Das Meer vor Teneriffa ist hellblau und warm. Hier vor der Westküste Nordafrikas zeigt sich der Atlantik von seiner freundlichen Seite. Ich drehe den Kopf seitlich zum Atmen aus dem Wasser und spüre die Morgensonne auf dem Gesicht. Das Dingi tuckert neben mir her, Joshua sitzt am Steuerrad. Adam hockt in Badehose auf dem Rand des Schlauchboots, lässt die Füße ins Wasser baumeln und ruft mir Kommandos zu.
»Höher atmen! Ein Stück weiter noch rausdrehen! Ein bisschen mehr, ein bisschen mehr – genau! That’s it!«
Es ist faszinierend, wie schnell sich Teamgeist entwickelt, wenn alles passt. Wie innerhalb unserer kleinen Gruppe eine eigene Sprache entsteht, Kommandos, Gesten, Witze. Vier Monate nach dem Treffen im Schneesturm herrscht zwischen Joshua und Adam, meinem mehr als ungleichen Trainer-Duo, eine produktive Arbeitsteilung. Joshua, der Meister der Zahlen, kümmert sich um meine Leistung, meinen Trainingsplan, die langfristige Strategie. Adam ist der Einpeitscher, der Motivator. Ein Team, das so reibungsarm arbeitet wie ein gut geölter Motor.
Es ist Frühjahr 2016, und wir haben große Pläne. Ich glühe vor Vorfreude. Seit Adam mit dabei ist, sehe ich immer klarer, wo ich eigentlich hinwill. Meine Ziele und Träume sind wie eine Landschaft, deren Umrisse allmählich aus dem Nebel auftauchen. Was man vor sich sehen kann, kann man auch erreichen.
Mein Ziel bleibt der Ärmelkanal. Aber vor dem zweiten Versuch will ich erst noch eine andere Strecke schwimmen. Eine Freiwasserstrecke, die etwas kürzer ist. Um die bösen Erinnerungen abzuschütteln, um Selbstvertrauen zu gewinnen. Tagelang habe ich mit Adam und Joshua Meerengen verglichen, Argumente abgewogen. Dann haben wir uns entschieden: Im April 2016 schwimme ich die Straße von Gibraltar, zwischen Europa und Afrika. Die Meerenge ist das Ventil zwischen Mittelmeer und Atlantik. Die Strecke ist Teil der Ocean’s Seven, Adam kennt sie gut. Sie birgt ihre eigenen Gefahren – starke Winde, Strömungen, Containerschiffe –, ist aber deutlich kürzer als der Ärmelkanal. Und damit die ideale Generalprobe für meinen zweiten Versuch.
Nun, eine Woche vor der Querung in Gibraltar, sind wir auf Teneriffa und trainieren. Zum ersten Mal bewegen wir uns als Team im Meer. Heute absolvieren wir eine Strecke von drei Stunden. Ich bin schnell und konzentriert, mein Körper ist längst wieder auf dem Leistungsniveau von vor dem Unfall. Wenn Adam mich korrigiert, dann meistens mit dem Hinweis, langsamer zu schwimmen: »Mach mal halblang! Du übst für den Marathon, nicht für den Sprint!«
Die Küste Teneriffas zieht in Zeitlupe links von mir vorbei. Es tut gut, mal wieder im Meer zu schwimmen. Ein unvergleichliches Gefühl der Selbstauflösung, der Vereinigung mit dem Element, aus dem wir, evolutionär gesehen, ursprünglich alle kommen – und das uns, so zumindest meine Theorie, deshalb in einen urzeitlichen Zustand der Ruhe versetzen kann. Wobei das Urmeer vor Milliarden Jahren angenehme 40 Grad warm gewesen sein soll. Damals hätte man Freiwasserschwimmerin sein müssen!
