Die Berge von Oahu sehen aus wie riesige mattgrüne Zelte, die auf einer unendlichen blauen Fläche aufgeschlagen sind. Der dichte Bewuchs, der tropische Dschungel, reicht vom Gipfel bis runter zum Wasser. Unten, an den Seiten der Zelte, nagt die Brandung.
Die Berge klappen nach unten weg, ich sehe nur noch Himmel. Das Flugzeug setzt zum Landeanflug an.
Mit mir im Flieger sitzen Papa, Joshua und mein Bruder Niklas. Adam ist noch in L.A. und leitet sein Schwimmcamp – er kommt nach, wenn in einer Woche mein Slot für die Querung beginnt. Es ist fast ein Jahr vergangen seit dem Versuch, über Mexiko hierherzukommen. Inzwischen sind die Coronaregeln gelockert, ich kann den Kaiwi-Kanal ohne irgendwelche Einreisetricks in Angriff nehmen.
Im März habe ich an einem Freiwasserwettkampf teilgenommen – dem »Oceanman« in Dubai. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr dort, in der Stadt mit dem komischen Namen und den modernen Häusern, die ich als Fünfjährige so faszinierend fand. Dort, wo alles begonnen hat.
Wir wohnen im gleichen Hotel wie damals. Aber Ramesh, mein erster Schwimmlehrer, arbeitet nicht mehr dort. Für die zehn Kilometer des »Oceanman« brauche ich zweieinhalb Stunden und bin die schnellste Frau in meiner Altersklasse. Mit dem Sieg im offenen Meer lecke ich mal wieder Blut. Mein eigentliches Ziel, die Ocean’s Seven, sind auch fast sechs Jahre, nachdem ich die erste Querung geschafft habe, nicht in Vergessenheit geraten. Ich hoffe und bete, dass es diesen Sommer so weit sein wird.
Zwei Tage zurück. Wir landen in der tropischen Hitze von Oahu, mit einem Flieger aus San Francisco. Wir packen unser Gepäck in einen Mietwagen und fahren Richtung Hotel. Ich bin groggy und todmüde, der Zeitunterschied von zwölf Stunden fühlt sich an, als wäre man gerade aus der Vollnarkose erwacht. Aber ich bin unbesorgt: Ein paar Tage des Eingewöhnens liegen vor uns, bis mein Slot beginnt. Erst in frühestens einer Woche müssen wir jeden Tag damit rechnen, dass unser Kapitän uns nach Molokai ordert. Von dort, so der Plan, schwimme ich dann zurück nach Oahu. Ich bin zum ersten Mal auf Hawaii und freue mich auf ein paar Tage der Akklimatisierung. Direkt vor dem Hotel findet ein Straßenfestival statt – es gibt exotisches Essen, Livemusik. Morgen, wenn ich geschlafen habe, schaue ich mir all das an!
Aber am Tag darauf klingelt schon früh am Morgen Joshuas Handy. Captain Mike ist dran. »Ich hab eine schlechte Nachricht und eine gute.«
Die schlechte: In ein paar Tagen, wenn mein eigentlicher Slot beginnt, wird es stürmisch. Und zwar, laut Wettervorhersage, gleich ein paar Wochen lang. Die gute Nachricht: Die nächsten zwei Tage sieht das Meer noch glatt und windstill aus.
»Ich überlasse es euch. Entweder ihr schwimmt übermorgen«, sagt Mike, »oder in einem Monat.«
Damit ist klar: Die Akklimatisierung fällt aus. Ich muss mit Jetlag schwimmen. Ich versuche es mir schönzureden: Die Überquerung startet abends, ich muss die Nacht durchschwimmen. Wie im Catalina-Channel versucht man auch hier auf Hawaii, wegen der schwächeren Wellen möglichst viel Zeit im Schutz der Dunkelheit zu schwimmen. Dank meines Jetlags werde ich immerhin kein Problem damit haben, nachts wach zu bleiben.
Wir buchen alles um: Flüge mit dem Insel-Hopper rüber nach Molokai, ein Gästehaus. Fehlt nur noch ein wichtiges Mitglied unserer Unternehmung: Adam! Aber ich erreiche ihn nicht. Er geht nicht ans Telefon, vermutlich weil er gerade Schwimmunterricht gibt. Mein Bauch verknotet sich bei dem Gedanken, dass mein Coach und Motivator auch diesmal nicht dabei sein kann. In meiner Not schreibe ich einer seiner Schülerinnen auf Instagram eine Nachricht: »Sag bitte Adam, dass er mich dringend zurückrufen soll!«
Abends meldet er sich.
