KAPITEL
6
Tracy saß auf einem ungemütlichen Stuhl im spartanisch eingerichteten Büro der Kinderwunschklinik und wartete auf die Ergebnisse ihrer Untersuchung. Konnte die Wissenschaft leisten, was die Natur ja anscheinend nicht fertigbrachte? Das Summen der Neonröhren an der Decke ging ihr mehr und mehr auf die Nerven. Sie waren so hell, dass die weißen Wände und der Linoleumfußboden fast zu glühen schienen. Sie wäre gern aufgestanden und herumgelaufen, um ein wenig Stress abzubauen, aber das Büro war nicht viel größer als einer der Verhörräume im Polizeipräsidium.
Ihre Gefühle in diesem Raum schwankten zwischen depressiv, wütend, frustriert und verlegen. Sie hatte sämtliche Ratschläge ihrer Gynäkologin befolgt, ihren Menstruationszyklus gemessen, jeden Morgen brav auf einen Plastikstab gepinkelt, um genau zu wissen, wann der Eisprung erfolgt war, und sich an Dans Fersen geheftet wie ein Seemann beim ersten Landgang nach einem Jahr auf hoher See. Nichts hatte funktioniert.
Die Tür zum Behandlungszimmer ging auf und sofort spürte Tracy, wie ihre Anspannung zunahm. Da verbrachte sie nun ihre Tage und manchmal, wie jetzt, auch ihre Nächte mit der Jagd nach Mördern und anderen Gewaltverbrechern, aber so nervös wie jetzt war sie lange nicht mehr gewesen. Hier hatte
sie nichts unter ihrer Kontrolle, sie fühlte sich machtlos den Ergebnissen der Untersuchung ausgeliefert.
Dr. Scott Kramer betrat das Zimmer in einem weißen Laborkittel, auf dessen Brusttasche in blauen Lettern sein Name gestickt war. Sein Lächeln war warm wie immer, als er auf die Pistole zeigte, die neben ihrer Dienstmarke an Tracys Gürtel hing. »Ich hoffe, die haben Sie nur dabei, weil Sie gleich noch zur Arbeit müssen.«
Tracy lächelte. »Spätschicht.«
Kramer zog sich einen Schreibtischstuhl auf Rollen heran und setzte sich an einen ebenfalls rollbaren Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Als er den Metallständer so drehte, dass auch sie den Bildschirm vor Augen hatte, roch Tracy schwach den Duft seines Rasierwassers. Er wollte schon anfangen, als er doch noch einmal die Hände von der Tastatur nahm und fragte: »Wie geht es Ihnen?« Fast klang das so, als hätte er die Frage vergessen gehabt.
»Ich nehme mal an, das sagen Sie mir gleich«, antwortete Tracy trocken.
Diesmal fiel Kramers Lächeln vielleicht einen Tick weniger markant aus. Der Arzt war Mitte fünfzig, wurde langsam kahl und hatte wache Augen, die er permanent zusammenzukneifen schien. Dazu kam die schlanke Gestalt eines Tennisspielers mit der entsprechenden gesunden Gesichtsfarbe – sein körperliches Erscheinungsbild passte zu seinem sanftmütigen Verhalten. »Lassen Sie uns auf jeden Fall im Kopf behalten, dass diese Tests immer relativ sind. Die Ergebnisse sind nicht in Stein gemeißelt.«
»Das verstehe ich.« Dann gab es also keine guten Nachrichten.
Kramer sprach leise, während er die Tastatur bearbeitete. »Wenn Frauen älter werden, nimmt die Fruchtbarkeit ab – aber auch das ist relativ.« Auf dem Bildschirm erschien eine Kurve,
die der Arzt mit dem Finger nachzog. »Ungefähr bis zum Alter von fünfunddreißig Jahren lässt die Fruchtbarkeit nur langsam nach. Danach geht es drastisch schneller.« Auf dem Bildschirm sah das so aus, als stürze jemand von einer Klippe. »Sie sind dreiundvierzig, da liegt die Chance, schwanger zu werden, bei ungefähr dreißig Prozent.«
»Dafür ist die Chance, eine Fehlgeburt zu erleiden, wenn ich dann doch schwanger werde, erheblich größer als vorher.« Tracy hatte sämtliche Aufsätze zum Thema gelesen, die sich online finden ließen, obwohl sie wusste, wie gefährlich halb gares Internetwissen sein konnte.
»Vielleicht. Ungefähr fünfunddreißig Prozent.«
»Was zeigen meine Testergebnisse denn nun?«
Kramer hatte mehrere Tests angeordnet, die am dritten Tag von Tracys Menstruationszyklus vorgenommen worden waren, um ihre »ovarielle Reserve« zu bestimmen. Mit diesem Test, hatte er ihr erklärt, ließ sich feststellen, wie viele Eier sie noch hatte und wie empfänglich die bei einem Eisprung waren.
