KAPITEL
3
Neben dem weißen Tuch auf der Straße, unter dem sich eine Leiche verbarg, lag ein Basketball im Rinnstein. Tracy und Kins hatten auf dem Weg hierher darüber spekuliert, warum wohl in diesem Fall das A-Team hinzugezogen worden war. Mit Todesfällen durch Unfall befasste sich normalerweise die Traffic Collision Investigation Unit, die Spezialeinheit, die bei schweren Verkehrsunfällen ermittelte. Mordermittler hinzuzubitten war ungewöhnlich.
Kins parkte an der South Henderson Street, Del und Faz, die mit einem eigenen Wagen unterwegs waren, hielten direkt hinter ihnen. »Hat Billy gesagt, was wir hier sollen?«, fragte Kins. Tracy war von Billy Williams angerufen worden, dem Sergeant des A-Teams, der wiederum vom Sergeant der TCI, Joe Jensen, benachrichtigt worden war.
Tracy schüttelte den Kopf. »Die TCI glaubt, es war Fahrerflucht. Mehr weiß ich nicht.«
Sie stiegen aus und warteten darauf, dass sich auch Faz und Del in die Kälte wagten. Blaue und rote Lichter flammten auf und warfen ihre Farben auf die Wände sowie die mit Brettern vernagelten Türen und Fenster umliegender Geschäfte. Etliche Streifenwagen standen quer auf der Straße und riegelten so die Renton South Avenue ab, während uniformierte Beamte in
dicken Jacken und Handschuhen den Verkehr umleiteten. Ein Löschfahrzeug der Feuerwehr und ein Krankenwagen ergänzten das Ensemble, wobei die Feuerwehrleute und Sanitäter untätig herumstanden und verfroren wirkten.
»Was hältst du davon, dass Nolasco Del erlaubt hat, im Todesfall seiner Nichte zu ermitteln?«, wollte Tracy von Kins wissen.
Kins warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder der Szene auf der Straße zuwandte. »Faz passt schon auf, dass Del nicht über die Stränge schlägt.«
»Er dürfte gar nicht an dem Fall arbeiten.«
Diesmal fiel Kins’ Blick ein wenig schräg aus. »Und das willst du ihm sagen?«
»Nicht meine Aufgabe. Nolasco müsste es ihm sagen.«
»Und lässt du dich hier vielleicht von persönlichen Gefühlen leiten?« Tracy und Nolasco verband eine sehr lange, sehr schwierige Beziehung, die ihren Anfang in Tracys Zeit an der Polizeihochschule hatte.
»Mit meinen persönlichen Gefühlen hat das gar nichts zu tun. Hier geht es um Grundsätze unserer Abteilung.«
»Faz sagt, er hat es im Griff. Wenn du mich fragst, sollten wir zwei es dabei bewenden lassen.« Kins musterte die Straße mit dem weißen Laken darauf. »Was meinst du? Wie weit liegt die Leiche von der Kreuzung entfernt?«
Er wollte das Thema wechseln, das war Tracy schon klar. Vielleicht hatte er ja auch recht und sie sollten es wirklich gut sein lassen. Sie dachte über seine Frage nach. »Acht Meter ungefähr, würde ich sagen.«
»Das wird nicht hübsch.«
Inzwischen waren Del und Faz auch ausgestiegen und alle vier gingen zu Williams hinüber, der schon auf sie wartete.
Über der Stadt lag eine schwere Wolkendecke, die nun ernsthaft auf baldigen Schneefall hindeutete und sämtliche
Geräusche zu dämpfen schien. Williams unterhielt sich gerade mit zwei Männern in leuchtend gelben Jacken mit grauen, reflektierenden Streifen und der Aufschrift »Seattle Police« auf dem Rücken. Williams, dem Aussehen nach ein Zwillingsbruder des Schauspielers Samuel L. Jackson, sah in seiner rot-schwarz karierten Schirmmütze mit passendem Schal sehr schick aus. Den Schal hatte er sich zweimal um den Hals geschlungen und unter den Mantelkragen gesteckt.