Direkt über uns ziehen Seevögel kreischend ihre Kreise, wohl in der Hoffnung auf Fisch, sie müssen uns für Angler halten. Links über der Küste schweben Gleitschirme. Während ich in meinen Gedanken versinke und in kräftigen Zügen kraule, höre ich plötzlich einen Schrei. Ich gucke nach links, wo eben noch das Boot war – da ist nichts. Ich stoppe und trete Wasser. Da, hinter mir, 20 Meter zurück, steht Joshua auf dem Dingi und winkt mir. »Stopp, stopp!« In ein paar Zügen bin ich beim Boot. Adam beugt sich über den Außenborder, der keinen Mucks von sich gibt. »Keine Ahnung was los ist«, sagt Joshua. »Der Motor ist einfach ausgegangen.«
Ich klettere an Bord. Joshua drückt den Startknopf an der Steuerkonsole. Der Motor gibt ein hohles Knacken von sich. Aber er springt nicht an. Knack. Knack. Nichts. »Scheiße.« Das Boot schwankt manövrierunfähig in der Dünung, ich nehme mir ein Handtuch und setze mich erst mal hin.
Während Adam die Haube des Motors abnimmt und versucht, ihn mit dem Notfallseil von Hand zu starten, öffnet Joshua eine wasserdichte Tasche, die unter dem Sitz verstaut war. Für Notfälle, hat der Vermieter gesagt. Darin verpackt liegt ein Walkie-Talkie. Joshua schaltet es ein. »Hello, hello, this is the rental dinghy, we have a problem, anyone there?« Nichts als statisches Rauschen. Nach drei weiteren Versuchen holt er sein Handy hervor – kein Empfang. Auch mein Handy ist nutzlos. Wir sind zu weit vom Ufer.
So viel zum Team, das läuft wie ein gut geölter Motor. Ich muss lachen, weil die Situation so grotesk ist. Immerhin könnten Adam und ich die ein, zwei Kilometer zum Ufer notfalls schwimmen. Und Joshua? Könnten wir mit einem Seil im Schlauchboot hinterherziehen. Vielleicht gar keine schlechte Trainingseinheit.
Dann, nach dem ungefähr dreißigsten Versuch, schreit Adam auf: Ein kräftiger Zug am Starterseil lässt den Motor rumpelnd anspringen. Wir jubeln. Joshua springt hinters Steuerrad und gibt Gas – bloß nicht wieder abwürgen! Wir drehen bei und steuern auf die Küste zu. Die Gleitschirme am Himmel werden allmählich größer. Aber dann, zehn Minuten später, stirbt der Motor wieder ab. Und lässt sich nicht mehr starten. Knack, knack. Das Walkie-Talkie sendet immer noch sinnlos in den Äther, ohne dass jemand antwortet. Aber zumindest findet Joshuas Handy jetzt einen einzelnen Balken Movistar, spanisches Netz. Wir rufen den Vermieter an. Eine halbe Stunde später zieht uns ein größeres Motorboot im Schlepptau in den Hafen.
Der nächste Tag, der letzte vor der Abreise nach Gibraltar. Ich schwimme eine kleine Trainingseinheit im Pool. Jetzt soll mein Körper keine größeren Strecken mehr zurücklegen, ich darf die Muskulatur nicht ermüden, nur warm und geschmeidig halten. Ich ziehe gerade lockere Bahnen in Rückenlage, da verschätze ich mich beim Anschlagen am Beckenrand um ein paar Zentimeter – und knicke meinen Zeigefinger mit Schwung in die falsche Richtung ab. Schmerz schießt durch mein Handgelenk. Fuck.
Im Flieger von Teneriffa nach Tarifa, wo auf dem spanischen Festland der Startpunkt ist, sitze ich mit Schiene an der rechten Hand. Das fängt ja gut an.
