KAPITEL 12

Ich sitze im Shinkansen von Tokio Richtung Aomori und sehe die Modelleisenbahn-Landschaft vorbeifliegen. Spitze, bewaldete Berge, Dörfer und Städte voll winziger würfelförmiger Häuser. Dazwischen immer mal wieder die wunderschönen zeltartigen Dächer shintoistischer Tempel … Ich habe gute Laune.

Der zweite Versuch in der Tsugaru-Straße steht an. Dafür, dass ich gerade zwei katastrophal gescheiterte Querungen hinter mir habe, bin ich überraschend positiv gestimmt. Vielleicht, weil Niklas wieder dabei ist, der als Motivationskanone sogar fast Adam übertrifft. Aber wahrscheinlich bin ich auch deshalb so ruhig, weil keine der beiden Enttäuschungen meine Schuld waren. Weder den Bootsunfall im vergangenen Jahr noch die unmenschliche Strömung in der Cookstraße nehme ich persönlich.

Was nicht bedeutet, dass ich daraus keine Schlüsse gezogen habe. Ich will diesmal einige Dinge anders machen, um die Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, dass wieder etwas schiefläuft. Zum Beispiel haben wir unsere Zugtickets diesmal schon mit Wochen Vorlauf gebucht, sodass wir alle Sitzplätze haben. Ich habe auch meine eigenen Packungen Pasta mitgebracht, die es ja in Tappi nicht gibt. Und, was vielleicht am außergewöhnlichsten ist: Ich habe einen eigenen Kajakfahrer dabei.

Unser Kapitän ist zwar diesmal ein anderer als der unglückliche Yamamoto, aber mein Vertrauen in japanische Fischer ist immer noch nicht ganz zurück. Ich will mich im gefährlichen Wasser der Tsugaru-Straße nicht allein darauf verlassen, dass mich das Boot immer im Blick hat.

Deshalb hat Joshua wochenlang recherchiert und herumtelefoniert, auf der Suche nach jemandem, der fähig und fit genug ist, eine lange Strecke auf hoher See zu paddeln. Schließlich hat er einen deutschen Kajakprofi aufgetrieben, der bereit ist, mich zu begleiten. Er heißt Ben, ist Anfang 20 und so durchtrainiert, wie ich es selten gesehen habe. Sein Körper ist im Grunde ein einziger Paddelmuskel. Er gilt als einer der besten in seinem Sport. Vor der Reise nach Japan haben wir ein paar Tage lang gemeinsam in Portugal im Meer trainiert. Sechs Stunden am Stück ist Ben neben mir gepaddelt – ohne Probleme. Mein Vertrauen könnte nicht größer sein. Als absoluter Profi wollte er unbedingt sein eigenes Kajak im Flugzeug mitnehmen. Und während wir im Schnellzug sitzen, fährt Ben seine sperrige Ausrüstung in einem Lieferwagen in Richtung Norden.

Als wir in Aomori ankommen, sinkt meine Stimmung. Ich fühle mich innerlich aufgewühlt wie selten. Die Erinnerung an das Jahr zuvor, an die Dunkelheit, an den Moment, in dem wir nur hauchdünn einer Katastrophe entgangen sind – all das kommt wieder hoch. Und die Gefühle werden stärker, je weiter wir nach Norden kommen.

Kurz nach Mitternacht treffen wir uns mit Aiko am Hafen. Sie zu sehen ist für mich wie eine Ohrfeige. Ich bekomme feuchte Handflächen und Gänsehaut. Plötzlich ist alles wieder da: der Geruch des Schiffsdiesels, das schiefe Boot auf dem Felsen, das Röhren des Motors, die brennenden Schmerzen meiner gebrochenen Rippen. Ich spüre, wie nackte Angst sich in mir breitmacht.

Und sie wird nicht besser, als Aiko den Mund aufmacht. Sie deutet zu Ben rüber. »Was soll das Kajak hier?«

»Das wird mich begleiten. Haben wir doch besprochen.«

»Auf keinen Fall. Das ist gegen die Regeln. Keine Hilfsmittel, dazu gehören auch Kajaks.«

Kurz ist Stille. Adam, Joshua, Ben, Niklas, Papa und ich gucken uns an. Hat sie das gerade wirklich gesagt? Zehn Minuten, bevor es losgehen soll?

Aus den geplanten zehn Minuten wird dann fast eine Stunde. Erst diskutiert Adam mit Aiko. Dann übernimmt Joshua. Ich werfe ein paar Argumente ein. Welchen unfairen Vorteil gegenüber anderen Schwimmern hätte ich denn, wenn Ben auf einem Kajak neben mir paddelt, ohne dass ich ihn berühre? Auf vielen Langstrecken der Welt sind Kajaks erlaubt! Wo ist das Problem? Wir versuchen es mit Charme, mit Sachlichkeit, mit Mitleid – aber die Observerin bleibt stur: Ein Kajak sei hier in Japan gegen die Regeln. Die vorherhige Absprache sei ein Missverständnis gewesen.

