Jetzt steige ich richtig ein. Der Erfolg in Kalifornien löst einen Knoten in meinem Unterbewusstsein, der mich lange zurückgehalten und gebremst hat. Ich habe jetzt keine Zweifel mehr: Ich bin Freiwasserschwimmerin, mein Ziel sind die Ocean’s Seven, und auf diese Herausforderung fokussiert sich all meine Energie. Mein innerer Bedenkenträger sitzt gefesselt und geknebelt irgendwo in einem Winkel meines Hirns, wo er mich nicht weiter behindert.
Mein Plan ist es jetzt, alle anderen Freiwasserschwimmen zu absolvieren, die sich anbieten. Ich will mir Routine erarbeiten. Nur einen Monat nachdem ich in Los Angeles an Land geklettert bin, sitze ich in einem Flugzeug nach Istanbul. Ich trete bei einem Wettkampf im Bosporus an, dem berühmten »Cross-Continental Swim«. Einmal im Jahr stoppt die Türkei dafür einen Tag lang den Schiffsverkehr in einer der wichtigsten Verkehrsstraßen der Welt. Mehr als 2000 Schwimmer springen gleichzeitig auf der asiatischen Seite ins Wasser und verwandeln den Bosporus in eine brodelnde Suppe aus zuckenden Körpern mit roten Käppchen. Es geht 6,5 Kilometer nach Süden, vom Schwarzen Meer mit der Strömung im Rücken in Richtung Marmarameer, begleitet von rund hundert Booten der Küstenwache. Als ich auf der europäischen Seite wieder an Land klettere, in einem Park mitten im schicken Istanbuler Stadtteil Kuruçeşme, brandet Applaus auf. Ich bin mit 58 Minuten die zweitschnellste Frau.
Den Herbst und Winter über konzentriere ich mich auf mein Studium an der Uni Marburg. Nach Neujahr fliege ich für zwei Monate nach Australien. Dort trainiert einer der bekanntesten Freiwasser-Coaches der Welt, Vlad Mravec, in einem Schwimmbad in Bondi Beach, Sydney. Jeden Morgen ab sechs versammelt sich dort eine Gruppe Schwimmer, um gemeinsam im Salzwasserbecken zu trainieren. Es ist eine Mischung aus jungen, ehrgeizigen Athleten mit Ambitionen auf Wettkämpfe und Turniere und älteren Freiwasserschwimmern, die sich für eine persönliche Langstrecken-Challenge fit machen wollen. Zum ersten Mal seit Mallorca trainiere ich überhaupt wieder mit anderen Menschen zusammen. So wenig ich auch von meinem alten Leben im Schwimmbecken vermisse, so sehr merke ich doch, wie sehr mir der Teamgeist fehlt.
Vor meiner Abreise trete ich noch in Perth an, bei einem großen Wettschwimmen durch den Rottnest Channel. Zwanzig Kilometer, auch hier starten Hunderte Schwimmer gleichzeitig. Die Strecke ist kein Teil der Ocean’s Seven, aber eine willkommene Herausforderung für mich, die ich hungrig bin nach Erfolgen, nach Bestätigung für mein Ziel. Ich schwimme schnell und konzentriert, lasse den Großteil der Gegner schon nach einer halben Stunde hinter mir. Erst als ich im Ziel meine Brille abnehme, merke ich, dass ein paar Hundert Meter hinter mir alle langsameren Mitschwimmer das Wasser verlassen mussten: Ein Helikopter der Küstenwache hatte aus der Luft einen Hai gesichtet. Ich bin die schnellste Europäerin.
Meine nächste Etappe für die Ocean’s Seven steht inzwischen fest. Im August werde ich die Tsugaru-Straße überqueren. Sie verläuft zwischen der japanischen Hauptinsel Honshū und der Insel Hokkaidō im Norden. Es ist diejenige Strecke, die die höchste Abbrecherquote der sieben hat, wegen starker Winde und einer komplizierten Strömung. In der Mitte des Kanals, wo der Nordpazifik auf das Japanische Meer trifft, entstehen rechtwinklig zueinander laufende Strömungen und Wellen, die sogenannte »Kreuzsee«. Je nach Wetter reißt ein Sog in der Geschwindigkeit eines Flusses jedes Boot und jede Person im Meer an der nördlichen Insel vorbei. Hier müssen Schwimmer nach etwa vier Stunden im Wasser plötzlich einen Sprint einlegen, um die Strömung zu durchbrechen und das Ufer zu erreichen.
