Mit steifen Beinen gehe ich am Wellington International Airport die Gangway hinauf. Vom langen Flug schmerzt meine Muskulatur. Über den Scheinwerfern an der Landebahn strahlt der Mond, es ist eine laue Sommernacht. Februar 2020. Willkommen auf der Südhalbkugel. Ich bin hier, um ein zweites Mal die Cookstraße in Angriff zu nehmen. Gerade beginnt das Coronavirus weltweit die Nachrichten zu beherrschen. Ein paar Wochen später geht Neuseeland in die komplette Isolation.
Papa und ich hieven unsere Koffer und Taschen vom Gepäckband und stapeln sie auf einem Schubwagen. Wir sind diesmal zu zweit unterwegs. Papa hat mich vorher in Sydney besucht, wo ich die vergangenen Wochen mit Vlad im Becken trainiert habe – längst mein festes Ritual zum Jahresanfang. Joshua und Adam sind ein paar Stunden vorher mit anderen Flügen angereist.
Ein Gruppe Zöllner spaziert durch die Ankunftshalle. An einer Leine führen sie einen Beagle, der routiniert an den Koffern und Taschen schnüffelt. Als er an unseren Wagen kommt, drückt er seine Schnauze fest an den Reißverschluss von Papas Rucksack und fängt an, schneller zu schnüffeln. Dann bellt er. Der Zöllner, der die Leine hält, winkt uns streng zu: »Bitte folgen Sie mir.« Das fängt ja schon mal gut an.
In einem großen Nebenraum stehen drei fest verschraubte Tische mit gebürsteten Edelstahlplatten. Der Zöllner weist uns auf zwei Plastikstühle im Eck, die so klein sind, als stammten sie aus einem Kindergarten. Er stellt Papas Rucksack auf einen Tisch und öffnet ihn. »Haben Sie größere Mengen an Bargeld dabei?« – »Ja«, sagt Papa und zieht einen Umschlag aus dem Rucksack.
Die Freiwasserszene in Neuseeland liebt Bargeld. Jim Smith und Kapitän Rolf sowie die Observer lassen sich für die Überquerungen mit Schwimmern nur in Cash bezahlen. Deshalb haben wir uns vor der Reise 10.000 US-Dollar bei der Bank auszahlen lassen und mitgebracht. Das ist genau die gesetzlich erlaubte Menge – dachten wir zumindest.
Papa zeigt dem Zöllner den Umschlag mit den Scheinen. Der Beamte zählt das Geld und erklärt uns dann: »Das ist zu viel. Sie dürfen 10.000 Neuseeländische Dollar einführen, nicht US-Dollar.« Die Zöllner beraten sich im Nebenraum. Nach zehn Minuten kommen sie zurück: Man schaue gerade, ob man uns direkt im nächsten Flieger zurück nach Sydney schicken könne.
Mein Herz rutscht in die Hose. Das darf doch nicht wahr sein.
»Haben Sie sonst noch Geld dabei?«, fragt der Zöllner gelangweilt.
»Nein.«
»Leeren Sie alle Ihre Taschen.« Seufzend packt Papa den Inhalt seiner Jackentaschen auf den Stahltisch.
»Jetzt den Koffer.«
Als der Kofferinhalt auf dem Tisch liegt, findet Papa in einer Reißverschlusstasche im Innenfutter ein paar uralte zerknüllte Geldscheine – hundert türkische Lira. Ein Jahr zuvor waren wir im Urlaub in der Türkei, das Geld ist noch von dieser Reise übrig. Der Zöllner schnappt sich die Scheine und verschwindet wieder im Nebenraum. Ich will Papa etwas fragen – »Shut up«, unterbricht mich der andere Beamte. »No talking.« Er deutet ans andere Ende des Raums. Ich soll mich dorthin setzen und meinen eigenen Koffer öffnen.