Vor dem Flughafen Gibraltar begrüßen uns pelzige Einwohner. Auf Geländern und Autodächern am Parkplatz sitzen überall Makaken, katzengroße graue Affen. Es sind sogenannte Berberaffen, lese ich später: die einzigen Primaten, die in Europa frei leben. Hier, am südlichsten Punkt des Kontinents, ist die Nähe zu Afrika nicht nur an der staubigen Wüstenhitze zu spüren. Auch die Tierwelt ist überraschend exotisch.
Nur 14 Kilometer sind es von hier rüber nach Marokko. Deshalb gibt es nicht nur Affen, sondern auch jede Menge Zugvögel, die in großen Scharen hier zwischenstoppen, wenn sie für den Sommer zurück in den Norden ziehen oder umgekehrt. Auch das Wasser, die Schnittstelle zwischen Mittelmeer und Atlantik, ist ein einzigartiger Lebensraum: Vor Gibraltar leben auf engstem Raum Delfine, Grindwale, Orcas, Pottwale und Finnwale und teilen sich die reichen Jagdgründe zwischen den Ozeanen.
Und auch für die Menschheit ist dieser Ort schon immer ein Portal zwischen den Welten. Bis zur Entdeckung Amerikas vermutete man hier jahrtausendelang das Ende der Welt. Hier setzten die Berber über, bevor sie im Mittelalter Spanien eroberten und ihre 700 Jahre dauernde Herrschaft über die Iberische Halbinsel begann. Hier war der letzte Punkt, über den die katholischen Könige die Mauren nach der erfolgreichen Reconquista schließlich zurückdrängten.
Mein Mann vor Ort ist Capitán Rafael. Er sitzt in seinem winzigen Büro am Hafen, vor einer Wand, die tapeziert ist mit Fotos – von ihm selbst. Auf seinem weißen Sportboot, der Columba Uno. Rafael Gutiérrez Mesa ist der Vorsitzende des Verbands der Freiwasserschwimmer in der Straße von Gibraltar. Wer die Querung probieren will, muss sich bei ihm registrieren. Rafael ist ein ruhiger, stolzer Mensch, klein, aber sehr entschieden. Er stellt sich an eine große gerahmte Wasserkarte mit eingezeichneten roten und grünen Strömungspfeilen und erklärt mir sein Schwimmrevier.
Die Strömung in der Straße von Gibraltar ist eine Herausforderung. Das flachere Mittelmeer ist hier mit dem tiefen Atlantik verbunden. »Je nachdem, zu welcher Zeit wir starten, müssen wir den Sog in die eine oder andere Richtung ausgleichen«, sagt der Capitán. Teilweise muss ein Schwimmer alle zwei Kilometer die Richtung wechseln – ein verwirrender Slalom, nur um am Ende dort anzukommen, wo man hin will, und nicht in den Atlantik gespült zu werden.
Dazu kommt: Ich schwimme hier durch eine der wichtigsten Schifffahrtstraßen der Welt. Die Fähren und Tanker weichen nicht aus. Es ist eine absurde Umkehrung der üblichen Vorfahrtsregeln auf dem Wasser: Schwimmer, die verletzlichsten und langsamsten Verkehrsteilnehmer, haben sich unterzuordnen.
»No hay problema«, sagt Rafael. »Ich kläre das alles für dich. Du schwimmst einfach.« Während mein Team mich im Schlauchboot begleitet, wird er mit der Columba Uno ein paar Hundert Meter vorfahren, die Strömung analysieren und nach kreuzenden Schiffen Ausschau halten. Das Wetter, schließt Rafael seinen Vortrag, sehe übrigens hervorragend aus. Mein Slot ist eigentlich erst in ein paar Tagen, »aber wenn du willst, kannst du direkt morgen starten«. Ich denke an die quälende Woche des Wartens in Dover – und sage zu.