Es klingt wie der reinste Horror.
Bei Vlad im Trainingslager lerne ich einen erfahrenen australischen Schwimmer namens Dean kennen, der mir alle Einzelheiten erklärt. Dean hat sämtliche Etappen der Ocean’s Seven bereits geschafft. Nur die Tsugaru-Straße fehlt ihm noch. Er hat sie bisher dreimal versucht – vergeblich.
Während Japan für mich eine neue sportlich-mentale Herausforderung darstellt, geht Joshua die Sache mit technischem Ehrgeiz an. Monatelang fuchst er sich in die Details der Strömung hinein. Er analysiert Messdaten der japanischen Marine, gleicht sie mit meiner Schwimmgeschwindigkeit aus den bisherigen Überquerungen ab und entwickelt schließlich zusammen mit einem Programmierer, der selbst Freiwasserschwimmer ist, eine eigene App. Das Programm stellt die verschiedenen Strömungen der Tsugaru-Straße in Echtzeit als farbige Flächen mit Pfeilen dar. Blaue Fläche heißt: drei Stundenkilometer Strömung. Das könnte ich mit meiner Schwimmgeschwindigkeit gerade noch durchqueren. Sobald eine Fläche grün angezeigt wird, bewegt sich dort das Wasser mit fünf Kilometer pro Stunde: Dort hätte ich als Schwimmerin keine Chance, die Position zu halten. Mit dem Programm will Joshua für mich in Echtzeit die ideale Route finden.
Vorher steht im Juni noch ein anderer großer Punkt auf meiner Liste: die Umrundung Manhattans. Das »20 Bridges Swim« ist eine der ikonischsten Herausforderungen für Open Water Swimmer. Mein Team und ich fliegen nach New York – mit einem neuen Mitglied: meinem jüngeren Bruder Niklas. Er ist ein Teenager und neben Papa längst mein größter Fan und wichtigster mentaler Unterstützer.
Das Rennen beginnt am Battery Park, an der Südspitze der Insel Manhattan. Von dort führt die Strecke entgegen dem Uhrzeigersinn den East River hinauf, in den Harlem River und auf der Westseite den Hudson wieder hinab. Wobei die drei Rivers genau genommen gar keine Flüsse sind, sondern Gezeitenmeerengen oder Flussmündungen; man schwimmt also im Salzwasser des Atlantiks.
Die Länge ist absolut brutal. 46 Kilometer, fast so viel wie der Ärmelkanal plus die Straße von Gibraltar zusammen. Und es gibt noch ein größeres Problem als die reine Distanz, eines, das ich bisher noch nicht kannte: die miese Wasserqualität. Bevor ich in die braune Brühe steige, mit Blick auf Ellis Island und die Freiheitsstatue, nehme ich eine Schluckimpfung gegen Cholera. Dann schwimme ich einen ganzen Tag lang an Mülltüten vorbei, aufgedunsenen toten Ratten, Windeln und alten Spritzen. Zum ersten Mal sehe, spüre und schmecke ich den Abfall der menschlichen Zivilisation, wie er überall auf der Welt rund um die Uhr ins Meer schwemmt.
Immerhin ist nicht nur der Gestank atemberaubend, sondern auch die Szenerie. So viel visuelle Abwechslung hatte ich beim Schwimmen noch nie. Immer wenn der Würgereiz einsetzt, weil meine Hand beim Kraulen mal wieder in ein weiches Stück Abfall gegriffen hat, versuche ich, mich auf die Skyline zu konzentrieren. Trotzdem muss ich mich mehrmals übergeben. Ich zähle die 20 Brücken im Countdown herunter, und als ich die letzte durchschwommen habe, bin ich nach gut acht Stunden wieder am Battery Park angekommen. Ich bin die schnellste Deutsche und drittschnellste Europäerin.
Damit habe ich quasi nebenbei die ehemals härteste Freiwasser-Challenge geschafft: Die Kombi aus Ärmelkanal, Catalina-Channel und Manhattan-Umrundung gilt auch als »Triple Crown of Open Water Swimming«, quasi der Olymp des Marathonschwimmens. Erst seit ein amerikanischer Schwimmer namens Steven Munatones 2008 die Ocean’s Seven erfand, gibt es eine noch brutalere, noch unmenschlichere Herausforderung. Aber für eine Krönungsparty ist keine Zeit. Ich bin nicht nur in Gedanken, sondern auch mit dem Training schon halb in Japan.