»Du ein Schotte, darauf wäre ich nie gekommen«, begrüßte Faz seinen Sergeant. »Hat dir Sean Connery die Mütze und den Schal geschenkt?«
Williams bedachte ihn mit einem süffisanten Lächeln. »Laut Ancestry.com bin ich eine Menge Dinge, auf die du nie kommen würdest. Wofür ich mich im Übrigen bei deinen Leuten bedanken kann.«
»Ich bin zu hundert Prozent Italiener«, protestierte Faz. »Bei mir kannst du dich höchstens für leckeres Essen und den Paten bedanken.«
Tracy wandte sich an Joe Jensen, den größeren der beiden Männer, mit denen Williams geredet hatte. Er trug eine schwarze Skimütze, die er sich fest über beide Ohren gezogen hatte. »Wolltest du uns hier dabeihaben, Joe?«
Jensen arbeitete seit einer halben Ewigkeit bei der TCI, bestimmt schon seit fast drei Jahrzehnten. Damals, als Tracy noch Streife fuhr und eine Versetzung ins Morddezernat reines Wunschdenken zu sein schien, hatte sie kurz mit dieser Abteilung geliebäugelt, in der sich allem Anschein nach gut Wissen und Erfahrung sammeln ließen. Wer dort anfangen wollte, musste allerdings in Mathe und Physik brillieren und durfte keine Angst vor Theorien wie der von der linearen Beschleunigung haben. Tracy war immer gut in Mathe und Naturwissenschaften gewesen und hatte nach dem College drei Jahre lang an der High School Chemie unterrichtet. Das alles,
und damit auch die Mathematik, hatte sie jedoch für immer hinter sich gelassen, als sie nach dem Verschwinden ihrer Schwester beschloss, zur Polizei zu gehen.
»Wann kommst du rüber zu den Gewaltverbrechen?«, erkundigte sich Tracy bei Jensen, wie sie es jedes Mal tat, wenn sie sich sahen.
»Nach meiner Pensionierung.« Das war Jensens Standardantwort. Er war oft gebeten worden, in die Mordkommission zu wechseln, mochte aber nicht, weil ihm die Fälle dort zu auswechselbar vorkamen, wie er Tracy einmal erklärt hatte. »Der Verdächtige von dieser Woche kann nächste Woche schon Opfer sein.« Außerdem war er ein Mathegenie und stolz darauf. »Der Unfall hier ist tragisch.« Jensen zog sich die Skimütze zurecht und deutete auf das weiße Laken. »Ein zwölfjähriger Junge.«
»Nein!«, riefen Tracy und Kins wie aus einem Munde.
Del trat wortlos zur Seite.
»Afroamerikanischer Junge auf dem Nachhauseweg vom Basketballspielen«, fuhr Jensen fort.
»Und beim allgemeinen Klima momentan sind ein paar von denen da oben besorgt und möchten die Sache auf jeden Fall mit dem nötigen Feingefühl behandelt wissen«, ergänzte Williams.
»›Black Lives Matter‹?«, fragte Faz. Die Bewegung hatte in Seattle ebenso schnell an Bedeutung gewonnen wie im Rest der Vereinigten Staaten und niemand musste den anwesenden Polizisten sagen, dass sie sich hier in einem überwiegend von Afroamerikanern bewohnten Stadtteil befanden.
Williams nickte. »Die Chefs wollen ein Mordermittlerteam.« Er sah Jensen an. »Bitte nicht persönlich nehmen.«
»Mach ich schon nicht.«
»Das ist Politik«, fuhr Williams fort. »Wir arbeiten mit der TCI zusammen.«
»Ist das okay für dich?«, erkundigte sich Tracy vorsichtshalber noch einmal bei Jensen.
»Ist nicht meine Entscheidung. Aber was mich betrifft: Je mehr, desto besser. Obwohl – richtig gut ist an dieser Sache bestimmt nichts.«
»Was ist passiert?«, fragte Tracy.