Schließlich ist es wieder mal Papa, der die verfahrene Situation auflöst. »Alles klar, Aiko«, sagt er mit ruhiger Stimme. »Wenn du das Kajak nicht erlaubst, ist das so. Dann setzen wir hier und jetzt einen Vertrag auf. Darin übernimmst du persönlich die volle Verantwortung für die Sicherheit, falls auf der Querung irgendwas passiert. Dann bleibt das Kajak hier. Einverstanden?«

Der Himmel über der Tsugaru-Straße ist wolkenlos und gesprenkelt mit Sternen, als wir schließlich alles aufs Boot laden – inklusive des Kajaks. Die volle Verantwortung für mich zu übernehmen, das wollte Aiko dann doch nicht. Außerdem haben wir diesmal einen japanischen Fotografen angeheuert, der auch eine Drohne hat. Unser Kapitän ist diesmal jünger, auch sein Fischerboot sieht etwas frischer aus als das im Vorjahr. Auch diesmal fahren wir mit zwei Booten. Eines fährt einen halben Kilometer voraus und misst die Strömung. So kann mein Team an Bord des zweiten Schiffs schon vorab planen, wie ich meine Technik, Richtung und Geschwindigkeit auf die einzelnen Passagen ideal abstimme. Damit wollen wir böse Überraschungen wie in der Cookstraße ausschließen.

Mit den zwei Schiffen tuckern wir zum Startpunkt. Unser Kapitän leuchtet mit einem riesigen Scheinwerfer nach vorne – er hat offenbar von dem Unfall im vergangenen Jahr gelernt. Vor der Landzunge, die der designierte Startpunkt ist, stoppt er die Maschinen. Es ist halb drei Uhr morgens. Unser japanischer Fotograf sieht schon jetzt grün im Gesicht aus.

Mir ist nicht übel, aber ich bin angespannt. Nichts schlägt mir so auf die Nerven, wie an einen Ort zurückzukehren, an dem ich schon mal gescheitert bin. Es fühlt sich an wie ein Fluch, wie ein Makel, wie eine grausame Laune der Natur: Wie konnte ich nur so verblendet sein, noch mal hierherzukommen? Wie damals auf der Fähre in Richtung Frankreich packt mich ein Strudel negativer Gedanken und Selbstzweifel. Was, wenn es hier vorbei ist? Was, wenn der Höhepunkt meiner Schwimmkarriere schon hinter mir liegt?

Es hilft nichts. Ich muss es abschütteln. Ich lasse mich langsam über die Leiter am Heck ins Wasser. Es fühlt sich überraschend warm an.

Bald verlasse ich die ruhige Uferzone und schiebe mich hinein in die offene Passage der Meerenge. Mit wohldosierten, millionenfach geübten Bewegungen schwimme ich vorwärts. Die Wellen schlagen höher, aber ich bin darauf eingestellt. In meinem Kopf bin ich die verschiedenen Phasen der Querung hundertmal durchgegangen. Ich weiß, dass ich auf dieser Etappe der Ocean’s Seven besonders spät noch einmal Vollgas geben muss – nämlich dann, wenn die nördliche Querströmung mich andernfalls am Ziel vorbeitreiben würde. Die Herausforderung besteht darin, genug Energie im Tank zu lassen, um nach vielen Stunden harten Schwimmens noch einen Sprint einlegen zu können. Darauf habe ich mich vorbereitet, in wochenlangem harten Training mit Joshua. Ich muss an Opa denken und seinen Leitspruch für alles im Leben.

Wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein.

Für diesen Moment kann ich mit Überzeugung sagen: Ich bin besser. Besser denn je. Ob es am Ende gut genug sein wird, um die Herausforderung dieses Meeres und seiner Tücken zu meistern, wird sich herausstellen.

Nach drei Stunden bricht der Morgen an. Ben, der bisher planmäßig auf dem Kajak neben mir gepaddelt ist, bittet um eine kurze Pause. Im ersten Tageslicht fällt mir auf, dass er ziemlich blass ist. Er öffnet den Rucksack mit den Snacks und stopft sich ein Stück abgepackten Schokokuchen in den Mund. Dann ein zweites. Ein drittes. Ein viertes. Er greift noch mal in den Rucksack, holt diesmal eine Packung Gummibärchen heraus und steckt sich auch davon eine überquellende Handvoll in den Mund. Dann zieht er eine halbe Minute am Stück am Mundstück des Trinkschlauchs, der aus dem Rucksack über seine Brust hängt. Er unterdrückt einen Rülpser.

»Okay, weiter.«

Ich schwimme weiter, aber ab sofort leicht besorgt. Mir schwant, dass ich eventuell bald alleine im Wasser sein werde.

Und tatsächlich, eine halbe Stunde später winkt Ben dem Team am Boot zu.

»Ich muss raus. Ich brauche eine Pause.«

Adam und Joshua helfen ihm an Bord. Ben kämpft sich umständlich aus seinem Neoprenanzug und humpelt dann mit gesenktem Kopf in Richtung Bordtoilette. Es wird das letzte Mal für die nächsten sieben Stunden sein, dass ich meinen Kajak-Begleiter sehe. Auch der Fotograf und Drohnenpilot ist seekrank und hängt vorne über der Reling. Ich bin dennoch guter Dinge. Auch ohne Kajak fühle ich mich nicht alleine im Meer. Begleitboote in der Tsugaru-Straße haben eine Besonderheit: Auf der Backbordseite des Boots hängt unter Wasser an einem Ausleger ein etwa zwei mal fünf Meter langes Stoffsegel. Dieser sogenannte Streamer dient als eine Art Sichtschutz: Wenn der Schwimmer genau darüber bleibt, können ihn Raubfische aus der Tiefe nicht sehen. Gleichzeitig ist das Segel ein guter Orientierungspunkt, um zu sehen, wie nah am Boot man schwimmt. Solange der Streamer in meinem Sichtfeld ist, fühle ich mich sicher – auch ohne Kajak.