Die Pandemie macht mich zur Einbrecherin. Jeden Morgen, bevor die Sonne aufgeht, schleiche ich mich um halb sieben aus meiner Wohnung und steige in mein Auto. 15 Minuten später, in einem Dorf in der Nähe von Marburg, steuere ich den Wagen auf einen dunklen Parkplatz, stelle ihn in der hintersten Ecke ab und steige aus. Mein Komplize erwartet mich meist schon. Wortlos schleichen wir zum Hintereingang. Der Geruch von warmem Chlorwasser steigt uns in die Nase, während wir die Tür öffnen und leise hinter uns zuziehen. Dann beginnen wir, noch immer in fast völliger Finsternis, unsere Arbeit.
Wir sind Einbrecher, die nichts stehlen und nichts kaputtmachen, die so spurlos verschwinden, wie sie gekommen sind. Aber Joshua und ich bewegen uns mit unseren frühmorgendlichen Trainingsstunden im Hallenbad in einer Grauzone.
Wir haben einen Trainingsmodus gefunden, der uns erlaubt, auch während der Pandemie zu arbeiten. Schauplatz ist ein kleines Dorfschwimmbad mit fünf Bahnen à 25 Meter. Dort trainiere ich seit vielen Jahren, seit ich mit Joshua arbeite. Von sieben bis neun Uhr jeden Tag ist Bahn 3 für mich reserviert. Und die anderen Stammgäste behandeln mich wie Prominenz.
Alle paar Wochen begrüßen mich die Damen von der Aquagymnastik stolz mit ausgerissenen Zeitungsartikeln in der Hand, wenn sie mal wieder ein Interview mit mir im Lokalblatt gefunden haben. Wenn ich aus dem Becken klettere, fragen mich Kinder um Rat, weil ihnen ihre Schwimmbrille beschlägt oder sie mit ihrer Beinarbeit Probleme haben. Ich gebe gerne Tipps oder erzähle ein paar Details von meiner letzten Reise. Mich rührt die Aufmerksamkeit meines kleinen Fanclubs.
Jetzt, mitten im Lockdown, bringt mein Status als Heldin der Dorfschwimmer einen echten Vorteil: Obwohl Schwimmbäder keinen öffentlichen Betrieb haben dürfen, haben wir den Schlüssel zur Hintertür bekommen. Einzige Bedingung: Wir müssen in der Dunkelheit trainieren, nur die Scheinwerfer unter Wasser dürfen an sein. Niemand soll von außen sehen, dass ich weiterhin schwimme. So vergeht ein Jahr. Ich schwimme sechs Kilometer am Tag, sechs Tage die Woche, insgesamt 1800 Kilometer. Macht im ersten Pandemiejahr 72.000 Bahnen. So müssen sich Orcas im Aquarium fühlen.
Außer der Cook-Straße fehlen mir für Oceans’s Seven noch zwei Querungen: der Nordkanal, zwischen Schottland und Nordirland. Und der Kaiwi-Kanal auf Hawaii, zwischen den Inseln Molokai und Oahu. Weil Neuseeland sich in der Pandemie komplett abgeschottet hat, geben wir bald den Plan auf, dort 2021 zu starten. Der Nordkanal ist wegen der legendär niedrigen Wassertemperatur die letzte Herausforderung, die ich versuchen will. Bleibt noch Hawaii. Der Kaiwi-Kanal ist die längste Querung der sieben – 46 Kilometer. Und auf dieser Strecke begegnen Schwimmern jede Menge Wasserbewohner: Haie, Quallen, Delfine …
Abgesehen davon gibt es zwei Probleme. Das erste betrifft meinen langjährigen Begleiter Adam. Und was für mich ein Problem ist, ist für ihn wunderschön: Im August 2021 erwartet er mit seiner Freundin Gemma ein Kind. Deshalb will er verständlicherweise in diesem Sommer England nicht verlassen. Wochenlang überlege ich: Will ich, kann ich eine Überquerung ohne einen Teil meines eingespielten Teams wagen? Es ist nicht so, dass ich Adams Motivationsreden nicht längst auswendig kennen würde. Aber es sind seine schiere Begeisterung, Zuversicht und Furchtlosigkeit, die mir vom Begleitboot aus schon so oft über die Tiefpunkte meiner bisherigen Herausforderungen hinweggeholfen haben.
Kann ich es ohne ihn schaffen?
Schließlich fälle ich die Entscheidung. Seit anderthalb Jahren bin ich nicht mehr im Meer geschwommen, meine letzte erfolgreiche Ocean’s-Seven-Querung in Japan ist zwei Jahre her. Es juckt mich, endlich wieder einen Versuch zu starten. Und ich will meine hart erkämpfte Routine im offenen Meer nicht komplett verlieren.
Ich versuche es ohne Adam.
Es gibt aber, wie gesagt, noch ein zweites Problem. Im Sommer 2021 darf man nicht aus der EU in die USA einreisen. Die Covid-19-Inzidenzen sind zu hoch. Aber wie immer findet Joshua ein Schlupfloch. Aus Mexiko ist die Einreise erlaubt – vorausgesetzt, man war in den 14 Tagen zuvor nicht in der EU. Wir planen also eine längere Reise: erst zwei Wochen Quarantäne in Mexiko. Dann weiter nach Hawaii.