Jedes Haargummi, jedes Paar Socken hebt der Zöllner aus meinem Koffer, wie in Zeitlupe. Vorsichtig frage ich: »Suchen Sie etwas Bestimmtes? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Shut up.« Er hebt einen Beutel mit Nahrungsergänzungsmitteln hoch. »Warum sind Sie in Neuseeland?«
»Ich bin Schwimmerin und schwimme durch die Cookstraße.«
Er schaut mich irritiert an und schüttelt ungläubig den Kopf. »Soll das ein Witz sein?«
Mit grimmigem Gesicht wühlt er weiter in meinen Sachen. In Gedanken sehe ich mich schon im Flieger zurück nach Australien – und die ungläubigen Blicke in den Gesichtern von Vlads Schwimmteam, wenn ich übermorgen wieder dort am Becken auftauche.
Währenddessen hat der andere Zöllner Papas zweite Reisetasche geöffnet. Darin liegen die medizinischen Gerätschaften, die wir zu Überquerungen immer mitnehmen: Medikamente, Sauerstoffmasken, zwei Defibrillatoren, für den Fall dass einer ausfällt.
»Was haben Sie damit vor?«, schnauzt der Beamte und hält das Gehäuse des Defis in die Luft.
»Das brauchen wir für Notfälle. Zum Beispiel bei Kammerflimmern.«
»Und warum zwei? Wollen Sie einen davon hier verkaufen?«
So geht es gefühlt endlos weiter. Gegenstand um Gegenstand wird ausgepackt, von allen Seiten betrachtet, dann auf seine möglicherweise kriminelle Verwendung hin abgeklopft. Unsere zwei wasserfesten Actionkameras kommen den Beamten verdächtig vor. Unsere Drohne. Sogar bei den fünf SD-Speicherkarten werden sie misstrauisch: »Wollen Sie Raubkopien nach Neuseeland schmuggeln?«
Dazwischen verschwinden beide immer wieder für 30 Minuten im Nebenraum und lassen uns schmoren. Wir sitzen seit drei Stunden auf den Stühlchen. Inzwischen wirkt der Rückflug nach Sydney fast wie die beste Option – immerhin besser, als im Gefängnis zu landen, was angesichts unserer Behandlung hier wie eine durchaus denkbare Möglichkeit wirkt.
Irgendwann, es ist drei Uhr nachts, kommt der Zöllner aus einem Nebenraum zurück. Er baut sich vor mir auf. »Du bist also Schwimmerin?«
»Ja, wie gesagt.«
Er hat mich anscheinend gegoogelt und glaubt es nun. Ich muss den Namen unseres Kapitäns aufschreiben. Dann dürfen wir unsere zerwühlten Koffer wieder packen. Wegen des Bargelds müssen wir 2000 Dollar Strafe zahlen – zum Glück immerhin neuseeländische. Um vier Uhr morgens kommen wir schließlich aus dem Flughafen, übermüdet, frustriert und wütend. Obwohl das Chaos mit dem Kajakfahrer und dem sturen Kapitän schon bei meinem letzten Besuch hier beachtlich war, hat Neuseeland tatsächlich noch mal einen draufgesetzt.
Vielleicht liegt es an dieser unangenehmen Begrüßung, vielleicht auch an meinen Nerven angesichts der bevorstehenden Aufgabe – aber auch Wellington geht mir bald auf den Geist. Der Wind hört nicht auf zu blasen, die Restaurants schließen um acht Uhr abends, weil Neuseeländer offenbar schon nachmittags abendessen. Und ständig will mir irgendjemand etwas verbieten: Fotografieren, Drohne fliegen, Fahrradfahren ohne Helm – Autos haben sogar auf der Stoßstange Aufkleber mit Telefonnummern, damit andere Leute den Fahrstil bewerten können. Und dazu kommen die seltsamen Launen des Herrschers über die Cookstraße und ihre Schwimmer, Jim Smith.
Wir wohnen wieder im selben Hotel am Hafen und finden wenigstens bald das einzige Restaurant der Stadt, in dem man noch um sieben Uhr etwas zu essen bekommt: das »Boulcott Street Bistro«, das in einem weißen historischen Holzhaus mit spitzem Giebel untergebracht ist. Die nächsten sechs Tage essen wir dort, es wird unser Wohnzimmer. Bald fragen mich die netten Kellner jedes Mal, wenn wir ankommen: »Wann schwimmst du? Ist es morgen so weit?« Aber wir warten darauf, dass der Wind nachlässt.