»Das Auto hat ihn aus den Flip-Flops gehauen. Seine Basketballschuhe liegen noch zehn Meter weiter die Straße runter.«
»Kein Ausweis, nehme ich mal an?«, fragte Tracy.
Jensen deutete mit dem Kinn auf eine Gruppe von Männern und Frauen, die an der Straßenecke standen. »Nein. Aber einer der Zeugen sagt, der Name des Opfers sei D’Andre Miller.«
»Hat der Zeuge den eigentlichen Unfall mitbekommen?«
Jensen schüttelte den Kopf. »Nein. Er ging die South Henderson hoch und hörte einen dumpfen Aufprall. Du weißt, wie das ist.«
Das wusste Tracy in der Tat. Die meisten Zeugenaussagen bei Autounfällen waren nicht gerade hilfreich. Die Leute wollten es oft gern sein, aber meistens hatte keiner von ihnen den eigentlichen Unfall wirklich miterlebt, sondern nur etwas gehört und später die Folgen gesehen. Fantasiebilder ergänzten dann sämtliche Leerstellen im Hirn, was oft nicht zu den konkreten Beweisen passte, weswegen so ein Zeuge oft mehr schadete als nutzte, sollte die Sache vor Gericht kommen.
Jensen deutete auf einen weiteren Zuschauer an der Straßenecke. »Der Mann da fuhr gerade nach Hause und blieb stehen, als er die Streifenwagen sah. Der Junge hat heute Abend im Gemeindezentrum Basketball gespielt und hatte es wohl eilig, nach Hause zu kommen.« Jensen deutete die Straße hinunter. »Er sagt, das Opfer nimmt gern die Abkürzung über den Chief Sealth Trail.«
»Das ist in der entgegengesetzten Richtung«, sagte Kins. Entgegengesetzt zur Richtung, in der die Leiche lag, meinte er damit.
»Ich weiß«, sagte Jensen. »Wenn er auf dem Bürgersteig bis zur Kreuzung lief, hat ihn jemand mit sehr hoher Geschwindigkeit erwischt.«
»Wissen die Eltern schon Bescheid?«, wollte Tracy wissen.
»Von uns nicht. Aber irgendwer von den Leuten hier wird es ihnen wohl gesagt haben.«
Tracy sah hoch zu dem Durcheinander aus baumelnden Ampeln und schwarzen, zwischen Telefonmasten gespannten Kabeln. Die Ampel auf der Renton Avenue sprang von Grün auf Rot. »Irgendwelche Probleme mit den Ampeln?«
»Soweit ich weiß, nicht«, antwortete Jensen. »Aber wir lassen das überprüfen.« Er folgte Tracys Blick Richtung Süden auf den nicht unansehnlichen Hügel, den hinunter die Renton Avenue verlief, ehe sie hier an der Ampel wieder flach wurde. »Und nein, wir haben keine Bremsspuren gefunden.«
»Dann hat der Fahrer nicht versucht, anzuhalten?«, fragte Tracy.
»Erst einmal deutet nichts darauf hin. Meiner Einschätzung nach wurde das Opfer so getroffen, dass es auf der Kühlerhaube landete, oder es wurde nach vorn auf die Straße geschleudert.«
»Bei der Distanz zwischen Leiche und Kreuzung gehe ich von einigem Sachschaden vorn am beteiligten Auto aus«, fuhr Jensen fort. »Daran werden wir verstärkt arbeiten.«
»Was ist mit Kameras?« Faz sah sich die Geschäfte an allen vier Ecken der Kreuzung an. Ein Laden für Autoersatzteile hatte schwarze Gitter vor den Fenstern und der Tür, ebenso vergittert waren die Fenster im Erdgeschoss eines dreistöckigen Wohnhauses an der südöstlichen Ecke. An einer der beiden anderen Ecken stand ein schmutzig gelbes Geschäftshaus, in dem sich eine Reinigung befand, gegenüber lag ein Restaurant
mit ausgeblichener roter Markise. Dort wuchs an den Fenstern zur Straße bereits Unkraut, was darauf schließen ließ, dass dieses Restaurant schon eine Weile nicht mehr in Betrieb war.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Jensen.