Das Timing ist so knapp, wie es nur sein kann. Nach New York bleibt gerade mal ein Monat, bis die Tsugaru-Straße ansteht. Ich brauche jede Minute Ruhe, die mein Körper bekommen kann, um meine Muskeln von der Manhattan-Runde zu erholen und auf diese nächste Challenge vorzubereiten. Während Joshua die Strömungs-App entwickelt hat, habe ich mich so gut eingelesen und mit anderen Schwimmern gesprochen wie vor keiner anderen Querung bisher. Und meine Recherche macht mir leider nicht unbedingt Mut: In manchen Jahren, finde ich heraus, schafft es von zehn Schwimmern pro Saison kein einziger ans andere Ufer. Das Wetter in dieser Meerenge ist so unberechenbar wie in den Alpen.
Und es gibt noch ein Problem. Man findet kaum einen Kapitän, der einen begleitet. Die erfahrenen Seeleute der Tsugaru-Straße wollen ihre Zeit nicht mit Schwimmern verplempern. Die Meerenge ist nämlich ein legendärer Fischgrund. Und die Schwimmsaison im Sommer überschneidet sich mit der besten Jahreszeit für die Jagd auf den Blauflossen-Thunfisch – den teuersten Speisefisch der Welt. Er wird in Japan für unglaubliche 1000 Euro pro Kilo gehandelt. Kein Wunder, dass kaum ein erfahrener Fischer Lust hat, auf dieses Geld zu verzichten. Nach langem Hin- und Her bekommen wir von der zuständigen Observerin für Japan, einer Frau namens Aiko, den Kontakt zu einem Kapitän, der viele Schwimmer bereits gefahren hat. Wir buchen ihn also für die Überfahrt.
Anfang August 2018 fliegen wir nach Tokio. Es ist mein erstes Mal in Japan, und ich bin begeistert. Die Stadt liegt an einer Bucht und sieht mit ihren bunt blinkenden Wolkenkratzern schon beim Landeanflug aus wie aus einem Science-Fiction-Film. Und dieser Eindruck verstärkt sich noch, als wir im Zentrum angekommen sind. Es fühlt sich an wie eine Zeitreise in die Zukunft. Adam, Joshua, Papa und ich kommen aus dem Staunen nicht heraus. Wir staunen über die vollautomatischen beheizten Toiletten, über die schmalen, bauklotzförmigen Autos, über die winzig kleinen Supermärkte, die Automaten-Restaurants und über die Miniatur-Hotelzimmer, in denen die Duschbrausen aus Platzgründen direkt am Waschbecken angeschlossen sind. Japan wirkt auf mich wie eine Parallelwelt, in der sich die technische Evolution viel schneller und komplett unabhängig von europäischen Standards entwickelt hat. Selbst die Bedienung eines Kaffeeautomaten folgt einer ganz eigenen, mir zunächst völlig fremden Logik. Was für ein fremdes, faszinierendes Land!
Meine Überquerung findet irgendwann innerhalb einer Woche statt – je nach Wetter. An der Nordspitze der Insel, zu der wir wollen, gibt es nichts außer ein paar Fischerhütten. Die wenigsten Japaner waren je dort, es ist eine unwirtliche, kaum erschlossene Gegend. Wir warten also in Tokio. Nur wenige Menschen in Japan sprechen Englisch, schon gar nicht in den ländlicheren Regionen, deshalb haben wir einen Übersetzer engagiert, einen älteren Herrn namens Toshi, der zu jeder Tages- und Nachtzeit ein frisch gebügeltes Hemd und Krawatte trägt. Mehrmals täglich telefoniert er mit Aiko, der Observerin, die wiederum in Kontakt mit dem Kapitän steht. Tag für Tag lautet die Nachricht: »Es sieht schlecht aus.«
An einem Tag fegen Sturmböen durch die Meerenge. Am Tag darauf sind wegen des Sturms am Vortag die Wellen zu hoch. Dann setzt der nächste Sturm ein. Am vierten Tag schließlich gibt Aiko das erlösende Kommando: »Übermorgen sollte es klappen.«
Wir planen unsere Reise in den Norden. Unser Vertrauen in die Hochtechnologie Japans ist zu diesem Zeitpunkt quasi vollkommen. Wir wissen, wir sind im Land der funktionierenden Schnellzüge, weshalb wir mit dem Shinkansen, dem berühmten Hochgeschwindigkeitszug, in den Norden fahren wollen. Für die 700 Kilometer bräuchten wir mit dem Auto acht Stunden, im Shinkansen drei.