Noch etwas anderes ist neu in meinem Leben: Ich bin in einer Beziehung. Louis und ich kennen uns schon unser halbes Leben, unsere Eltern sind befreundet. Er ist großgewachsen und dunkelhaarig, scheint immer gute Laune zu haben, ist spontan und witzig. Vor ein paar Monaten ist aus unserer Freundschaft mehr geworden.
»Gegensätze ziehen sich an.« Dieser alte Spruch ist eine ziemlich gute Beschreibung unserer Beziehung. Louis ist ein extrovertierter Mensch, er ist gerne unterwegs und unternimmt viel mit seinem riesigen Freundeskreis. Er lebt in Köln, arbeitet in der Immobilienbranche und hat mit Wassersport absolut gar nichts am Hut. Meine Leidenschaft für Schwimmen, mein tägliches Training, meine Marathon-Durchquerungen, all das ist für ihn so fremd und exotisch wie für mich seine Welt der sozialen Events. Obwohl unsere Leben so verschieden sind, haben wir einiges gemeinsam: unseren Sinn für Humor, unsere meist gute Laune und Spontanität. Wir führen eine Fernbeziehung zwischen Marburg und Köln, deshalb unternehmen wir an Wochenenden oft gemeinsame Kurztrips.
Einmal, im Frühsommer 2021, begleitet Louis mich zum ersten Mal auf ein Schwimmen im Mittelmeer. Ich will die Meerenge zwischen Menorca und Mallorca durchqueren, als Vorbereitung für Hawaii. Bis zu dieser Reise waren meine Langstreckenschwimmen für ihn etwas eher Abstraktes. Nun wird er endlich mal live erleben, wie genau die Durchquerungen ablaufen, für deren Vorbereitung ich so hart trainiere und so oft unsere gemeinsame Zeit abkürze. Ich freue mich, ihm endlich auch diesen Teil meines Lebens zu zeigen. Nach ein paar Tagen Warten auf Menorca geht es früh morgens los. Während des Schwimmens sitzt Louis neben Niklas auf dem Begleitboot. Wenn ich manchmal kurz noch oben gucke, scheint Louis gute Laune zu haben.
Als die knapp 40 Kilometer geschafft sind – ich bin mit knapp zehn Stunden die schnellste Deutsche –, klettere ich an Bord, ziehe mir den Wärmemantel über und die Sauerstoffmaske über den Mund. Louis schaut etwas besorgt. Während ich Atemzug für Atemzug langsam wieder zurück in meinen Körper finde, spüre ich ein gewisses Zögern von ihm, eine Reserviertheit. Er wirkt erleichtert, dass ich noch lebe – und gleichzeitig besorgt, vielleicht auch ein bisschen erschrocken darüber, wie erschöpft ich nach diesem Schwimmen bin.
Ein paar Tage später fragt er mich, wie lange ich eigentlich noch solche extremen Strecken schwimmen wolle. Er sagt es nicht so direkt, aber für mich klingt es nach: irgendwann muss damit doch Schluss sein.
In diesem Moment dämmert mir zum ersten Mal, dass das Freiwasserschwimmen, meine Leidenschaft, für ihn nicht nur etwas Fremdes, Exotisches ist – er hält es offenbar auch für keinen dauerhaften Lebensinhalt.
Als nun, zwei Monate später, Adams Absage für Hawaii kommt, merkt Louis, wie geknickt ich bin. Und er bietet an mitzukommen. Damit habe ich nicht gerechnet. Immerhin wird diese Reise etwa vier Wochen dauern, die er sich freinehmen müsste! Ich freue mich, dass er mich bei meiner Challenge unterstützen will – und sage ihm, dass es toll wäre, wenn er mitkommt. Die Erinnerung an seinen besorgten Blick auf dem Boot vor Mallorca wische ich weg.
Papa, Joshua, Louis und ich fliegen nach Cancún. Wir mieten uns in ein All-inclusive-Hotel mit langem Swimmingpool ein. Nach anderthalb Jahren Coronabeschränkungen ist Mexiko der pure Schock. Restaurants sind geöffnet, Clubs sind knallvoll, die Menschen feiern am Strand, weit und breit keine Maske. Meine ohnehin immer schon leichte Scheu vor Menschenansammlungen ist nach den langen Monaten der Restriktionen noch stärker als zuvor. Je mehr Menschen auf einem Haufen sind, desto mehr Abstand wünsche ich mir.
Ich ignoriere die ungewohnte Freiheit und stürze mich in das, was ich kenne: mein Training. Mit der Aussicht, endlich einen weiteren Schritt in Richtung Ocean’s Seven machen zu können, bin ich ehrgeizig und voll motiviert. Endlich ist mal wieder eine Challenge in Reichweite, die mich meinem großen Ziel näherbringen wird.