Williams nahm die Hände aus den Taschen. »Lass uns loslegen. Del und Faz, ihr fragt bei den Mietern in den umliegenden Apartments nach, ob irgendwer etwas gesehen hat. Erkundigt euch auch, ob der Laden mit den Autoteilen Kameras benutzt, die etwas aufgezeichnet haben könnten.«
Während Del und Faz verschwanden, näherte sich eine Beamtin der Gruppe. »Detectives? Tut mir leid, dass ich stören muss, aber wir haben etwas gefunden.«
Die Gruppe folgte ihr die Straße hinauf zu einer ungefähr drei Meter von der Kreuzung entfernten Stelle. Dort richtete die Beamtin ihre Taschenlampe auf ein dreieckiges Stück Glas auf dem Boden, das für Tracy so aussah, als gehöre es zur Abdeckung eines Autoscheinwerfers. »Das haben wir erst nicht entdeckt, weil es durchsichtig ist«, erklärte die Polizistin.
»Gut gemacht«, lobte Jensen. »Jetzt brauchen wir nur noch das Auto dazu.«
Ein Motor heulte auf, was die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, und es kam Bewegung in die Menge, als ein älterer weißer Honda mit quietschenden Bremsen auf der Kreuzung hielt. Die Fahrertür flog auf und eine afroamerikanische Frau sprang aus dem Wagen. Sie ließ den Motor laufen und das Licht brennen, während sie sich hektisch umsah. »Mein Sohn?«, fragte sie, an niemanden besonders gerichtet. »Wo ist mein Sohn?«
Mehrere Streifenbeamte versuchten, sie aufzuhalten, aber die Frau stieß sie zurück. »Ich will meinen Sohn sehen! Wo ist D’Andre?«
Der Mann, der laut Joe Jensen Terry hieß, deutete laut weinend auf das weiße Laken.
Die Mutter schlug die Hand vor den Mund – danach bewegte sie sich nicht mehr. Ihre Knie gaben nach, sie sackte in sich zusammen, bis sie laut klagend auf dem Bürgersteig kniete. Terry, der neben ihr stand, schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Tracy ging zu ihr und kniete sich hin. Als die Frau zu ihr aufsah, sah man in ihren Augen das nackte Entsetzen und die unermessliche Trauer, die Tracy auch in den Augen ihres Vaters und ihrer Mutter gesehen hatte. Damals, an dem Abend, als feststand, dass Sarah verschwunden war.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Tracy. Sie musste an Del denken und an das, was er im Pub gesagt hatte.
Eltern sollten ihre Kinder nicht begraben müssen.
Keiner der beiden Hunde stürmte bellend aus dem Schlafzimmer, als Tracy vorsichtig die Haustür aufschloss und eintrat. Sie schienen sich an ihre Spätschicht gewöhnt zu haben. Immer noch leise zog sich Tracy die Schuhe aus, stellte sie unter die Sitzbank, hängte ihre Jacke an die Garderobe und ging in die Küche.
Dan hatte das Innere der einstöckigen Kate aus Naturstein komplett umgestaltet, indem er vorn einen zusammenhängenden, großen Raum schuf und die dunklen Eichenböden aufarbeitete, die sämtliche Scharten und Narben aufwiesen, die man in einem alten Bauernhaus erwarten konnte. Die auf breiten, soliden Querbalken ruhende Zimmerdecke passte perfekt zum Fußboden und das Ganze wurde von einem großen gemauerten Kamin ergänzt. Dan hatte eine Firma aufgetan, die einen Einsatz mit Gebläse im Kamin installieren konnte, sodass jetzt ein Feuer darin stundenlang das ganze Haus heizte. Eine rote Ledercouch, ein zweisitziges Sofa und ein paar Teppiche gestalteten den Wohnbereich, während ein antiker Eichentisch mit
passenden Stühlen als Esszimmer fungierte. In der hintersten Ecke des großen Raums sorgte ein bequemer Stuhl mit passender Lampe für einen Rückzugsort zum Ausruhen und Lesen. Außerdem gab es im Haus noch ein kleines Schlafzimmer, das gerade so eben Platz für ein großes Doppelbett bot, und eine daran angrenzende winzige Küche, in die höchstens zwei Leute zur gleichen Zeit passten. Eine Geschirrspülmaschine hatten sie hier nicht unterbringen können.