Nur leider wissen wir zu diesem Zeitpunkt nicht, dass genau in dieser Woche ein japanischer Feiertag ist: »Obon«, oder auch das »Fest der Seelen«. An drei Tagen im August, genau während meines Schwimm-Slots, kehren laut buddhistischem Glauben die Geister verstorbener Familienmitglieder in das Reich der Lebenden zurück und besuchen ihre Angehörigen. Um diesen besonderen Moment nicht zu verpassen, setzt sich das gesamte Land in Fernzüge Richtung ihrer Heimatdörfer und besucht für ein paar Tage die Verwandtschaft. Ein toller Moment, um die dann menschenleeren Großstädte Japans zu besuchen – aber der absolut schlechteste Zeitpunkt, um aufs Land zu fahren. So wie wir.
Alle Züge Richtung Norden sind ausgebucht. Nicht ein einziger Shinkansen hat noch fünf Plätze frei. Toshi und Joshua verbringen Tag und Nacht am Tokioter Bahnhof, verhandeln erst mit den Verkäufern an den Schaltern, dann, als das erkennbar nichts bringt, mit privaten Pendlern, die dort in Grüppchen auf ihre Abreise warten. Sie bieten ihnen Geld an. Sie bieten ihnen mehr Geld an. Aber selbst als sie den Pendlern vor lauter Verzweiflung grotesk hohe Summen für fünf Tickets anbieten, lautet die Antwort: »Lieber nicht, danke.« Die Japaner sind nicht nur höflich, sondern auch absolut unbestechlich, wenn es um die Geister ihrer Verwandten geht.
Der Tag der Abreise. Heute müssen wir in den Zug kommen – oder doch einen Mietwagen nehmen, der uns viel wertvolle Zeit und Energie kosten würde. Mit der Kraft der Verzweiflung fahren wir frühmorgens an den Bahnhof. Mit unseren Taschen bepackt stehen wir inmitten des unglaublich gut organisierten Wirbelsturms aus Pendlern am gigantischen Hauptbahnhof. Und tatsächlich: Am Vorabend haben wir über Kontakte von Toshis Verwandten ein paar Tickets bekommen. Nur noch eins fehlt. Das müssen wir uns am Bahnsteig organisieren. Eine Gruppe verzweifelter Touristen, so unsere Hoffnung, bewirkt vielleicht noch ein Wunder.
Eine Stunde lang ist es immer das Gleiche: Sobald ein Reisender in der Nähe des Gleises steht, auf dem die Züge nach Norden abfahren, geht Toshi freundlich lächelnd auf ihn zu und macht eine tiefe Verbeugung. Hinter ihm geht Joshua, schüchtern lächelnd. Dahinter, in höflicher Distanz, stehen Papa, Adam und ich vor dem Berg Reisetaschen und gucken so freundlich, verloren und bemitleidenswert, wie wir nur können. Aber auch heute will niemand sein Ticket abgeben.
Schließlich sichtet Toshi einen jungen Mann. Er trägt Kopfhörer und Umhängetasche und lehnt so entspannt an einer Säule, als würde er den ganzen Tag hier verbringen. Begleitet von vielen kleinen Verbeugungen trägt unser Übersetzer unseren Fall vor, Joshua lächelt, Papa und Adam lächeln, ich lächle und winke. Der junge Mann guckt Toshi an, zuckt mit den Schultern und zieht ein Ticket aus der Umhängetasche. Ungläubige Blicke in unserem Team. Dann kommt Toshi strahlend zurück und wedelt mit der Fahrkarte. Wir jubeln. »Wie viel Geld wollte er eigentlich dafür?«, frage ich später unseren Guide, als wir in den Zug steigen. »Den offiziellen Verkaufspreis«, sagt unser Übersetzer, »keinen Yen mehr.«
Ach, Japan.
Der Zug rauscht mit 300 Stundenkilometern fast lautlos in Richtung Norden. Natürlich sind alle Plätze belegt. Zwischen den Waggons quetschen sich diejenigen Passagiere, die nur noch Stehtickets bekommen haben. Aber trotz der Enge seufzt, murrt, motzt niemand. Ein junger Japaner, der einen Sitzplatz hat, kommt mit Adam ins Gespräch. Er kann mein Vorhaben, von dieser Insel auf die nächste zu schwimmen, erst nicht glauben – und besteht dann darauf, dass ich mich auf seinen Platz setze, während er steht. Ich denke an den mir bevorstehenden Kampf gegen die höllische Strömung und nehme das Angebot an.
