KAPITEL 6

Die Erinnerung kommt in Bruchstücken. Wie ein Albtraum, aus dem man immer wieder kurz hochschreckt, ohne ihn abschütteln zu können. Und anfangs ist mir nicht klar, was die Realität ist und was der Traum.

Ich liege in einem Bett, dessen Rückenteil nach oben gefahren ist, sodass ich fast aufrecht sitze. Um mich ein hell erleuchtetes Zimmer, links und rechts Betten. Eine Kunststoffmaske begrenzt mein Sichtfeld nach unten, sie ist mit Gummibändern auf mein Gesicht geschnallt und schließt luftdicht über Nase und Mund ab.

Bip. Bip.

Ich höre einen wiederkehrenden Piepton. Und ein leises Zischen. Auf der Oberlippe kitzelt mich ein leichter Windhauch. Sauerstoff. Wie wohltuend. Und gleichzeitig schmerzhaft. Mit jedem tiefen Atemzug fühlt es sich so an, als ziehe jemand einen heißen Stacheldraht enger um meine Rippen. Bevor ich weiter nachdenken kann, was es damit auf sich hat, werde ich müde. Meine Augen fallen zu, als hätte jemand im Fernseher den Kanal umgeschaltet.

Ich gleite durch dunkles Wasser, unter mir unendliche Tiefen, in der Ferne leuchten Punkte gelb und grün, wie Sterne im Weltall. In meinen Ohren ein Gluckern und Säuseln. Und das wiederkehrende Piepsen. Hier mitten im Meer? Ich mache noch einen Armzug, aber das Wasser ist so zäh wie Sirup. Nur noch einen. Und noch einen.

Nein. Moment. Ich kann mich nicht bewegen. Mein Handgelenk ist bandagiert, ein Kunststoffschlauch schlängelt sich aus dem Verband. Von oben tropft eine farblose Flüssigkeit aus einem Beutel in den Schlauch. Ich drehe die Augen weiter nach oben. Da ist ein Monitor befestigt, über dem Bett. Bip. Bip. Meine Blicke folgen roten und grünen Kabeln, die im Ärmel meines Nachthemds verschwinden.

Nachthemd? Was für ein Nachthemd? Wer hat es mir angezogen? Ich bekomme Angst.

Bip. Bip.

Ich brauche Wasser. Mein Mund ist wie eingestaubt, die zischende Luft fühlt sich kalt und trocken an, wie der Strom aus einer voll aufgedrehten Klimaanlage. Und das Atmen, es tut irre weh, meine Rippen bringen mich um!

Plötzlich ein Schrei.

War ich das? Bin ich wieder abgedriftet? Nein: Im Augenwinkel sehe ich im Bett links von mir eine ältere Frau, die mit zerwühlten Haaren im Bett sitzt und irgendetwas Unverständliches in Richtung der Zimmerwand ruft. Es klingt nach purer Angst, was vielleicht noch schlimmer ist als Schmerz, und es fährt mir durch Mark und Bein.

Ich bin gefangen zwischen zwei Albträumen.

Eine große warme Hand legt sich auf meinem Unterarm. Am Ringfinger ein goldener Ehering. Augenblicklich entspannen sich meine Muskeln, die Atmung geht ruhiger. Die Hand kenne ich. Sie führt zu einem Arm, der in einem hellblauen Kittel steckt. Darüber ein Gesicht, halb verdeckt von einem Mundschutz, und Augen, die mich anlachen, liebevoll, aber ertränkt in Sorge. Papa.

Ich fange an zu weinen. Und dann, mit Papas Hilfe, füllen sich meine Erinnerungslücken.

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Es sind 24 Stunden vergangen, seit ich mittags im Rettungswagen in die Klinik eingeliefert worden bin. Ich war stark unterkühlt, meine Atmung flach und rasselnd, die Sauerstoffsättigung in meinem Blut bei weniger als 70 Prozent – viel zu niedrig. In der Klinik bin ich kaum noch ansprechbar. Die Notärzte diagnostizieren ein akutes Lungenödem. Auf Röntgenbildern ist meine Lunge mit weißen Flecken durchsetzt. Eindringendes Meerwasser hat die Bläschen verklebt, die ich brauche, um mein Blut mit Sauerstoff zu versorgen. Ich huste weißen Schaum.