Morgens ziehe ich meine Runden im eisigen Wasser der Oriental Bay. Ich arbeite seit ein paar Monaten an einer neuen Technik – der kraftsparenden Methode, die Adam sich nach seinem Bizepsriss angewöhnt hat. Bislang bin ich meine Überquerungen meist mit etwa 80 Armzügen pro Minute geschwommen. Jetzt trainiere ich mit 60. Auf viele Stunden hochgerechnet ist das ein riesiger Unterschied. Die Idee ist, dass der Körper zwischen den Zügen länger gleitet – und man so deutlich weniger Kraft braucht für dieselbe Strecke. Noch fällt es mir schwer, das langsame Tempo einzuhalten, das durch die neue Technik bedingt ist. Es fühlt sich an, als würde ich in einem Ferrari Schrittgeschwindigkeit fahren. Aber ich weiß, dass ich für die unberechenbare Cookstraße jeden technischen Vorteil nutzen muss, den ich kann.
Am siebten Abend kann ich die Frage der Kellner endlich mit Ja beantworten. Tags darauf soll es losgehen. Ich lade meine Kohlehydratspeicher auf und gehe früh ins Bett. Als wir im Morgengrauen am Hafen sind, ist der Wind wie weggezaubert. Das Wasser in der Bucht von Wellington liegt so glatt da wie Öl in einer Pfanne. Wir haben diesmal kein Kajak. Stattdessen fährt neben dem großen Boot von Captain Rolf ein winziges Aluminium-Dingi, auf dem gerade so Papa und ein Pilot Platz haben – natürlich ein Freund von Jim.
Auch diesmal ist meiner Reise eine wochenlange Verhandlung quer über die Kontinente vorausgegangen. Joshua hat Jim Smith geschrieben, dass ich die Cookstraße ein zweites Mal versuchen will. Wir bräuchten bitte einen Observer. Worauf Jim zu unserer Überraschung ablehnt. Der König von Wellington zeigt uns seine Macht. Wir stehen ohne Observer da – und ohne Chance, die Ocean’s Seven abzuschließen.
Aber Joshua hat ein Ass im Ärmel. Er hat nämlich recherchiert, dass es den neuseeländischen Freiwasserschwimmverein, in dessen Auftrag Jim Smith ursprünglich gearbeitet hat, offiziell gar nicht mehr gibt. Er wurde schon vor Jahren aufgelöst. Smith hat zwar de facto weiterhin das Monopol auf die Querungen der Cookstraße, aber der Weltverband ist nicht verpflichtet, sie über ihn zu machen. Wir schmieden einen Plan: Falls uns Jim Smith weiterhin blockiert, gründen wir einfach einen eigenen Freiwasser-Verein in Neuseeland und lassen ihn vom Weltverband anerkennen. Dann kann unser Verein seine eigenen Observer nominieren und die Überquerung offiziell anerkennen. Das Monopol von Jim Smith käme damit ins Wanken.
Als Joshua ihm diese Option dargelegt hat, ändert Jim seinen Tonfall abrupt. Na gut, na ja, wenn das so sei, dann wolle er mal nicht so sein … Ein Observer für mein Schwimmen ist plötzlich kein Problem mehr. Jims einzige Auflage ist, dass einer seiner Freunde das Dingi steuert.
Die See ist so glatt wie in einem Schwimmbad am frühen Morgen, wenn ich als Erste im Pool bin. Ich kann mein Glück kaum fassen. Ich gleite dahin, ohne dass mich Wellen, Wind oder Strömung beeinträchtigen. Jede Muskelbewegung übersetzt sich eins zu eins in Vortrieb. Diese Effizienz gibt es beim Schwimmen im offenen Wasser sonst fast nie. Mit der Adam-Technik komme ich zwar etwas langsamer vorwärts, bin dafür aber fast so entspannt wie auf einem Spaziergang.
Ich bin etwa eine Stunde geschwommen, als ich einen lauten Schrei höre. Ich unterbreche meinen Zug und blicke auf. Gerade noch sehe ich etwas großes Dunkles unmittelbar über mir in der Luft. Ich verschlucke mich vor Schreck fast an Meerwasser. Ein riesiger, gigantischer Vogel! Er schwingt sich in die Luft. »Albatros!«, höre ich Papa auf dem Dingi rufen. Mit wenigen Schlägen seiner enormen Flügel ist der Vogel 20 Meter in die Luft gestiegen – und dreht jetzt träge segelnd eine weite Kurve. Er lässt mich dabei nicht aus den Augen.