Auf die Sekunde pünktlich kommt der Zug in Aomori an, der größten Stadt im Norden der Insel Honshū. Wir steigen in einen gemieteten Van und fahren weiter, immer weiter, bis an die nördlichste Spitze der Insel: Kap Tappi. Kaum mehr als ein hundert Meter hoher Felsen, der nördlich in die Tsugaru-Straße ragt. Das Kap ist windumtost, es bläst hier selten mit weniger als 40 Stundenkilometern. Die Landzunge ist so rauh und unwirtlich, dass die hoch technologisierte japanische Zivilisation offenbar erst gar nicht versucht hat, hier Fuß zu fassen: Es gibt nur ein paar Windräder, einen Leuchtturm, einen kleinen Fischereihafen und, hoch oben auf einer Klippe, ein Hotel. Drum herum sieht die Klippenlandschaft so wild und unbewohnt aus, als stünde sie auf einem fremden Planeten. Wir betreten das Hotel. Scheinbar sind wir die einzigen Gäste. Kein Mensch ist zu sehen. Im Foyer begrüßt uns nur das mehrere Meter hohe Modell eines traditionellen japanischen Fischerboots. Dahinter sehe ich aus dem Fenster, wie der Ostwind Schaumkronen in die grüngraue Meerenge peitscht. Dort muss ich also morgen durch.
Wir schlafen eine Nacht in winzigen Dreibettzimmern. Die meisten Zimmer haben keine westlichen Matratzen, sondern nur hauchdünne Bambusmatten, auf denen man schläft. Auch die Dusche wirkt wie aus einer Welt für Hobbits: Das Wasser sprudelt knapp über Bauchnabelhöhe aus der Wand. Und auch das notwendige Carboloading am Abend vor dem Schwimmen entpuppt sich als Herausforderung: Zum ersten Mal, seit ich schwimme, gibt es kein Restaurant, das Pasta serviert. Es gibt überhaupt kein Restaurant. Außer das menschenleere Lokal im Erdgeschoss des Hotels. Wir essen also Sushi, und weil ich davon nicht ganz so viel essen kann, wie mein Körper an Kohlenhydraten braucht, zwinge ich mich danach noch, zwei Extraschalen trockenen Reis zu essen.
Am nächsten Abend um zehn geht es los. Wir fahren im Van Richtung Hafen. Über eine stockfinstere schmale Straße, die sich in Schlangenlinie den Berg hinabwindet. Jenseits der Autoscheinwerfer ist es finster wie im Bauch eines Wals – oft sehe ich nicht mal, auf welcher Seite der Straße das Meer liegt.
Der Hafen ist genauso finster. Nicht eine einzige Laterne erhellt ihn – er wird offenbar nur tagsüber benutzt. Mit Taschenlampen in der Hand suchen wir den Liegeplatz unseres Bootes. Ich trage Jogginghose und Wärmemantel über dem Badeanzug. Der Wind hat etwas nachgelassen, trotzdem ist es kalt. Toshi bleibt an Land, dafür ist jetzt Aiko bei uns, die Observerin. Eine ehemalige Triathletin um die 40, die jede offizielle Überquerung der Tsugaru-Straße begleitet.
Nach einigem Suchen finden wir den Liegeplatz des Bootes. Aus der Dunkelheit kommt unser letztes Teammitglied auf uns zu und begrüßt uns mit einer Verbeugung: Kapitän Yamamoto. Er ist ein hagerer Mann mit grauen Stoppeln auf dem Kopf und einem Gesicht, das von Jahrzehnten Wind und Sonne die Struktur von zerknittertem Wildleder angenommen hat. Er könnte 50 sein, aber auch 80. Yamamoto trägt schwere Gummistiefel und eine riesige blaue Latzhose aus wasserfestem Ölzeug, aus der er gerade so oben herausgucken kann.
Als ob er diesen Umstand ausgleichen wollte, ist sein Fischerboot riesig, sicher mehr als 20 Meter lang. Ein rustikaler Thunfischfänger mit drei Masten und großem offenen Deck mit frei herumliegendenden Netzen und ungesicherten Harpunen. Große Eisboxen stehen am Rand. Von den Masten hängt schwere Takelage, ein paar Schiffsleuchten werfen kleine Lichtkegel auf die Arbeitsfläche, auf der sonst die riesigen Raubfische gefangen und verladen werden. In einer Ecke liegen Schwimmwesten, die aussehen, als hätte man sie schon im Zweiten Weltkrieg verwendet.