Obwohl ich nicht untergegangen bin, war ich so nah am Ertrinken, wie ein Mensch nur sein kann. Über Stunden hinweg muss ich Spritzwasser eingeatmet haben, ohne es abzuhusten. Mein auf Leistung und Schmerztoleranz trainierter Körper hat einfach weitergemacht. Dazu sind die Kohlenmonoxidwerte in meinem Blut erhöht – vermutlich durch die Abgase der Sea Satin, die teilweise stundenlang direkt vor mir her dieselte. Die Mandelentzündung vier Wochen vorher hat sicher auch nicht geholfen. Weniger trainierte Menschen, sagen die Ärzte, wären schon viel früher kollabiert. Mein athletischer Körper aber hat sich quasi auf Autopilot festgefressen. Weiter, immer weiter, egal was passiert – diese Mentalität hat mich in eine fast tödliche Abwärtsspirale geschickt.

Nach drei Tagen in Dover laden mich die Ärzte auf einer Trage in einen Spezialflieger, der mich nach Marburg bringt. Dort komme ich im Unikrankenhaus auf die Intensiv-, dann auf die normale Station. Die Schmerzen werden weniger, das Wasser verschwindet langsam aus meiner Lunge. Ich kann fast stündlich beobachten, wie sich die Sorgenfalten auf Papas Stirn allmählich glätten. Einmal, nachdem der Stationsarzt meine Werte geprüft und für fast wieder gut befunden hat, lässt Papa sich mit einem Stoßseufzer der Erleichterung auf seinen Besucherstuhl fallen. »Wahnsinn«, sagt er, »da hast du echt einen Schutzengel gehabt. Das machen wir nie wieder!«

Ich antworte nicht. Aber ich spüre den Drang, etwas zu erwidern. Zu widersprechen. Ich verstehe Papas Sorge. Aber will ich es wirklich nie wieder machen? Will ich meinen Traum aufgeben, Channel Swimmer zu werden?

Während ich in den ersten Tagen im Krankenbett keinen Gedanken an die Zukunft verschwendet habe, kehrt nun langsam mein Ehrgeiz zurück. Nachts, schlaflos im Bett liegend, lasse ich immer und immer wieder die Stunden im Ärmelkanal Revue passieren. Mich quälen die »Was, wenn«-Gedanken.

Was, wenn ich nicht so viele Abgase eingeatmet hätte? Was, wenn ich keine Mandelentzündung gehabt hätte? Was, wenn ich nicht eine Woche lang aus dem Hotelzimmer auf den verdammten Friedhof geguckt hätte?

So vergehen halbe Nächte. Und je öfter ich vor meinem inneren Auge wieder in der Dunkelheit am Shakespeare Beach ins kalte Wasser laufe, desto klarer setzt sich eine Überzeugung in mir fest: Ich kann das schaffen. Nein, ich kann das nicht nur – ich muss es sogar. Mein ganzes bisheriges Leben, die Zehntausenden Stunden im Becken, die Hunderten Wochenenden auf Wettkämpfen, all das hat mich hierhergeführt. Jetzt aufzugeben würde allem widersprechen, woran ich glaube. Ich muss nur hart an mir arbeiten – und zwar, anders als bisher, nicht nur an meiner Fitness. Sondern vor allem an meiner mentalen Einstellung.  Ich brauche Unterstützung von jemandem, der Erfahrung in dieser Art mentaler Herausforderung hat. Damit fange ich an.

Im dunklen Krankenzimmer, mit dem Laptop auf der Bettdecke, google ich nach den besten Schwimmern der Welt. Ich lande bei der angeblich härtesten Freiwasser-Challenge überhaupt, den sogenannten »Ocean’s Seven«, sieben berüchtigte Meerengen auf fünf Kontinenten. Sie gelten als schwierigste Durchquerungen der Erde. Der Name spielt auf die sieben höchsten Berge auf sieben Kontinenten an, die »Seven Summits«, seit Jahrzehnten die ultimative Herausforderung für Extrembergsteiger.

Die Ocean’s Seven, lese ich, haben bisher nur eine Handvoll Menschen geschafft. Genauer gesagt: sechs.

Fasziniert recherchiere ich zu jedem Einzelnen. Wer sind diese Menschen? Was treibt sie an? Ein Ire, eine Schwedin, zwei Amerikaner, eine Neuseeländerin. Aber außer ein paar Zeitungsartikeln finde ich wenig über sie. Schließlich ist da noch ein junger Engländer, Mitte 30, namens Adam Walker. Bei ihm bleibe ich hängen. Seit er die Herausforderung geschafft hat, hält Walker Vorträge über seine mentale Motivation. Auf YouTube finde ich Ausschnitte davon, der Mann ist ein mitreißender Redner, ein Charismatiker.

