gewinnen oder gar Rekorde zu brechen.
Diese Zehnjahresgrenze erreiche ich jetzt, zwei Jahre vor dem Abitur.
Mit acht bin ich planmäßig 21 Kilometer pro Woche geschwommen. 900 Kilometer im Jahr. Das war vergleichsweise entspannt. Mit zehn waren es schon 1500 Kilometer – so weit wie die Strecke von Berlin nach Moskau. Nun sind es 3000 Kilometer jährlich. Und weil Technik und Ausdauer eben auch nicht alles sind, sondern nebenbei auch Kraft nötig ist, verbringe ich neben dem Schwimmen auch immer mehr Stunden pro Woche an den Geräten im Kraftraum.
Die Luft ist dünn an der Spitze.
Keinen Satz habe ich öfter gehört, verinnerlicht, zu meinem persönlichen Mantra gemacht. Er bringt mich zum Aufstehen, wenn nach einem harten Sprint-Training am späten Abend morgens um 5 Uhr 30 wieder der Wecker klingelt. Denn genau da will ich hin: die Spitze.
Heruntergebrochen auf meinen Alltag bedeuten 3000 Kilometer pro Jahr: neunmal pro Woche Schwimmen. Morgens von sechs bis halb acht, dann ab in die Schule. Um fünf Uhr nachmittags fahre ich mit Mama direkt zurück ins Schwimmbad. Die Hausaufgaben erledige ich auf den Knien in der Umkleide, während im Hintergrund die Föhne röhren und alte Frauen sich mit Handtüchern die Zehen trockenrubbeln.
An der Spitze mag die Luft dünn sein. In der Umkleide eines deutschen Hallenbads ist sie dick und riecht nach billigem Duschgel.
In der Bahn neben mir kommt Mara an den Beckenrand und greift sich ein paar Vokabelkärtchen. Eine Bahn weiter schwimmt Alisa. Sie gehen auf eine andere Schule als ich. Wir haben uns vor zehn Jahren im Verein kennengelernt, seitdem verfolgen wir denselben Traum: professionell schwimmen. Die beiden sind wie Familie für mich. Weil wir jede freie Minute unseres Lebens trainieren, verbringen wir auch jede freie Minute zusammen. Wobei man sagen muss, dass wir als Leistungsschwimmerinnen eine etwas eigenwillige Definition von »frei« haben.