Nachmittags fahren wir runter zum Hafen von Tarifa. Ich will eine Runde schwimmen, um das Wasser einmal gespürt zu haben und um mich an die Temperatur zu gewöhnen. Das ist bis heute mein Ritual vor großen Schwimmen: Ich will einmal zuvor das Wasser spüren. Hier hat es 16,5 Grad, fast genauso kalt wie in England. Danach gehen wir in den Supermarkt und holen die übliche Junkfood-Bombe aus abgepackten Muffins, Toastbrot und Cola. Es folgt der letzte Punkt auf der Tagesordnung, der gleiche wie vor jedem Schwimmen seit meinem sechsten Lebensjahr: Carboloading. Wir steuern das nächstbeste italienische Restaurant an und vernichten dessen halben Nudelvorrat.
Die Querung soll erst um 10:30 Uhr losgehen. Ich kann also ausschlafen – theoretisch. Tatsächlich ist mein Kopf trotz der nachmittäglichen Schwimmrunde mal wieder so auf Hochtouren, als hätte ich auf der Bettkante noch eine Kanne Espresso geext. Hellwach liege ich auf dem Bett und starre auf den langsam rotierenden Ventilator, der so morsch aussieht, als hätten seine Blätter schon zu Zeiten der Reconquista die heiße andalusische Luft verrührt.
Ich greife mein Handy vom Nachttisch und öffne die Sprachnotizen. Adam hat mir noch vor dem Schlafengehen in seinem Zimmer einen Pep-Talk gegeben. Und weil er wusste, dass mein Hirn vor lauter Aufregung die Hälfte seiner Ansprache im selben Moment wieder vergessen würde, hat er sie mit dem Handy aufgezeichnet. Ich drücke auf Play.
»Genieß das Schwimmen morgen. Du hast perfekte Bedingungen. Erlaub dir, Spaß zu haben! Und denk dran: Man kann alles schaffen, was man will. Du hast alle Skills, die du brauchst, um morgen da rüberzukommen. Erinnere dich: hoch genug atmen. Einen guten Rhythmus finden. Kraft einteilen. Bleib ruhig und fokussiert. Du hast dich perfekt vorbereitet, alles andere kannst du nicht beeinflussen. Du bist nicht allein da draußen, ich bin dabei, die ganze Zeit. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du es nicht rüber schaffst. Dann schaffst du es eben beim nächsten Mal. Die Straße von Gibraltar läuft dir nicht weg.«
Vor dem Morgengrauen werde ich wach. Es ist einer dieser Adrenalin-Momente, in denen schon in der Sekunde des Aufwachens klar ist, dass man nicht mehr einschlafen wird. Ich ziehe mich an und verlasse mein Zimmer. Die Luft ist kühl und satt mit Sauerstoff. Von der Terrasse öffnet sich vor meinem Blick die Meerenge von Gibraltar, Dunst liegt über dem schwarzen Wasser. Von Afrika ist nichts zu sehen. Von links her, in Richtung Mittelmeer, beginnt der Horizont, langsam hellgrau zu werden. Ich fühle mich so bereit, ich wünschte, die Überquerung würde jetzt starten, in zehn Minuten. Tatsächlich sind es noch vier Stunden.
Im Augenwinkel sehe ich eine Bewegung auf der Terrasse.
»Der perfekte Tag, um nach Afrika zu schwimmen, wenn du mich fragst.«
Adam stellt sich neben mich und blickt mit funkelnden Augen übers Wasser.
Wir gehen frühstücken. Nudeln, mein Schwimmerfrühstück. Dann fahren wir zum Hafen. Die aufgehende Sonne hat den Dunst inzwischen weggebrannt, das Meer liegt als dunkelblaues Band vor uns. Als wir an der Hafenmauer parken, zeichnet sich auf der marokkanischen Seite, unendlich weit weg, ein steil aufragender Koloss ab, unten olivgrün bewachsen, oben silbrig-grau. Das Rifgebirge, knapp 2500 Meter hoch: von hier aus nicht mehr als ein daumenbreiter Streifen.