Und noch etwas weckt meine Neugier: Bei der ersten seiner sieben Durchquerungen hat Walker sich schwer verletzt. Seine Bizepssehne ist abgerissen, eine der folgenschwersten Verletzungen für Schwimmer. Walker musste dreimal operiert werden, die Ärzte empfahlen ihm, nie wieder zu schwimmen.

Ich muss an Papa denken. »Das machen wir nie wieder!«

Woraufhin Walker allerdings nicht nur weitermachte, sondern auch sämtliche Meerengen der Ocean’s Seven beim ersten Versuch bezwang. Unfassbar. In meinem Krankenbett fühle ich zum ersten Mal seit Wochen wieder so etwas wie Hoffnung und sogar Vorfreude. Wer mit abgerissenem Bizeps durch sieben Meere schwimmt, von dem will ich etwas lernen.

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Zwei Monate nachdem ich im Ärmelkanal fast gestorben bin, hält ein Schneesturm Marburg im Griff. Es ist erst November, aber ein eisiger Wind bläst Flocken durch die Stadt, Autos haben Schwierigkeiten, den Schlossberg hinaufzukommen. Dort oben, in einem Restaurant unterhalb des Schlosses, sind wir mit Adam Walker verabredet. Ein paar Wochen zuvor habe ich mir eine kleine Welle aufs Handgelenk tätowieren lassen – als Erinnerung an diesen einschneidenden Moment. Papa und Mama haben meine Entscheidung, mit dem Freiwasserschwimmen weiterzumachen, nicht gerade begeistert aufgenommen. Aber nach fast 20 Jahren wissen sie auch, dass es aussichtslos ist, meinem Willen etwas entgegenzusetzen. Dafür liebe ich sie.

Wir sind früh dran und warten vor dem Restaurant. Hier oben ist es noch ein paar Grad winterlicher als unten in der Stadt, ich vergrabe die Hände in den Taschen meines Daunenmantels. Da stoppt ein Taxi am Bürgersteig. Eine hintere Tür öffnet sich – und ein knapp zwei Meter großer Mann springt aus dem Fond. Das Taxi fährt ab, und erst jetzt wird mir klar, was die Szene so seltsam macht: Der Mann, den ich bisher nur von YouTube und einem Telefonat kenne, hat weder Jacke noch Gepäck dabei. Er trägt tatsächlich kurze Hosen und Polohemd. Es wirkt, als sei er durch ein Portal von einer Südseeinsel hierher teleportiert worden. Fehlt nur noch ein Cocktailglas mit Schirmchen in der Hand.

»Hallo, hallo, hallo!«, ruft er durch den Sturm, »was für ein wundervoller Tag!«

Selbst die Schneeflocken wirken für einen Moment irritiert von dieser Erscheinung.

Adam Walker kommt aus einer Familie von Rugbyspielern in Nottingham. Wegen einer Knieverletzung fing er in seiner Jugend an mit Schwimmen, seine Wettkampfdisziplin war 50 Meter Rücken – genau wie meine. Später arbeitet er im Außendienst eines Herstellers von Küchengeräten, fährt quer durch England, um Toaster und Wasserkocher zu verkaufen. Seine Leidenschaft für Open Water Swimming beginnt mit einem Film, den er im Flugzeug sieht: eine Dokumentation über einen alten englischen Kanalschwimmer. Der Film bringt irgendetwas in Adam zum Schwingen – ähnlich wie bei mir, als ich mit 16 Die Eismeerschwimmerin lese.

Adam ist ein Mann, der gute Laune abstrahlt wie ein Kachelofen Wärme. Er hat den langen, sehnigen Körper eines Beckenschwimmers und obendrauf den Kopf eines zwölfjährigen Jungen: kurze Locken, Lachfältchen, Grübchen in beiden Wangen. Adam scheint überall etwas zu entdecken, was ihn fröhlich stimmt – und wenn es die absurde Situation ist, in kurzen Hosen in einem Schneesturm zu stehen. Allein Adam die Hand zu schütteln lässt die Temperatur bei uns allen um ein paar Grad steigen.

Wir setzen uns an einen großen Tisch im Eck und bestellen Vorspeisen. Ich schildere ihm die Umstände meines Unfalls, meine Probleme im Wasser.