»Nathalie, was ist los?«
»Ich muss übermorgen schwimmen! Entweder übermorgen oder erst in einem Monat.«
Adam schweigt. Ich rechne damit, dass er es nicht schaffen wird. Von L.A. aus hierherzufliegen würde allein schon zeitlich knapp – und er hat noch dazu ein Dutzend Schwimmer, die bei ihm noch einige Tage Unterricht gebucht haben.
Schließlich räuspert er sich.
»Gib mir eine Stunde.«
Bis heute weiß ich nicht, was genau er in dieser Stunde tut, wen er anruft, was er seinen Schülern sagt. Aber am nächsten Tag steigt Adam Walker, mein treuer Gefährte, mit einem kleinen Rucksack in ein Flugzeug Richtung Hawaii. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Ich sitze am Fenster der kleinen, ohrenbetäubend surrenden Cessna 208 Caravan und versuche, nicht raus aufs Meer zu gucken, durch das ich bald schwimmen muss. Acht Passagiere sitzen in dem kleinen Island Hopper von Mukulele Airlines von Oahu nach Molokai. Man trägt Hawaiihemden, Flipflops und Strohhüte. Die Piloten haben weiße Kurzarmhemden an – und steuern das Flugzeug barfuß.
Hawaii spart nicht mit Klischees.
Im Vergleich zum grünen, bergigen Oahu ist die Nachbarinsel Molokai ein verbrannter Pfannkuchen. Dunkler Lavaboden, gesprenkelt mit roter Erde, gelegentlich bewachsen von ein paar trockenen Sträuchern. Wir mieten für eine Nacht ein Ferienhaus in der Nähe des Strands, von dem aus ich starte. Auf dem Ortsschild steht »Welcome to Molokai«, mit einer Hibiskusblüte – und darunter, hingesprüht: »Tourists fuck off«. Die Insel ist die am wenigsten touristische von Hawaii. Und während auf den bekannteren Inseln Besucher von außerhalb längst den Großteil des Landes gekauft haben, sträubt man sich in Molokai gegen diese Art des »Overtourism« – unter anderem mit einer erstaunlichen Unfreundlichkeit. Sogar die Besitzerin unseres Gästehauses guckt uns permanent feindselig an. Sie motzt uns bei jeder Gelegenheit an, etwa weil wir es wagen, nach Salz zu fragen, oder weil wir uns am Abend zu sechst an einen Tisch setzen, den sie nur groß genug für vier Personen hält. Als Niklas am nächsten Morgen barfuß zum Frühstück kommt, schnauzt sie ihn an: »Hol dir gefälligst Schuhe!«
Ich nehme es gelassen. Immerhin mal ein Hawaii-Klischee, das gebrochen wird.
Captain Mike trägt ein grellpinkes Lycra und Boardshorts und sieht mit seinen strahlend weißen Zähnen und Haaren aus wie ein gut gealterter Rettungsschwimmer. Wir treffen ihn am Nachmittag vor der Querung am Pāpōhaku Beach – einem weiten Strand mit weißem, feinkörnigen Sand. Er wirkt wie auf einem verlassenen Planeten. Keine Fußspuren, keine Häuser, keine Menschen. Nur eine Hotelruine gammelt oben über der Sandlinie vor sich hin – längst von tropischer Wildnis überwuchert. An dieser gottverlassenen Ecke der Insel, die am weitesten in den Kaiwi-Kanal ragt, gibt es nicht nur keine Menschenseele, sondern auch keinen Hafen. Deshalb ankert Mikes Boot 200 Meter weit draußen in der Bucht. Bis dahin müssen wir schwimmen.
Ich schmiere mich mit Vaseline ein und einem neuen Produkt, das ich bisher noch nicht kannte: eine Quallencreme, die das Gift von Quallen deaktivieren soll. Auf dieses Szenario habe ich mich mental so intensiv vorbereitet wie auf die gesamte Querung: Eine Begegnung mit giftigen Quallen ist im Kaiwi-Kanal sehr wahrscheinlich. Adam hat bei seiner Überquerung eine Portugiesische Galeere gestreift und sagt, das sei »einer der schlimmsten Schmerzen meines Lebens«. Sein gesamter Oberkörper war von verbrannten Striemen übersät. Ich habe gegoogelt und in Foren gelesen, wie genau sich der Schmerz anfühlen soll: wie glühender Draht, der auf die Haut gedrückt wird. Ich will, mal wieder, so vieles vorher visualisieren wie ich kann. Ich brauche die Illusion von möglichst viel Kontrolle.