Er kommt doch nicht …? Doch. Er kommt zurück.
Der riesige graue Albatros ist eine Kurve geflogen und geht erneut in den Sturzflug. Er saust hinab auf das Wasser zu, in direktem Kollisionskurs zu mir. Ich tauche unter. Ich bin maximal verwirrt. So einen großen Vogel habe ich noch nie gesehen. Später lese ich, dass Albatrosse bis zu dreieinhalb Meter Spannweite haben – es sind die größten flugfähigen Vögel der Welt. Sie ernähren sich von Fischen und Tintenfischen. Und dieser hier hat mich offenbar zu seiner Beute erklärt.
Als ich wieder hochkomme, dreht der Vogel seine zweite Runde. Papa hat inzwischen angefangen, auf dem Aluboot wild zu schreien und seinen Hut zu schwenken, um ihn zu vertreiben. Was den Albatros nicht wirklich zu interessieren scheint. Menschen sind für einen Vogel dieser Größe offensichtlich keine ernstzunehmende Bedrohung. Er setzt zum nächsten Sturzflug an. Mit halb offenem gelben Schnabel schießt er abwärts. Aber da – er bricht ab. Und zieht nur noch in zwei Metern Höhe eine Kurve. Er wirkt neugierig, hat aber wohl erkannt, dass ich nicht auf seinem Nahrungsplan stehe.
Ich schwimme weiter. Noch 20 Minuten begleitet mich der Vogel in mittlerer Höhe, kommt immer mal wieder herabgesegelt, um sich anzusehen, was da unten in seinem Jagdgrund passiert – hält nun aber immerhin Sicherheitsabstand ein.
Nachdem ich mich routiniert und ohne weitere Zwischenfälle sechs Stunden durch die kalte, aber spiegelglatte See geschraubt habe, ist die Südinsel bereits sichtbar näher als die Nordinsel, von der ich gestartet bin. Ich bin gut drauf, voller Hoffnung und Selbstbewusstsein. So gut, dass ich nicht mehr nur in der Kategorie »Schaffen oder Nichtschaffen« denke, sondern sogar an die Zeit, in der ich die Cookstraße bezwingen könnte. Von den neun Stunden, die Adam seinerzeit bis rüber zur Südinsel gebraucht hat, habe ich mich verabschiedet. Aber elf, zwölf Stunden scheinen mir realistisch. Ja, denke ich, elf Stunden wären toll! Bei einer der ersten Fütterungen rufe ich Papa zu: »Unglaublich oder? Wie kann die Cookstraße so glatt sein?« Ich bin mir sicher: Diesmal klappt es. Ich muss nie wieder zurück nach Neuseeland!
Es ist, als hätten die Götter von Raukawa mich gehört. Minuten später schlägt das Wetter um. In einer Geschwindigkeit, die ich noch nie so erlebt habe, ziehen Wind und Wolken auf, verwandelt sich die friedlich daliegende Meerenge in einen brodelnden Kessel. Der abrupte Umschwung überrascht mich so, dass ich Probleme habe, meine Technik anzupassen. Zwischen den frisch aufgepeitschten, eisigen Wellen schlucke ich beim Luftholen immer wieder Wasser. Meine Kehle schmeckt nach salziger See.
An Deck des großen Boots zieht sich Adam um und springt ins Wasser. Eine Stunde darf er mich als Supportschwimmer unterstützen. Und das kann ich gebrauchen. Ich komme nicht richtig in einen Rhythmus, der mir erlauben würde, die neuen Wetter- und Wellenverhältnisse auszugleichen. Ein zweiter Schwimmer hilft mir mental enorm. Mit Adam schräg hinter mir falle ich in ein gutes gleichmäßiges Tempo. Ich erhöhe von 60 auf 70 Armzüge die Minute. Ein Gang höher als im ganz glatten Meer.