Tracy goss sich an der Spüle ein Glas Wasser ein und blieb einen Moment am Fenster stehen. Sie musste an die Mutter denken, die sie eben dort auf der Straße erlebt hatte, und an ihre eigene Mutter. Draußen über der Koppel stand der Vollmond und färbte das Gras der Wiese in ein trauriges, blasses Blau. Die ganze Welt schien heute Nacht zu weinen.
Dan hatte das viertausend Quadratmeter große Grundstück mit dem alten Bauernhaus gekauft, weil er gern einsam wohnte und das Anwesen von der Lage her Ähnlichkeit mit seinem Zuhause in Cedar Grove aufwies. Tracy, die lange direkt im Zentrum von Seattle und danach immer noch zentrumsnah in einem der westlichen Stadtteile gelebt hatte, brauchte länger, um sich an die Ruhe und Abgeschiedenheit hier zu gewöhnen. Besonders in Nächten wie dieser fehlte ihr die Stadt, sehnte sie sich nach irgendetwas, um die Bilder vom weißen Laken und der vor Kummer zusammengebrochenen Mutter, die sich nie wieder ganz erholen würde, ein wenig zu verdrängen.
Jetzt kam doch noch Sherlock aus dem Schlafzimmer getrottet, dicht gefolgt von Tracys Kater Roger. Tracy drehte den Wasserhahn ab und Roger sprang auf den Küchentresen, um mit hocherhobenem Schwanz leise miauend darauf auf und ab zu stolzieren. Es hatte Monate gedauert, aber inzwischen schienen sich Dans Hunde, die beiden je sechzig Kilo schweren Rhodesian Mastiffs Rex und Sherlock, endlich nicht mehr für die Katze des Hauses zu interessieren.
»Du musstest doch nicht aufstehen«, flüsterte Tracy Sherlock zu, der von den beiden Hunden der ritterlichere war. Sherlock antwortete mit einem tiefgründigen Blick. »Schon gut, ich weiß, was du willst.« Sie holte ihm einen Hundekeks aus dem Schrank, auf den er sich allerdings nicht sofort stürzte. Er sah sie weiterhin unverwandt an, als spürte er, was mit ihr los war, und wollte ihren Kummer teilen. »Ist schon okay, nimm ihn ruhig.« Sanft zog er ihr den Keks aus den Fingern und sie drückte ihm einen Kuss auf den Kopf. »Verrat deinem Bruder nichts davon.«
Leise ging sie ins Schlafzimmer, wo sie sich im Dunkeln auszog, in ein Nachthemd schlüpfte und unter die Decke kroch. Dankbar kuschelte sie sich in das von Dans glühendem Körper geschaffene Nest aus Wärme.