Wir packen unsere Klamotten und Vorräte in Drybags und laufen Richtung Wasser. Niklas, Adam und Joshua kämpfen sich durch die Brandung. Papa, der sich von uns allen im Wasser am wenigsten wohlfühlt, hat sich für das Stück extra Flossen gekauft. Das Meer ist direkt am Strand leuchtend türkis und fast so warm wie im Hallenbad. Zum ersten Mal schwimme ich mit Joshua, Adam und Papa gleichzeitig. Ein schöner Anblick: mein Team, nebeneinander im Wasser – in meinem Element.
Ich habe so hart trainiert wie noch vor keinem Schwimmen bisher. Sechs Wochen am Stück waren Joshua und ich in Portugal. Wir haben jeden Tag zwei Stunden im offenen Meer trainiert – und zweimal die Woche sechs Stunden. Wir üben Ausdauer, wir trainieren Sprint, wir trainieren Adams Methode des Kraftsparens. Irgendwann kommt Joshuas Frau ihn besuchen, um ihn in diesem Sommer überhaupt mal zu sehen.
Für den Kaiwi-Kanal, die längste der Ocean’s-Seven-Querungen, rechne ich mit mindestens 15 Stunden Schwimmzeit. Realistischer sind 18. Ich weiß, dass es diesmal besonders darauf ankommt, meine Kräfte einzuteilen. Und darauf, unterwegs Energie nachzufüllen. Meine Vorliebe für warme Cola wird mir hier auf der langen Strecke nicht viel helfen – der Energieschub durch den Zucker fällt zu schnell ab und verwandelt sich dann in Müdigkeit. Ich muss mich stattdessen an Kohlenhydrat-Drinks gewöhnen, die ich zwar schlecht vertrage, die mir aber langfristig Kraft spenden. Über Wochen und Monate hinweg haben wir langsam die Menge erhöht, die ich zu mir nehmen kann, ohne dass mein Magen rebelliert. Am Ende kann ich das Zeug sechs Stunden lang alle halbe Stunde trinken, ohne mich zu übergeben.
Mein Organismus ist bereit.
Um 17.10 Uhr schwimme ich los. Die Sonne steht noch weit oben am wolkenlosen Himmel. Einen Gedanken versuche ich mit aller Kraft von mir fernzuhalten: Wenn ich 18 Stunden brauche, komme ich am nächsten Tag um elf Uhr vormittags an. Eine fast unvorstellbare Menge an Zeit und Wasser liegt vor mir. Ich bin noch nie so lange geschwommen. Am Vortag haben wir mit dem Flugzeug aus Oahu 40 Minuten gebraucht, um über das Wasser zu fliegen, das ich jetzt durchqueren muss. Eine Vorstellung, die mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagt – wenn ich sie nicht unterdrücke. Und das tue ich. Ich fokussiere mich auf die nächste Stunde.
Strategisch habe ich mir die Querung in mehrere Phasen unterteilt: In der ersten bis zur Dunkelheit will ich mich aktiv bremsen – auf um die 60 Züge pro Minute. Dazu will ich so viel trinken, wie ich nur schaffe, damit ich später, in Phase zwei (von Sonnenuntergang bis Mitternacht) nicht allmählich dehydriere. Wie bei einem Marathon muss ich meine Ernährung unterwegs so planen, dass die Energiereserven zeitversetzt genau dann in der Muskulatur ankommen, wenn ich sie brauche.
Die ersten zwei Stunden laufen perfekt. Das Wasser ist glatt und seidenweich, die Temperatur schenkt meinem Körper ein Extra an Kraft, das er sonst bei den bisherigen Querungen für Wärme verbraten musste. Ich zähle im Kopf die Züge, lasse meine Arme und Beine so effizient und kraftschonend durchs Meer gleiten wie noch nie. Ich finde eine perfekte, mönchshafte innere Ruhe. War ich je zuvor so ruhig? Vielleicht ist das die Querung der Superlative: so hart trainiert wie nie, so weit wie nie, so warm wie nie, so ruhig wie nie …
Aber dann wird das Meer plötzlich doch zum Meer. Und zwar nicht zur Nordsee mit ihren kurzen, chaotischen Sturmwellen, sondern zum Pazifischen Ozean, der die Inselgruppe Hawaiis nicht umsonst zum weltberühmten, wellenumtosten Paradies für Surfer macht. Hohe, lange Wellenberge beginnen mich zu heben und abzusenken. Das Gefühl aus der Cookstraße, wie eine Marionette an Bungeeseilen zu hängen, kommt zurück.