Und nach ein paar Tagen lockt mich auch die Welt außerhalb des Hotelgeländes: die Maya-Pyramiden, die berühmten »Cenotes«, unterirdische, wassergefüllte Kalksteinhöhlen – ich möchte etwas von Mexiko sehen, wenn wir schon mal hier sind! Aber Louis, der sonst oft der Erste ist, der ausgehen will, hat keine Lust. Er hat sich beim Essen den Magen verdorben. Morgens, wenn Joshua und ich trainieren, schläft er aus und bestellt später Frühstück aufs Zimmer. Ich halte Abstand, um mich nicht anzustecken – und plane alleine eine zweitägige Tour zu Pyramiden bei Tulum. Anstatt sich auszukurieren, besteht er darauf mitzukommen.
Als die zwei Wochen fast vorüber sind, nähert sich der entscheidende Moment. Unsere Vierergruppe braucht negative Tests, dann fliegen wir nach San Francisco, und von dort weiter nach Honolulu. Ich spüre, dass mir das Chlorwasser und die Klimaanlagen der Restaurants auf den Hals schlagen – ich bin heiser, meine Nase läuft. Aber der Schnelltest ist negativ. Wir fliegen nach Kalifornien.
In einer Kabine steckt mir eine Mitarbeiterin im Ganzkörperanzug ein Stäbchen in den Rachen. Mit einem Mal sind wir zurück im vollen Pandemie-Modus. Am Flughafen von San Francisco herrscht strenge Maskenpflicht, man muss anderthalb Meter Abstand halten, und jeder Passagier nach Hawaii braucht einen verpflichtenden NAT-Test, der als extrem genau gilt. Nach einer halben Stunde wird Joshua als Erster aufgerufen. Negativ. Louis: auch negativ. Die beiden dürfen in Richtung Check-in gehen. Dann werden Papa und ich gerufen.
Die Frau im Anzug guckt streng auf ihre Mappe. »Andreas und Nathalie Pohl? Bitte hinten in die letzte Stuhlreihe setzen.«
Als wir sitzen, kommt sie mit zwei ausgedruckten Seiten Papier. »Sie sind leider positiv. Sie müssen das Terminal bitte sofort verlassen.« Noch bevor wir verstanden haben, was gerade passiert, hat sie uns eine Liste mit Quarantänehotels in die Hand gedrückt und schiebt uns in Richtung Ausgang.
Game Over.
Nachdem wir zwei Wochen in Mexiko gewartet haben, in der vermeintlich virenlosen Freiheit, sind wir im exakten Gegenteil gelandet. Zwei Wochen stehen wir unter Quarantäne in einem Hotelzimmer in San Francisco. Als ich abends Adam in England anrufe, glaubt er mir erst kein Wort: »Haha, guter Witz!«
Ich bin am Boden zerstört. Was für eine nutzlose Reise. Was für ein sinnloses Warten. Was für vergeudete Zeit. Es kostet mich alle Kraft, mich selbst davon zu überzeugen, dass auch das Coronavirus eine Naturgewalt ist wie ein Tropensturm oder eine Springflut. Ein Mensch ist machtlos dagegen, und wenn er noch so hart dafür trainiert hat. Ich verbuche die Reise als Lehrstück in Sachen Geduld und Resilienz.
Und als der erste Frust verzogen ist, findet ein kleiner Teil in mir sogar einen bestimmten Trost in dem Fail. Wer weiß, vielleicht hat das Virus mich vor einer großen Dummheit bewahrt: Was wäre passiert, wenn ich geschwommen wäre? Vielleicht hätte mich ohne Adam, meinem Glücksbringer, ein Hai attackiert? Vielleicht wäre ich durch einen dummen Unfall mitten in der Nacht im Pazifik verschwunden?
Louis bleibt mit uns in San Francisco. Wir teilen uns ein Zimmer. Immer wieder landen wir bei derselben Frage: Wie lang will ich das Freiwasserschwimmen noch machen? Möchte ich nicht irgendwann auch ein »normales Leben« führen, ohne tägliches Training, ohne ständiges Frühaufstehen, ohne die langen Reisen?
Ich weiß kaum, was ich sagen soll. Ans Aufhören habe ich noch nie gedacht. Warum sollte ich auch? Und wann? Nachdem ich die Ocean’s Seven geschafft habe? Aber wäre das nicht absurd? Lynne Cox, mein erstes großes Vorbild, schwimmt auch heute noch, mit Ende 60. Sie hat das Freiwasserschwimmen zu ihrem Beruf gemacht, hält Vorträge, schreibt Bücher. Schwimmen, meine große Leidenschaft, nimmt seit meiner Kindheit den größten Platz in meinem Leben ein und wird es auch weiterhin tun, das weiß ich – und das ist auch gut so. Aber ich spüre bald, dass Louis eine gänzlich andere Vorstellung von seinem Leben hat als ich von meinem. Es hilft nichts, drum herumzureden: Wir müssen akzeptieren, dass unsere beiden Welten nicht zusammenpassen. Als wir wieder zu Hause sind, trennen wir uns.