»Hey!« Dans Stimme war vor Schlaf ganz heiser, als er Tracy in die Arme nahm. »Du bist spät. Ich habe versucht, wach zu bleiben.«
Sein Atem roch noch nach der Pfefferminze in seiner Zahnpasta. Im Dunkeln konnte man Rex gähnen hören, was wie eine Mahnung klang: Seid gefälligst ruhig, ich schlafe. Roger sprang schnurrend aufs Bett.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Dan unterhielt inzwischen ein Anwaltsbüro in Redmond, wohin ihm sein guter Ruf und viele Klienten gefolgt waren. Wenn er arbeitete und Tracy Nachtschicht hatte, sahen sie tagsüber nicht viel voneinander. »Es gab einen weiteren Mordfall.«
»Das hatte ich mir schon gedacht. Schlimm?«
Tracy hatte sofort wieder den schmächtigen Körper unter dem weißen Laken vor Augen. »Fahrerflucht«, sagte sie leise. »Ein zwölfjähriger Junge.«
Er drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel und strich sanft über ihr Haar. »Alles okay bei dir?«
Jahrelang war Tracy nach der Arbeit allein in eine leere Wohnung gekommen und hatte sich immer wieder versichert, das sei völlig in Ordnung so, es ginge ihr gut damit. Auch wenn es ihr nicht gut gegangen war. Sie hatte kaum eine andere Wahl gehabt, es gab ja niemanden, der sie aufmuntern konnte. So hatte sie nie gelernt, sich trösten zu lassen. Jetzt versuchte sie es damit.
»Nicht so richtig.«
»Das tut mir leid.« Dan drückte sie fester an sich und sie spürte seinen Atem auf ihrem Haar, das sanfte Auf und Ab seiner Brust. »Möchtest du darüber reden?«
Sie lächelte. Sie würde tagelang darüber reden, sie würde sich jahrelang daran erinnern. Aber heute Nacht war Dan müde, und sie war es auch. »Schlaf wieder ein.«
»Wann hast du morgen deinen Arzttermin?«
Dr. Kramer in der Kinderwunschklinik – das hatte sie ganz vergessen. »Um zwei.«
»Ich kann ein paar Sachen umorganisieren und wir treffen uns dort.«
»Ich will mir ja nur die Testergebnisse abholen. Wenn wir wissen, woran wir sind, können wir weitere Entscheidungen fällen.«
»Ich für meinen Teil, Ma’am, stehe nach wie vor mit all meiner Kraft für die anstehende Arbeit zur Verfügung!« Dan hörte sich an wie ein Rekrut bei der Dienstbesprechung: zackig und auf Draht. »Ich versichere feierlich, dass ich mich weder von Regen noch Schnee noch stockfinsterer Nacht von der Erfüllung meiner Pflichten abhalten lasse.«
»Wir liefern nicht die Post aus«, flüsterte Tracy. »Wir wollen ein Baby machen.«
Mit Dan war alles in Ordnung, er brauchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Er hatte die während seiner ersten Ehe vorgenommene Vasektomie rückgängig machen lassen und
war gleich danach getestet worden. Woraufhin er ihr in ihrem Schlafzimmer in Redmond stolz hatte verkünden können, er habe geladen, entsichert und sei bereit, mit scharfer Munition zu schießen.
Mit anderen Worten: Was immer das Problem auch sein mochte, er war es nicht. Während es also ein Teil von Tracy gern gesehen hätte, wenn Dan mit ihr zum Arzt gegangen wäre, wollte ihn ein anderer Teil von ihr nicht dabeihaben, wollte nicht, dass er die schlechten Testergebnisse zu hören bekam, die sie zu bekommen fürchtete. Das Problem – was immer es auch sein mochte – lag nämlich bei ihr.
Dan ließ sie los und rollte sich auf seine Seite. Es dauerte keine Minute, dann hörte man seinen friedlichen Atem. Tracy dagegen konnte noch nicht schlafen. Wieder musste sie an Shaniqua Miller denken, wie sie da auf der Straße einfach in sich zusammengesackt war. Sie dachte an Dels Schwester Maggie und daran, wie sie sich wohl gefühlt hatte, als sie ins Zimmer ihrer Tochter kam und ihr Kind tot vorfand. Sie dachte an den Kummer ihrer Mutter, die niemand hatte trösten können, die den Verlust ihrer Tochter nie überwunden hatte, wie eine tiefe Schnittwunde, die einfach nicht heilen will.
Und sie dachte an ihre eigene Sehnsucht nach einem Kind. War es vielleicht doch eher ein Segen und nicht ein Fluch, nicht schwanger zu werden?