Aber hier dauert die Phase zwischen den einzelnen Berg- und Talbewegungen deutlich länger. Weil Hawaii mitten im Pazifik liegt, rollt der Seegang über eine deutlich weitere Strecke, bevor er hier ankommt – dadurch sortieren sich die Wellen besser in ihrer Energie und kommen in niedrigerer Frequenz, dafür mit umso höheren Amplituden. Statt mich mit schnellen, überraschenden Bewegungen beschäftigt zu halten, schicken mich die Wellen hier eher auf lange Aufwärts- und Abwärtsfahrten. Während die Sonne langsam untergeht und den Himmel lila färbt, ergänze ich einen weiteren Superlativ zur Liste: Mir wird allmählich so kotzübel wie noch nie.
Ich überlege, mich zu übergeben – erinnere mich aber an die Taktikbesprechung mit Joshua und Adam: Ich muss in der ersten Hälfte des Schwimmens alle Flüssigkeit behalten, die ich kann. Das Trinken dient nicht nur der Bekämpfung meines Dursts, sondern der Vorbereitung der nächsten Phase, in der meine geschwächten Muskeln jeden Milliliter Flüssigkeit und jedes Mikrogramm Elektrolyte brauchen werden. Mit grünem Gesicht quäle ich mich weiter.
In einem Moment liegt Molokai noch als kleiner Streifen hinter mir, dann ist es komplett dunkel. Und diese Dunkelheit definiert das Wort »dunkel« für immer neu. Kein Licht dringt von der Insel hinter mir bis zu mir, von der Insel vor mir ist genauso wenig zu sehen. Egal, wo ich hinschaue: Ich bin allein auf dem offenen Meer. Die Sterne sind so hell und nah, wie ich es noch nie gesehen habe, sie spiegeln sich im pechschwarzen Wasser. Es ist, als schwämme ich im Weltall, schwerelos und Lichtjahre entfernt von einem bewohnten Planeten. Das Begleitboot einige hundert Meter weg hat wegen der Tiere im Wasser keine einzige Positionsleuchte eingeschaltet. Ich sehe es die nächsten neun Stunden gar nicht. Nur das Kajak hat ein Blinklicht an der Spitze und zwei grün blinkende Leuchten an den Shark Shields. Das Kajak ist mein einziger Begleiter im Weltall: ein kleines Raumschiff mit meiner Lebensversicherung.
Die poetische Macht der Dunkelheit und des Sternenhimmels lenkt mich nur kurz ab – dann muss ich mir eingestehen: Meine Übelkeit ist ein Problem. Sie wird nicht besser, sondern schlimmer. Bei den Feedings bekomme ich nicht mehr runter als ein paar Schlucke aus der Trinkflasche. Ich weiß, wir haben Medikamente gegen Seekrankheit dabei. Aber ich weiß auch, dass man davon extrem müde wird. Müdigkeit kann ich noch weniger gebrauchen als Übelkeit. Ich quäle mich also weiter, versuche mich davon zu überzeugen, dass der Schwindel nach den nächsten tausend Armzügen vorbei sein wird.
Und dann nach den nächsten tausend.
Und noch mal.
Ich versuche es mit Cola, obwohl ich weiß, dass das Zucker-High mir in einer Stunde mehr Kraft rauben wird, als es mir zuvor gegeben hat.
Es hilft nicht.
Ingwer, fällt mir irgendwann ein: Ingwer ist gut gegen Übelkeit. Bei der nächsten Gelegenheit frage ich den Kajakpaddler, ob er irgendwas mit Ingwer hat. Er funkt die Frage rüber zum Boot. An Deck wühlen Papa und Niklas in den Taschen und werfen dem Kajakfahrer irgendwas zu. Er gibt mir eine neue Flasche: »Sie haben ein Ingwerbonbon in Wasser aufgelöst.« Ich weiß die Mühe zu schätzen.