Adam hat seine eigene Erfahrung mit Rückschlägen. Seinen ersten Versuch im Ärmelkanal startete er nach nur wenigen Wochen Training. Das Wasser hatte gerade mal neun Grad. »Ich bin ein positiver Typ«, sagt er heute über diesen folgenschweren Fehler, »ich war mir sicher, dass ich das schaffe.« Er schaffte es ganze 45 Minuten. Dann musste der Kapitän ihn mit schwerer Unterkühlung aufs Boot ziehen. »Ich hatte die Sache komplett unterschätzt.«

Also tat Adam alles Mögliche, um sich abzuhärten: Er läuft bis heute den gesamten Winter über in kurzen Hosen draußen herum. Er schläft nachts grundsätzlich bei weit geöffneten Fenstern – zum Leidwesen seiner Freundin. Und er wendet psychologische Tricks an, um sein Unterbewusstsein zu manipulieren: Zum Beispiel hat Adam Worte wie »kalt« oder »schwierig« komplett aus seinem Wortschatz verbannt. Statt mir von der verfluchten Eiseskälte des Wassers in Schottland zu erzählen, sagt Adam zum Beispiel: »Das Meer ist nicht immer so warm, wie ich es gern hätte.« Statt über schwierige Bedingungen zu sprechen, sagt er stattdessen: »Das Meer testet dich permanent. Das Großartige daran ist: Du hast die Chance, dich zu beweisen!« Sogar wenn er von der schmerzhaften Begegnung mit einer Portugiesischen Galeere erzählt – einer der giftigsten Quallen der Welt –, klingt er, als wäre er eigentlich dankbar dafür, dass ihm die Natur diese Erfahrung geschenkt hat.

Der Effekt, behauptet er, sei erstaunlich: Das Unterbewusstsein höre auf, sich selbst mit unnötigen Ängsten und Sorgen zu blockieren. »Dein Hirn kann immer nur einen Gedanken auf einmal verarbeiten«, sagt Adam. »Wenn du dafür sorgst, dass dieser Gedanke in eine positive Message verpackt ist, verbannst du das Negative aus deinem Kopf. Damit entfesselst du ganz neue Kräfte!«

Gestärkt durch seine Psychotricks (und ein Jahr intensives Schwimmtraining), schwamm er den Ärmelkanal schließlich in elfeinhalb Stunden. Wegen der Überlastung riss ihm dabei allerdings die Bizepssehne ab.

Während er redet und wir gebannt zuhören, greift Adam alle paar Minuten quer über den Tisch und lädt sich Essen auf. An wichtigen Stellen in seiner Geschichte holt er sein Handy hervor, um mir Fotos zu zeigen – ein uraltes Teil mit komplett zersplittertem Display. Immer wieder bleiben winzige Glasscherben in seiner Fingerkuppe stecken, die er herauspickt, ohne seine Erzählung zu unterbrechen. Irgendwann steht Papa wortlos auf, lässt sich Tesafilm geben und klebt ihn über Adams Handy-Display – er kann nicht mitansehen, dass sich Adam jedes Mal fast schneidet.

Mit kaputtem Bizeps steigt Adam damals wieder ins Schwimmbecken. Er experimentiert, wie er seinen Körper im Wasser vorwärtsbewegen kann, ohne Arme und Schulter so stark zu belasten. Er merkt, dass das geht, indem er seine Hüfte mehr als sonst rotiert. Damit wird der ganze Körper zu einer Art Propeller, die Gleitzeit zwischen den Zügen wird länger. »Ich brauchte auf einmal nur noch fast halb so viele Armschläge pro Minute.« Das bedeutet: weniger Kraftaufwand. Mit der Technik schwimmt Adam danach sämtliche verbleibende Überquerungen der Ocean’s Seven. Inzwischen lehrt er die Technik auch in eigenen Schwimmkursen.

Während wir uns über die verschiedenen Querungen unterhalten, spüre ich etwas in mir hochsteigen. Neue Hoffnung. Tatendrang. Dieser Mann, der in kurzer Hose im Schneesturm rumläuft und nichts dabeihat als ein kaputtes Handy, fasziniert mich. Er lässt mit seiner positiven Einstellung nicht nur alles machbar klingen, was ich mir vorgenommen habe, sondern es scheint auch fast logisch, dass ich zunächst gescheitert bin. Rückschläge sind für ihn ein normaler Teil der Lernkurve.

Adam spricht über die härteste Schwimm-Challenge der Welt wie über etwas, das Spaß macht, ein spannendes Abenteuer, bei dem selbst ein Muskelabriss nicht mehr ist als eine kleine Misslichkeit, um die man herumarbeiten kann – und die einem am Ende sogar den Weg zu einer neuen Schwimmtechnik weist. Seine gezielt positive Laune wirkt nicht nur motivierend auf mich. Während der zwei Stunden am Tisch haben sich sogar meine Eltern sichtlich entspannt, was das Thema angeht. So wenig Sorgen in ihren Gesichtern habe ich seit meinem Unfall nicht gesehen.

Vielleicht ist dieser Mann genau die Ergänzung, die ich brauche.