Das hier, sieht man sofort, ist kein Boot für Touristen oder Taucher. Das hier ist ein Arbeitsschiff. Es wirkt, als wäre es erst vor zehn Minuten von einer Fangfahrt zurückgekehrt. Und der Kapitän steuert es allein, vermutlich um Geld zu sparen. Mit leicht mulmigem Gefühl trage ich meine Taschen an Deck.
Nach den Regeln des japanischen Freiwasser-Verbands wird mich auf meiner Querung noch ein zweites Boot begleiten. Es fährt ein paar hundert Meter vor diesem Boot, um die Strömung zu kontrollieren. Dieses zweite Boot, sagt Aiko, wartet am Startpunkt auf uns.
Bis dorthin ist es eine Viertelstunde Fahrt übers Wasser. Der Kapitän löst die Leinen von der Hafenmauer. Dann verschwindet er in der kleinen Kabine, in der sein Steuerstand liegt. Der Dieselmotor springt an und bullert uns langsam aus dem Hafen. Sofort spüre ich den Seegang der Tsugaru-Straße. Der Bug hebt und senkt sich im Rhythmus der Wellen, jenseits des grell erleuchteten Decks umfängt uns komplette Dunkelheit.
Es ist Zeit für die Adam-Motivation. Wir setzen uns auf eine der Eisboxen, ganz vorne am Bug. Neben uns liegt ein gigantischer Anker aus Stahl, dessen Spitze messerscharf in die Luft ragt. Gegenüber hockt Joshua lässig auf der Reling und guckt ins Schwarze. Papa kniet irgendwo am Heck über den Taschen und sortiert die Getränke und Snacks.
Adam spult sein übliches Mantra ab. Ich kenne es zwar schon so gut wie auswendig, aber es hat mir bisher in so vielen Situationen geholfen, dass es zu meinem festen Ritual gehört, mich vor jedem längeren Schwimmen noch mal neu von Adam briefen zu lassen.
»Fang langsam an. Es gibt keinen Grund, unnötig Energie zu verschwenden.«
Der Dieselmotor wummert, das Schiff hebt und senkt sich.
»Heb dir die Geschwindigkeit auf für die Mitte des Kanals, wenn du die Strömung durchbrechen willst.«
Ich nehme Adams Worte wie durch einen Schleier wahr, während ich geradeaus auf den Boden gucke. In Gedanken bin ich längst im Wasser. Wie ein Pilot auf der Startbahn gehe ich ein letztes Mal alle Steuerinstrumente und die vor mir liegende Strecke in Gedanken durch. Ich muss in Nordrichtung losstarten, um so viel Höhe wie möglich zu gewinnen, bevor mich die Seitenströmung erwischt. Sobald das passiert, muss ich die Richtung ändern und Gas geben, damit sie mich nicht an meinem Ziel vorbeitreibt. Ich kann das schaffen. Unser Plan ist genauestens durchdacht. Wenn ich mich nun nach den Anweisu …
In diesem Moment zerreißt ohrenbetäubender Lärm meine Gedanken. Ein splitterndes, tiefes Krachen. Der Boden hebt sich. Es ist, als würde der Horizont kippen.
Bevor ich verstanden habe, was passiert, verliere ich meinen Halt. Wie bei einer Vollbremsung im Auto fliege ich aus meinem Sitz. Ich knalle mit dem Oberkörper auf etwas Hartes, heißer Schmerz breitet sich in meiner Brust aus.
Benommen blicke ich auf. Ich liege auf meinem Rücken. Halb auf mir liegt Adam. Sein Kopf ist nur Zentimeter neben der Spitze des Ankers gelandet. Die Dunkelheit ist immer noch vollkommen, aber ich spüre, dass das Boot Schieflage hat.
Was ist passiert?
Ist der Motor in die Luft geflogen?
Sinken wir?
Adam rappelt sich zuerst auf, kämpft sich von mir herunter auf alle Viere, guckt über mir in die Dunkelheit, und sein eben noch schmerzverzerrtes Gesicht bekommt einen anderen Ausdruck.
»Holy shit!«
Ich setze mich auf. Und dann sehe ich, was er sieht.