Aber es bringt nichts.
Halbe Stunde um halbe Stunde schleppe ich mich weiter, mit dem bitteren Geschmack in der Kehle, der sich im Mund sammelt, bevor der Körper sich übergibt. Und irgendwann ist es so weit. Und dann noch mal. Zwischen zwei oder drei Anfällen überlege ich fieberhaft: Wie lange kann ich das noch aushalten? Werde ich diesen Versuch abbrechen müssen, weil mir die Kraft ausgeht?
Ich blocke die Gedanken ans Aufgeben ab. Dieses Schwimmen ist mehr als alle anderen zuvor eine mentale Herausforderung. Und ich weiß inzwischen, welche unendliche Macht die Gedanken haben, die ich während einer solchen Herausforderung in mein Bewusstsein lasse. Denke ich darüber nach, welche Probleme ich habe, welche Schwierigkeiten und Widrigkeiten in meinem Weg liegen? Oder fokussiere ich mich auf das Positive? Bilder flackern durch mein Bewusstsein.
Adam, lachend in kurzen Hosen im Schneesturm.
»Vergiss nicht, es zu genießen!«
»Das Wasser ist nicht kalt. Es ist nur etwas weniger warm, als ich es gern hätte.«
Meine Gedanken entwickeln einen Strudel. Er führt mich immer tiefer in einen Ort in meinem Unterbewusstsein, an dem plötzlich kaum noch Zweifel existieren. Und niemand unterbricht mich. Die Paddler auf dem Kajak, die sich alle zwei Stunden ablösen, sind professionell, aber schweigsam. Niemand feuert mich an, niemand ruft mir Kommandos zu. Durch das Schweigen, durch das Alleinsein in der Dunkelheit finde ich eine ganz neue Konzentration. Über Stunden zähle ich nur meine Armzüge und schwelge in schönen Erinnerungen. Komme ich bei Tausend an, fange ich wieder bei Null an. Tatsächlich hätte ich das nicht erwartet: Ohne das Anfeuern von Papa und Adam fehlt mir die Verbindung zur Außenwelt, die ich mir sonst so dringend wünsche. Und diese Abkopplung ist viel besser, als ich es mir vorgestellt habe.
Ich fühle mich nicht wie in einer Challenge, sondern auf einer einsamen Expedition in den Sternen. Ich bin so tief in einer Art Trance wie noch nie.
Nach fünf Stunden im Weltall, um Mitternacht herum, scheint mein Körper genügend Astronautentraining absolviert zu haben. Tatsächlich: Mein Magen entkrampft sich ein wenig. Das Heben und Senken ist für meinen Gleichgewichtssinn keine Irritation mehr, sondern zum neuen Normal geworden.
Als der Kajakfahrer mir eine Flasche zuwirft, nehme ich gierige Schlucke, die zum ersten Mal seit vielen Stunden guttun und schmecken.
Dann drehe ich mich auf den Rücken. Der Sternenhimmel in der kompletten Schwärze hüllt mich ein wie eine glitzernde Wolke. Ich muss breit grinsen. Glücksgefühle steigen mir von der Brust hoch in den Hals wie kitzelnde Luftblasen. Mitten in der Nacht, ohne Festland in Sicht, bin ich eins mit dem Meer.
Die Nacht will nicht enden. Ich schwimme, zähle ein paar Tausend Armzüge, bekomme etwas zu trinken. Ich schwimme weiter, unendlich lang. Meine Kraft lässt langsam nach. Auch mit Adams Methode, auch mit weniger Armzügen als sonst, ist mein System auf diese Strecke nicht eingestellt. Ich habe genug Erfahrung, um die langsam übersäuernden Muskeln zu ignorieren. Zwischendurch achte ich auf Signale, die das Vergehen von Zeit dokumentieren würden. Ist es zu meiner Rechten, in Richtung Osten, am Horizont etwas heller geworden?
Immer lautet die Antwort: nein.
Dann, nach elf Stunden im Wasser, sehe ich plötzlich nicht mehr nur das Blinklicht, sondern auch die Umrisse des Kajaks. Ein paar Minuten später auch das Gesicht des Paddlers. Das Hauptboot schält sich in der Entfernung aus dem Schwarz. Ich erkenne Adam am Bug, der angestrengt zu mir rüberstarrt. Die Dämmerung beginnt.