Ich fluche innerlich. Es ist eine Marotte von mir: Ich sehe ungern auf einen Blick, wie weit die Strecke, die ich zurücklegen muss, tatsächlich ist. Ich vermeide es sogar, wenn es irgendwie geht, eine Schwimmstrecke vorher aus dem Flugzeug zu sehen oder mit der Fähre zu durchqueren. Es ist ein bisschen wie bei den Kutschpferden, die mit Scheuklappen an den Augen seelenruhig durch den Autoverkehr von New York traben: Manchmal ist es besser für die Psyche, nicht ganz so genau zu wissen, wie irrsinnig das ist, was man gerade tut.
Ich habe mir deshalb schon im Ärmelkanal und bei der Bodenseequerung angewöhnt, den Blick systematisch unten zu halten, meinen Sichtradius auf mein Begleitboot und das Wasser unter mir zu begrenzen. Meine Moral bleibt höher, wenn ich nicht weiß, wie viel noch fehlt.
Wir teilen uns auf. Papa und Adam klettern mit den Vorratstaschen auf ein rotes Dingi, das direkt neben mir fahren wird. Joshua und Rafael bemannen das größere Boot, die Columba Uno. Sie werden vorausfahren.
Ab jetzt spreche ich mit niemandem mehr, fokussiere mich auf meine Atmung und das, was vor mir liegt. Es ist fast windstill, trotzdem richten sich die Härchen auf meinen Unterarmen auf – Gänsehaut. Meine Achseln und mein Nacken sind eingefettet, meine Badekappe sitzt eng, die Schwimmbrille drückt auf die Stirn. Die Schiene an meinem Zeigefinger habe ich abgenommen, das gestauchte Gelenk ist nur noch mit pinkem Tape fixiert. Die Boote lassen die Motoren an und nehmen Kurs auf den Startpunkt: eine Klippe mit Leuchtturm, die südlich vor Tarifa in die Meerenge ragt. Vom Boot aus lasse ich mich ins kühle Wasser und schwimme zum Felsen. Keine Wellen, zum Glück. Ich lege eine Handfläche auf den pockigen, rauhen Stein und warte auf Rafaels Signal. Ich nehme ein paar letzte, tiefe Atemzüge und wiederhole innerlich, was Adam mir am Vorabend aufs Handy gesprochen hat.
Du hast dich perfekt vorbereitet. Alles andere liegt außerhalb deines Einflusses.
Als das Tröten des Druckluft-Horns übers Wasser schallt, verlässt meine Hand Europa.
Einen Tipp von Adam habe ich entschieden zu ignorieren: das sparsame Einteilen der Kräfte. Ich weiß, die Bedingungen sind ideal wie selten – und 14 Kilometer eine Strecke, für die ich nicht an meine Kraftreserven muss. Ich werde hier keine acht Stunden brauchen, so viel ist klar. Am Tag zuvor, hat Rafael erzählt, ist ein Brite die Strecke in knapp fünf geschwommen. Vielleicht liegt es an dem immer noch nagenden Gefühl der Niederlage aus dem Ärmelkanal, vielleicht am Adrenalin, der Motivation von Papa und Adam oder den vielen Nachrichten von Freunden, die mir Glück wünschen – jedenfalls nehme ich mir vor, von Anfang an ein hohes Tempo zu setzen.
Diesmal will ich mir beweisen, was ich kann.
Es dauert nicht lange, bis sich die ersten Tanker nähern. Von links, aus dem Mittelmeer, nach rechts, Richtung offenem Atlantik, Amerika. Wegen der Wale dürfen Schiffe in der Straße von Gibraltar nicht schneller fahren als 13 Knoten, 24 Stundenkilometer. Aber auch so schieben die hochhausgroßen Stahlungetüme eine Bugwelle vor sich her, die die bisher spiegelglatte Wasseroberfläche zu einem riesigen Waschbrett machen. Sie schicken ein Dutzend anderthalb Meter hohe Wellen in kurzen Abständen in unsere Richtung. Ich muss meinen Kurs korrigieren, weil die Bugwellen mich aus der Bahn schubsen. Beim Atmen sehe ich aus dem Augenwinkel das rote Dingi, auf dem Adam und Papa hin und her geworfen werden wie Kinder auf einer Rodeomaschine im Freizeitpark.