Direkt vor dem Bug ragt eine Felswand auf. Wir hängen mit dem Boot auf einer grauen, rissigen Steinklippe, die mit pockigen Muscheln bewachsen ist. Wo der Lichtkegel endet, ragt sie weiter nach oben in Richtung Nachthimmel.
Endlich verstehe ich. Wir haben frontal einen riesigen Felsen im Wasser vor der Küste gerammt. Nun hängt es schräg auf dem Riff. Ungläubig blicke ich mich um. Ich muss mir das doch einbilden! Plötzlich dringt ein schrilles Rattern und Pochen in mein Bewusstsein.
Der Motor. Er läuft noch immer mit Vollgas. Die Schiffsschraube drückt das Boot mit gewaltiger Kraft ruckelnd immer weiter den Felsen hoch. Wir neigen uns immer weiter. Was, wenn das Boot kippt?
Adam hat es im selben Moment erkannt. Er sprintet in Richtung Heck. Im Augenwinkel sehe ich Joshua, der auf dem Rücken an Deck liegt. Er hat die Augen geöffnet und atmet. Gott sei Dank ist er nicht über Bord gegangen. Aber wo ist Papa? Ich stolpere nach hinten, das jetzt abschüssige Deck hinunter. Da steht er, neben ihm Aiko. Sie sehen zu Tode erschrocken, aber unverletzt aus. Links von mir kämpft sich Adam aus dem winzigen Steuerstand. Er zieht etwas hinter sich her, das auf dem Boden liegt. Ich gucke genauer hin: Es ist der Kapitän. Adam zieht ihn an den Trägern von dessen Latzhose. Er muss aufs Steuerrad geknallt sein. Er sieht aus wie tot.
Lieber Himmel, geschieht das hier gerade wirklich?
Alles, was jetzt passiert, nehme ich wie in Zeitlupe wahr. Ich bin unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Kaleidoskop der Gleichzeitigkeit, in dem ich völlig gelähmt bin, zum Zuschauen verdammt. Von hinter mir springt Joshua hinter das Steuer, findet den Zündschlüssel und dreht ihn nach links. Der Motor stirbt ab. Knirschend senkt sich das Boot ab und kommt auf dem Riff zur Ruhe. Adam kniet inzwischen neben dem Kapitän und drückt mit beiden Händen rhythmisch auf dessen Brustkorb.
Herzmassage. Unser Kapitän ist tot?
Joshua hat ein kleines orangefarbenes Gerät aus seiner Jackentasche gezogen. Ich erkenne es: unser Satellitensender für Notfälle. Er sendet unsere GPS-Daten automatisch an einen Server und stellt den Kontakt zum nächsten zuständigen Rettungsdienst her, egal wo auf der Welt. Bisher haben wir ihn nie benutzt.
Endlich. Nach Minuten, die sich wie Monate anfühlen, öffnet der Kapitän die Augen. Adam hebt ihn an der Latzhose auf die Beine wie einen Dreijährigen, der gestürzt ist. Yamamoto guckt uns aus aufgerissenen Augen an, als würde er uns zum ersten Mal sehen. Er murmelt etwas auf Japanisch. Aiko redet auf ihn ein. In dem Moment erfüllt ein ohrenbetäubendes Flappen die Nacht. Ein Helikopter nähert sich.
Langsam beginne ich, das Chaos an Bord zu überblicken. Unsere Taschen und Vorräte, die Fischernetze und Eimer sind beim Aufprall kreuz und quer übers Deck geflogen. Mit so viel Energie frontal einen Felsen zu rammen – hält ein Boot das aus? Bestimmt sinken wir bald! Dem Himmel sei Dank für unser GPS-Gerät – der Hubschrauber kann uns hoffentlich alle an Bord nehmen, bevor das Boot hier im Meer versinkt. Aber da merke ich: Das flappende Geräusch der Rotoren wird … leiser? Tatsächlich: Der Helikopter ist abgedreht.
»Was ist los?!«, frage ich Aiko.
Sie sagt, sie habe dem Piloten über Funk erklärt, was passiert ist. Weil der Kapitän wieder zu sich gekommen und das zweite Boot auf dem Weg sei, uns zu bergen, sei der Hubschrauber wieder verschwunden. Ich bin fassungslos. Sind wir hier nicht gerade in einer Notsituation? Unser Boot ist auf ein Riff gelaufen und nicht manövrierfähig. Unser Kapitän ist völlig weggetreten, sichtbar unter Schock. Es ist kalt, es ist dunkel, und wir sind viele Stunden von der nächsten Stadt entfernt. Ich fühle mich wie eine Schiffbrüchige am Ende der Welt.