»Um ehrlich zu sein – Ihre ovarielle Reserve ist schwach.« Langsam kam Kramer zur Sache. »Das ist jetzt nicht schön, aber, wie ich vorhin bereits sagte, auch keine in Stein gemeißelte Wahrheit.«
»Das Ergebnis legt aber doch nahe, dass die Chancen, dass ich mit meinen eigenen Eiern schwanger werde, sehr gering sind.« Sie konnte also nicht bei Schichtende nach Hause gehen und stolz verkünden, sie habe geladen, entsichert und sei bereit, auszutragen.
»Auf jeden Fall werden die Möglichkeiten weniger. Wie lange versuchen Sie und Ihr Mann jetzt, schwanger zu werden?«
»Sechs Monate. Seit seine Vasektomie rückgängig gemacht werden konnte.« Sollte sie jetzt etwas zur Häufigkeit sagen, mit der sie miteinander schliefen?
Dr. Kramer schlug die Beine übereinander und beugte sich vor. Er hatte so eine feine, bedächtige Art, sich zu verhalten, die
Tracy gerade wahnsinnig zu machen drohte. Sie wusste bereits aus dem Internet, dass sechs Monate genau der Zeitraum war, in dem man versuchen sollte, aus eigener Kraft schwanger zu werden. Erst danach wurde interveniert. Diesen Meilenstein hatten Dan und sie hinter sich gelassen.
»Das ist der Zeitraum, zu dem wir normalerweise raten, bevor etwas unternommen wird«, bestätigte Dr. Kramer.
»Und was sind jetzt meine Alternativen?«
»Nun, wir könnten es mit Medikamenten versuchen, die die Fruchtbarkeit steigern.«
»Besonders optimistisch klingen Sie dabei nicht.« Tracy lächelte verhalten.
Kramer zuckte die Achseln. »Wenn man Ihr Alter bedenkt, den Status Ihrer ovariellen Reserve und wie lange Sie schon versuchen, schwanger zu werden, dann würde ich sagen, die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft ist gering.«
»Gering im Sinne von …«
»Niedrig.«
Sie verarbeitete die Information. »Was sind das für Medikamente?«
Kramer sah aus, als hätte ihn die Frage von seinem eigentlichen Gedankengang abgebracht. Er hatte wahrscheinlich gerade ein Spenderei zur Sprache bringen wollen, aber Tracy wollte kein Kind, das halb Dan und halb jemand Unbekanntes war. Sie wollte kein Kind in einer Petrischale zeugen. Sie wollte ein Kind, eins von ihr und von Dan.
»Wenn wir Fruchtbarkeitsmedikamente verschreiben, dann fangen wir mit einer Dosis Clomid an und prüfen per Ultraschall, ob und wann Sie einen Eisprung haben. Um den Rest kümmern Sie und Dan sich. Wir warten zehn bis vierzehn Tage und machen einen Schwangerschaftstest. Aber unter diesen Umständen …«
»Wie stünden meine Chancen?«
Kramer sah aus, als würde er im Kopf Zahlen durchgehen. »Es ist schwer, das genau zu bestimmen, aber unter den gegebenen Umständen …« Er schwieg kurz. »Wir wollen realistisch sein. Ja, wir könnten Ihre Eierstöcke mit Fruchtbarkeitsmedikamenten anfeuern, um sie dazu zu bringen, einen Eisprung zu produzieren, aber wären Ihre Eier überhaupt in der Lage, sich befruchten zu lassen? Und wenn ja, dürfen Sie die hohe Fehlgeburtenrate nicht vergessen und die erhöhte Chance, ein Kind mit einem Geburtsfehler wie dem Down-Syndrom zur Welt zu bringen. Sind Sie sicher, dass Sie damit fertigwürden?«
»Aber Sie sagten auch, diese Bestimmung der ovariellen Reserve wäre keine in Stein gemeißelte Wahrheit.«
»Richtig, die Zahl gibt uns keine absolute Gewissheit. Aber der Wert ist dennoch informativ. In Ihrem Fall sind die Chancen, schwanger zu werden, bestenfalls sehr gering. Es gibt andere Optionen.«
»Ein Spenderei.«
»Ja.«
Tracy seufzte. Wenn ein Spenderei infrage käme, dann könnten sie genauso gut adoptieren, einem Kind in Not ein gutes Zuhause geben. Dan und sie hatten beschlossen, diese Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Sie hatten auch beschlossen, miteinander zu besprechen, ob Tracy Fruchtbarkeitsmedikamente einnehmen sollte, die einige potenziell negative Nebenwirkungen haben konnten. Sie waren übereingekommen, miteinander über eine eventuelle Adoption zu entscheiden, nachdem sie sich gründlich mit dieser Frage auseinandergesetzt hatten. Aber da hatte Tracy noch nicht gewusst, dass sie das Problem war und nicht Dan.
»Ich würde das mit dem Clomid gern versuchen«, sagte sie. »Ich würde es gern zumindest versuchen.«