Ich schwimme ein Stück vor dem Dingi, vorne rechts. Mein großer Wunsch war, nicht neben oder gar hinter dem Motor zu sein. Der Geruch von Bootsabgasen löst in mir immer noch einen Würgereflex aus. Meinem Körper sitzt die Erinnerung an den Ärmelkanal immer noch in jeder Faser.
Außer den Wellen erinnert mich zum Glück wenig an die unglücklichen Stunden zwischen Dover und Calais. Das Wasser ist zwar gleich kalt, aber die Sonne wärmt mir etwas den Rücken. Insgesamt ist es erstaunlich, was für einen freundlicheren Eindruck das Meer macht, sobald man unter einem blauen Himmel schwimmt. Das Wasser unter mir leuchtet bläulich, freundlich, lebendig. Seitlich einfallende Sonnenstrahlen lassen das Meer glitzern – gefühlt ist das hier ein Lebensraum und keine Todeszone. Und ich bin ein Teil davon.
Rafael schippert einen halben Kilometer vor uns und dreht gelegentlich bei, um Wasserströmungen zu beobachten oder uns vorsorglich aus der Spur eines Lastenschiffs zu steuern. Der Fahrer des Dingis ist per Funk mit ihm verbunden. Inzwischen passiert uns alle Viertelstunde ein Lastschiff oder eine Fähre. Das Wanken, die Kurskorrektur, die Rodeomaschine werden zum Normalfall.
Nach einer Stunde bekomme ich mein erstes Getränk. Papa wirft mir die Flasche mit Kohlenhydrat-Mixtur zu. Mein Magen verträgt nicht mehr als eine Portion davon, deshalb nehme ich die als Erstes. Papa wirkt fröhlich: »Läuft doch super, mein Schatz!« Daumen hoch. Ich werfe die Flasche zurück und drehe mich wieder auf den Bauch. Weiter.
Ich mache einen routinemäßigen Körpercheck und spüre, dass meine Muskeln mit jeder Faser bereit sind, Leistung zu bringen. Das Training mit Joshua, die Gespräche mit Adam, alles kommt jetzt so zusammen, wie es soll: Sämtliche Kontrolllämpchen sind auf grün. Ich nehme wieder das hohe Tempo auf, das ich vom Start an gesetzt hatte. Links, rechts, links, atmen. Rechts, links, rechts, atmen.
Ich bin jetzt in der Phase der Überquerung, in der ich mich von 30 Minuten zu 30 Minuten hangele, von Feeding zu Feeding. Aber schon bei der nächsten Trinkpause merke ich, dass etwas komisch ist. Papa wirft mir die Flasche zu und ruft: »Trink schnell!« Auch Adam wirkt angespannt. Kaum habe ich die Flasche von den Lippen abgesetzt, drängeln die beiden schon weiterzuschwimmen.
Warum der Stress? Hat Rafael über Funk ein Kommando zur Eile durchgegeben? Hängen wir in einer Gegenströmung fest, aus der ich mich mit voller Geschwindigkeit freikämpfen muss? In den Gesichtern meines Teams sehe ich, dass jetzt keine Zeit für Erklärungen ist. Ich habe gelernt, dass ich in solchen Situationen den Kommandos vom Begleitboot blind vertrauen muss. Ich schwimme mit voller Kraft weiter.