Es dauert weit über eine Stunde. Dann ist das zweite Boot endlich da. Als seine Positionslichter in der Ferne aus der Dunkelheit auftauchen, glauben wir schon fast nicht mehr daran. Der Kapitän des anderen Bootes klettert bei uns an Bord. Er hat ein Abschlepptau dabei, mit dem er unser Schiff vom Riff ziehen will. Das Seil bindet er um eine Stahlklampe – und während ich ihn beobachte, traue ich fast meinen Augen nicht. Dieser zweite Kapitän, unser Retter in der Not, hat tatsächlich nur einen Arm. Die Situation ist so grotesk, dass es fast zum Lachen wäre. Eine Nacht wie ein schrecklicher Fiebertraum.
Zurück an Land wartet die Frau von Yamamoto. Eine Frau mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn, die völlig aufgelöst wirkt. Und wir müssen noch einmal warten. Der Hafen ist so abgelegen, dass der Krankenwagen aus dem nächsten Hospital in Aomori anderthalb Stunden braucht. Als die Sanitäter endlich da sind, laden sie den benommenen Kapitän auf eine Trage. Seine Frau kommt zu mir und lässt sich vor mir auf die Knie fallen: Sie weint und spricht aufgeregt auf mich ein. Toshi übersetzt, dass sie sich vielmals für die Nachlässigkeit ihres Mannes entschuldigt. Ich nicke nur abwesend, bin zu geschockt, um wirklich zu reagieren.
Wir fahren zurück durch die komplette Schwärze ins Hotel, wortlos. Jetzt, wo das Adrenalin langsam abgebaut ist, fühle ich mich zum Heulen. Ich bin traurig und wütend. Wie konnte das passieren? Ist der Kapitän diese Strecke nicht tausendmal gefahren? Und ganz abgesehen von meinem eigentlichen Vorhaben, das ich nun natürlich um mindestens ein Jahr verschieben muss: Was, wenn wir weniger Glück gehabt hätten? Wenn einer von uns bewusstlos ins dunkle Wasser gestürzt wäre? Der Tod war ganz nah. Ich muss an Obon denken, das Fest der Seelen.
Etwas weniger Glück, und auch wir wären als Geister zu unseren Verwandten zurückgekehrt.
Im Hotel ist niemand. In der finsteren Lobby setzen wir uns auf ein Sofa und machen uns mit heißem Wasser aus unserer Thermosflasche Instantnudeln. Immer noch sagt keiner von uns mehr als Dreiwortsätze.
»Dein Kopf okay?«
»Ja, passt.«
»Nudeln?«
»Ja, bitte.«
Ich schlafe nicht eine Minute. Immer wieder spult sich hinter meiner Stirn der Crash ab. Die Felswand taucht immer wieder aus dem Nichts auf. Immer wieder höre ich das splitternde Krachen, als der Kiel des Bootes das Riff rammt. Immer wieder fliege ich durch die Luft und lande auf der Reling – nur Zentimeter davon entfernt, runter ins Wasser zu stürzen. Meine eigene Erinnerung jagt mir Gänsehaut über die Arme. Ich wälze mich im Bett – aber mir fällt das Atmen schwer. Ich kann nicht mehr auf der Seite liegen. Draußen wird es hell, als ich Papa und Toshi wecke und mit ihnen anderthalb Stunden in das winzige Krankenhaus von Aomori fahre.
Die Ärzte röntgen meinen Brustkorb und finden heraus: Zwei meiner Rippen sind gebrochen. Ich bekomme Schmerzmittel und Ruhe verschrieben: mindestens sechs Wochen kein Sport.
Das war’s. Ein ganzes Jahr Vorbereitung ist für den Arsch. Die lange Reise, die eigens entwickelte Strömungs-App, das harte Training … und ich habe nicht mal einen Zeh ins Japanische Meer gesteckt. Nach der Fast-Katastrophe im Ärmelkanal hatte ich noch gedacht, nichts könnte frustierender sein, als wegen mangelnder Vorbereitung aufzugeben. Mit der nagenden Gewissheit zu leben, die eigenen Fähigkeiten überschätzt zu haben.
Jetzt weiß ich es besser.
Wirklich frustrierend ist es, wenn du nichts, aber auch gar nichts dafür kannst.