Meine Entschlossenheit bleibt. Ich habe mehr als die Hälfte, murmle ich mir im Kopf zu. Den Rest schaffe ich auch noch. Ich komme nicht noch mal hierher!
Aber je später der Nachmittag wird, je länger das Wetter so bleibt, desto mehr fällt mir etwas auf, das mich alarmiert: Die Stimmung auf dem Begleitboot verschlechtert sich. Weil ich beim Schwimmen meinen visuellen Sinn quasi nicht brauche, weil meine Augen außer Wasser und hin und wieder mal Himmel nichts sehen, ist meine Aufmerksamkeit auf kleine Details umso geschärfter. Und ich merke, dass Papa und Adam finster dreinblicken. Beim nächsten Feeding spreche ich sie darauf an.
»Ihr guckt, als wäre jemand gestorben!«
»Wir haben die Strömung voll gegen uns.«
»Egal«, rufe ich. »Wird schon wieder besser!«
Ich komme mir etwas lächerlich vor, aber ich versuche tatsächlich, mein Team aufzumuntern. Es nervt mich, dass sie sich so wenig Mühe geben, positiv zu bleiben. Haben wir das nicht in Dutzenden Schwimmen so eingeübt? Egal was passiert, die Stimmung bleibt positiv! Das Team muss die Schwimmerin motivieren, nicht umgekehrt! Aber bald merke ich, dass die schlechte Laune vielleicht berechtigt ist.
Wir sind acht Stunden unterwegs. Ich frage Joshua, wie wir vorwärtskommen. »Gut«, sagt er und sein Gesicht sagt: »Katastrophal.«
Nach neun Stunden ruft mir Adam zu, ich müsse jetzt sprinten, um mich aus der Strömung zu befreien. Eine ganze Stunde lang kämpfe ich, als hinge mein Leben davon ab. Währenddessen wird es dunkel. Mir wird klar, wie lange ich schon schwimme: Im Sonnenaufgang bin ich losgeschwommen. Und die Südinsel sieht immer noch ewig weit weg aus.
Zwölf Stunden im Wasser. Mein Motor läuft auf dem Ersatztank. Die Trinkpausen reichen kaum noch, um meine Puste wiederzufinden. Und an meiner Übelkeit merke ich, dass ich immer noch zu viel Wasser schlucke.
Als es stockfinster ist, frage ich Adam, ob er noch mal für eine halbe Stunde als mein Support ins Wasser kommen kann. Er springt rein und befestigt ein Blinklicht an meiner Brille – meine eingefrorenen Finger sind dazu längst nicht mehr in der Lage. Ich nutze die kurze Pause, um ihn leise etwas zu fragen.
»Sag mir die Wahrheit, Adam. Wie viel fehlt noch?«
Er räuspert sich. »Ganz ehrlich: sechs Stunden.«
»Ich weiß nicht mal, ob ich noch eine Stunde in mir habe.«
»Ich weiß. Und das ist okay. Wir haben Pech.«
Eine Stunde schwimme ich noch, während das Boot von den Wellen wie eine Nussschale hin- und hergeworfen wird. Dann muss ich aufgeben. Es ist eine harte Einsicht, aber die Natur als Gegnerin ist an diesem Tag stärker. Ich ziehe mich die Leiter hoch zurück an Bord. Auf dem Rückweg, während ich zitternd in meinem Wärmemantel auf einer Bank in der Kajüte liege, funkt uns Jim Smith an. Er hat an diesem Tag zwei andere Schwimmer bei der Überquerung der Cookstraße begleitet. Keiner der beiden hat es geschafft. »Es ist heute unschwimmbar«, sagt er durch das knarzende Funkgerät. »Aber, Nathalie, du kannst stolz sein: Du hast es am weitesten geschafft und warst die Letzte, die noch im Wasser war.« Ein schwacher Trost. Aber immerhin.
Ich ahne es in diesem Moment noch nicht, aber was für eine übermächtige Gegnerin die Natur ist, wird uns wenige Tage später auf einer ganz anderen Ebene klar – und mit uns der ganzen Welt. Das Coronavirus zwingt der Menschheit eine nie dagewesene Pause auf. Es wird mehr als drei Jahre dauern, bis ich zurück nach Wellington komme.