Ich bin jetzt mental endgültig im Tunnel, konzentriere mich auf meine Arbeit. Ich merke nicht mehr, wie knapp uns Rafael an Tankern vorbeilotst oder wie weit wir in Richtung Atlantik abdriften. Ich lasse den Blick unten, wie ich es mir angewöhnt habe: Scheuklappen. Allmählich spüre ich die Kosten meines hohen Tempos: Die Muskulatur in meinen Beinen und Schultern wird langsam müde. Ich überschlage im Kopf, wie diese ersten Zeichen von Müdigkeit sich zeitlich entwickeln werden, und komme zu dem Schluss: Fünf Stunden halte ich in der Geschwindigkeit nicht durch. No way. Wenn ich die zweite Hälfte der Strecke nicht in Schneckengeschwindigkeit zurücklegen will, muss ich demnächst ein Tempo finden, das nachhaltig ist. In meinem jetzigen Takt verbrenne ich meine Langstrecken-Reserve.
Nur scheint keiner aus meinem Team an meinen begrenzten Kräftehaushalt zu denken. Anstatt mich zu bremsen, ans Kraftsparen zu erinnern, fällt die nächste Trinkpause, nach zwei Stunden, noch kürzer und gehetzter aus: »Auf geht’s, mein Schatz, beeil dich«, ruft Papa und zieht die Flasche am Seil fast weg, bevor ich sie geleert habe. Adam trommelt währenddessen mit den Handflächen rhythmisch auf den Rand des Schlauchboots, als würde er eine Sambatruppe anführen.
Langsam mache ich mir Sorgen.
Warum die Hektik? Zerrt uns eine Strömung in Richtung offenes Meer? Zieht hinter uns ein Gewitter auf?
»Was ist denn los?!«, rufe ich.
»Du machst das super«, Papa wirft mir eine Kusshand zu. »Gib einfach weiter Gas!«
Im Wasser vergeht die Zeit anders als an Land. Das Gefühl für Sekunden, Minuten und Distanzen verschwimmt, wortwörtlich. Beim Schwimmen kann ich einem tiefgründigen Gedanken folgen, in kleinsten Verästelungen denken, mir die möglichen Folgen einer wichtigen Entscheidung ausmalen, was an Land, an meinem Schreibtisch, zehn Minuten dauern würde – im Wasser sind keine fünf Sekunden vergangen. Andererseits passiert es, dass ich im Rhythmus meiner Arm- und Atemzüge in eine solche Trance verfalle, dass ich kurz nicht aufpasse, und schon ist eine halbe Stunde rum.
Keine Ahnung, ob Albert Einstein jemals lange Strecken geschwommen ist – aber seine berühmte Theorie verdient definitiv ein Extrakapitel über die gefühlte Relativität der Zeit im Wasser.
Während ich nun irgendwo zwischen Europa und Afrika aus aller Kraft kraule, gibt mir mein Zeitgefühl allerdings ein sehr eindeutiges Signal: Es müsste längst wieder Zeit für ein warmes Getränk sein! Zweieinhalb Stunden sind locker rum. Aber das Dingi macht keine Anstalten zu stoppen, Papa hat keine Flasche in der Hand, Adam hängt inzwischen mit dem halben Oberkörper über dem Wasser und feuert mich lauthals an. Ich halte kurz inne.
»Was ist denn los? Wo bleibt mein Getränk?«
»Es gibt nix zum Trinken«, ruft Adam. »Vertrau mir und gib Gas! Du packst das!«
Wollen die mich verarschen? Ich nehme mir vor, später ordentlich auf den Tisch zu hauen. Haben wir das nicht hundertmal besprochen? Nach der ersten Stunde gibt es alle halbe Stunde ein Getränk oder einen Snack! Was soll das, mir einfach die Verpflegung vorzuenthalten? Wie soll ich fünf Stunden schwimmen, wenn ich schon bei der Hälfte keine Stärkung mehr bekomme?
Ich schalte auf Trotz. Zwar wird mein Mund langsam trocken, aber weil ich mich ansonsten immer noch kräftig und fit fühle, tue ich, was Adam mir gesagt hat – und gebe Gas. Er wird schon sehen, wie meine Leistung früher oder später abschmiert.
Ich bin sauer und hungrig zugleich.
20 Minuten später bin ich noch immer leicht verstimmt. Aber die Magie des Wassers wirkt wie immer auf mich, beruhigend und ausgleichend. Ich nehme den hunderttausendsten Atemzug, blinzele in die Sonne, drehe den Kopf zurück ins Wasser – und pruste die Luft vor Schreck direkt wieder aus.
Wie bitte?!
Ich muss zweimal hingucken, bis ich es glaube.
Unter mir in der Tiefe sehe ich dunkelgrüne Streifen, die sich langsam hin und her bewegen. Seegras. Der Meeresgrund ist plötzlich sichtbar. Mitten in der Straße von Gibraltar! Ist es möglich, dass es hier eine Untiefe gibt? Würden die Lastschiffe hier nicht auf Grund laufen? Ich kraule weiter, links, rechts, links, aber der Boden fällt nicht wieder ab, im Gegenteil: Das Wasser wird immer flacher. Heller Sand löst den Algenteppich ab. Irgendwann sind nur noch drei Meter Wasser unter mir, ich sehe Felsen im Sand und kleine Schulen mit Jungfischen. Das Wasser wird hellgrün, dann türkisgelb, die Sonnenstrahlen erreichen den Grund. Schließlich schwimme ich über quer unter mir verlaufende, kaum sichtbare, dünne Fäden. Angelschnüre?
Ich hebe den Kopf nach vorne aus dem Wasser und traue meinen Augen kaum. Da sind Klippen. Darauf stehen Männer mit Angelruten. Zwei von ihnen winken mir zu. Ich grinse zurück. Ich bin da, auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar – am Ziel! Ich war so in Gedanken, so hinter den Scheuklappen vergraben, dass ich nicht bemerkt habe, wie nah ich schon war.
Von hinten höre ich laute Rufe und Klatschen: Papa und Adam feuern mich an. Ich reiße mich aus der Erstarrung und sprinte die letzten 30 Meter zu den Felsen. Auf einen, der flach im Wasser liegt, klettere ich auf allen Vieren, wie ein ungeschickter Krebs. Dann stehe ich mit wackeligen Beinen auf. Laut Regeln muss mein ganzer Körper aus dem Wasser heraus. Applaus brandet auf, von drei Seiten: von dem roten Dingi, das direkt vor dem Felsen im Wasser dümpelt. Von der Columba Uno, die etwas weiter draußen wartet. Und von den marokkanischen Anglern über mir auf der Klippe. Ich schiebe die Schwimmbrille auf die Stirn und blinzle übers Wasser in Richtung Horizont, wo Spanien liegt wie ein bräunlicher Pfannkuchen.
Ich habe es geschafft!
Als ich über die Leiter auf Rafaels Boot klettere, herrscht Partystimmung. Adam singt und klatscht, Papa hat Tränen in den Augen. Joshua legt mir strahlend den Wärmemantel um, Rafael gibt mir ein High Five. Dann, endlich, verstehe ich den Grund für die Eile im Wasser, für den unerklärlichen Geiz mit den Getränken und Snacks. Der kleine Capitán hält eine Stoppuhr hoch, die an einer Kordel um seinen Hals hängt, und sagt mit feierlicher Stimme: »Zwei Stunden 53 Minuten. Gratuliere zum neuen Weltrekord!«
Im Boot auf dem Rückweg fühle ich mich, als könnte ich die Strecke direkt wieder zurückschwimmen. Mein Herz läuft über, vor lauter Stolz, Glück und Erleichterung. Als wir in Spanien schon wieder einzelne Häuser erkennen können, taucht im Kielwasser eine Gruppe Delfine auf. Sie springen links und rechts vom Bug in die Luft, schlagen Salti und eskortieren uns bis kurz vor den Hafen. Ich fühle mich fast wie einer von ihnen.